Benutzer-Werkzeuge

Webseiten-Werkzeuge


texts25

Textbeiträge 2025

An dieser Stelle veröffentlichen wir Texte und Debattenbeiträge. Wer Anmerkungen dazu hat, wende sich an die IVA-Redaktion (siehe „Kontakt“).

Februar

Gegen Kriegstüchtigkeit!

Ein Flugblatt informiert über kritische Stimmen zum neudeutschen Leitbild Kriegstüchtigkeit. Dazu eine Information der IVA-Redaktion.

Deutschland steht im Zeichen von Kriegstüchtigkeit und Kriegsvorbereitung – auch wenn der Wahlkampf das Thema großzügig ausklammert und noch gar nicht klar ist, in welcher Konstellation nach dem Amtsantritt von Donald Trump und nach der Bundestagswahl die großartige westliche Waffenbrüderschaft fortgesetzt wird. Eins steht aber fest: Friedlich wird es auf dem Globus nicht. Der neue US-Verteidigungsminister Hegseth kündigt bei seinem Europabesuch an, er werde die NATO „aus einem ‚diplomatischen Club‘ zu einer ‚tödlicheren Kraft‘ machen“ (Junge Welt, 13.2.25). Und dass Europa eine veritable Militärmacht werden soll – Verteidigungsausgaben in Höhe von 5 % des Bruttoinlandsprodukt werden verlangt –, gehört mit zur Neubestimmung des transatlantischen Verhältnisses.

IVA hat bereits mehrfach auf den Prozess der umfassenden Militarisierung aufmerksam gemacht, der neben der geistig-moralischen Aufrüstung natürlich die militärischen Mittel und politischen Weichenstellungen betrifft und der der Nation einiges abverlangt. Bei aller Führung des westlichen Lagers durch die „einzig verbliebene Supermacht“ USA ist hier festzuhalten, dass die BRD sich ebenfalls Führung zutraut und für sich und für die EU die Rolle eines Hegemons in Anspruch nimmt, der auf dem europäischen Kontinent für die Ausschaltung einer russischen Großmacht sorgt.

Die Karriere eines Frontstaats

Dieser Aufbruch zu neuen Ufern hat natürlich seine Tradition. Vor 75 Jahren, unterm CDU-Kanzler Konrad Adenauer, wurde die Remilitarisierung der BRD in die Wege geleitet. Eine kriegsmüde Nation wurde innerhalb von fünf Jahren auf die Rolle eines Frontstaates umgestellt, der der östlichen Großmacht SU – natürlich im Bund mit den NATO-Spießgesellen und unter Führung des US-Hegemons – Paroli bieten sollte.

Vor gut 45 Jahren forcierte der sozialdemokratische Kanzler Helmut Schmidt die atomare Aufrüstung Westeuropas, die als „Nachrüstungs“-Bedarf firmierte und u.a. beim Juso-Chef Scholz auf Protest stieß: Bei ihm und der damaligen machtvollen Friedensbewegung kam der Verdacht auf, der US-Imperialismus (miss-)brauche Europa als – letztlich: atomares – Schlachtfeld zur Ausschaltung seines realsozialistischen Rivalen und zur Mehrung seiner eigenen Macht.

Vor gut 25 Jahren beteiligte sich dann der SPD-Kanzler Gerhard Schröder mit seinen grünen Koalitions-Kumpanen an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf Serbien, um in die Regelung der regelbasierten US-Weltordnung die gewachsenen Ansprüche eines wiedervereinigten Deutschlands einzubringen. Denn nach der Kapitulation des Systemrivalen unter Gorbatschow stand der ehemalige Ostblock zur Inbesitznahme offen: Von der Zerlegung des Balkans bis zur mehr oder weniger friedlichen NATO-Osterweiterung rückte man der – unter Putin wieder stabilisierten – östlichen Macht auf die Pelle, die sich nicht mit der ihr zugewiesenen Rolle als „Regionalmacht“ (Obama) abfinden wollte.

­Als nun vor drei Jahren die Russische Föderation auf die westliche Einkreisung mit einem Gegenschlag antwortete, begann die letzte Phase der deutschen Militarisierung. Der seit Beginn der Republik vorhandene politische Wille, Russland als Großmacht zu beseitigen und das auch – wenn der Feind sich nicht durch seine westlichen Gegner abschrecken lässt – mit einem Atomkrieg zu realisieren, schreitet jetzt zur Tat.

Und so fasst zuletzt Kanzler Scholz im Sommer 2024 gemeinsam mit der US-Regierung den Beschluss zu einer Stationierung von (eventuell auch atomar bestückbaren) Raketen in Deutschland, die „über deutlich größere Reichweite als die derzeitigen landgestützten Systeme in Europa verfügen“ (so die bilaterale Erklärung), also die Option eines Enthauptungsschlags aus der Nachrüstungsära wieder ins Spiel bringen. Und die nukleare Teilhabe der BRD wird ja sowieso ständig mit den US-Freunden geübt, die jetzt unter Trump bekanntgeben, wie prinzipiell feindlich sie allen anderen Nationalinteressen gegenüberstehen, und damit das deutscheuropäische Verlangen nach massiver Aufrüstung umso dringlicher machen.

Widerspruch aus der Gegenöffentlichkeit

Wie gesagt, die aktuelle Entwicklung seit den Präsidentschaftswahlen in den USA mischt jetzt die geopolitischen Kalkulationen der NATO-Mitglieder auf. Der Wille zum Krieg leidet darunter aber nicht, im Gegenteil. Das Programm, das Volk für die gi­gantische Aufrüstung in Form zu bringen und bluten zu lassen, ist Konsens bei den Verantwortlichen und denen, die Verantwortung übernehmen wollen. „Kanonen statt Butter“ heißt unver­blümt die Devise. Militärische „Resilienz“ ist das offizielle (Um-)Erziehungsziel.

Öffentlichen Einspruch gibt es aber – noch. Unter anderem von der etwas schwer bestimmbaren Größe „Gegenöffentlichkeit“, die mit den verschiedensten (An-)Klagen aufwartet, die aber in Sachen Antikriegsprotest eine wichtige Aufklärungsleistung beisteuert. IVA als Initiative zur Verbreitung von Aufklärung beteiligt sich an dieser Öffentlichkeitsarbeit, übernimmt kritische Beiträge oder veröffentlicht eigene Stellungnahmen. Um etwas in der Hand zu haben, wenn man bei Veranstaltungen der Friedensbewegung oder demnächst bei den Ostermärschen aufkreuzt, hat die IVA-Redaktion ein Flugblatt erstellt, das hier (Flyer IVA) abrufbar ist. Es steht unter der Überschrift „Gegen Kriegstüchtigkeit! Gegen die deutschen Hassprediger, die die Zivilgesellschaft mit Militarismus beglücken wollen!“ und gibt eine Übersicht zu Veröffentlichungen, Diskussions- und Veranstaltungsangebo­ten und will Interessenten helfen, Kontakte zu knüpfen und sich zu vernetzen.


Ein Stelldichein am „Tor zur Hölle“

Noch was zur Brandmauer. Ein Nachtrag zum letzten Beitrag über den Bundestagswahlkampf von Johannes Schillo.

„Aufstand der Anständigen – Demo für die Brandmauer“: Bundesweite Demonstrationen gegen Rechtsextremismus meldet die Tagesschau (tagesschau.de, 3.2.24). Ausgelöst durch „die von der Union initiierte Migrationsdebatte im Bundestag“ sollen sich laut Angaben der Veranstalter bis zu 250.000 Demo-Teilnehmer in Berlin, Köln, Bonn und anderen Städten eingefunden haben. Wie Anfang 2024, als das angebliche Potsdamer Geheimtreffen aufgeflogen war und gar nicht so geheime Pläne zur Begrenzung irregulärer Migration bekannt wurden (die im Grunde alle Parteien bis auf Linke teilen), ist also wieder ein antifaschistischer Aufschwung im Lande zu verzeichnen.

Wieder heißt es: „Den Anfängen wehren!“ Dazu kommentierte der Gegenstandpunkt bereits Anfang 2024 (Decker 2024, 85): „Welchen Anfängen? Wer gegen die schlechte Behandlung von Migranten ist, kann doch nicht erst bei der AfD anfangen. Und schon gar nicht für die Demokratie eintreten, die es in Deutschland gibt. Die ist mit ihrer Asyl- und Flüchtlingspolitik doch selbst der Anfang und eigentlich längst nicht nur der Anfang dessen, was schon jetzt, und zwar programmatisch, mit Deportationen endet: ‚Wir müssen endlich im großen Stil abschieben‘, sagt der demokratische Kanzler.“

Nach den Amoktaten von Solingen bis Aschaffenburg haben alle staatstragenden Kräfte diese Ansage bekräftigt – in der Sache knallhart, in der Tonlage mit einer gewissen Bandbreite von Bild bis zum hinterletzten Lokalblatt –, und mit dem Vorstoß des CDU-Kanzlerkandidaten Merz ist nun offiziell klargestellt: Die Brandmauer, die Demokraten fundamental von Rechtspopulisten und Rechtsradikalen trennen soll, gibt es in der Sache nicht. Sie muss künstlich hergestellt bzw. aufrecht erhalten werden. Sie verdankt sich einem parteitaktischen Kalkül, das einmal Abgrenzung verlangt, das andere Mal gemeinsames Vorgehen zulässt – natürlich alles nur, um dem Mehrheitswillen der Bevölkerung gerecht zu werden. Eine aufschlussreiche Lektion über faschistische Standpunkte, die mitten in der Demokratie hausen! Doch was sagen die maßgeblichen Volkserzieher dazu?

Gemeinsame Grundlagen

Explizit in Frage gestellt wurde die AfD-Ausgrenzungsstrategie in christdemokratischen und christlich-sozialen Kreisen zwar schon seit einiger Zeit. Aber jetzt erst, so erfährt man von Experten, soll die Gefahr drohen, dass der Rechtsradikalismus salonfähig wird. In konservativen Kreisen sieht man das etwas anders. Die FAZ konstatiert dabei auf ihre Weise, dass es die Brandmauer, also den fundamentalen Unterschied zwischen den demokratischen Parteien und ihren populistischen Rivalen, allen voran der AfD, eigentlich nicht gibt. Die rotgrüne Distanzierung vom Merz-Vorstoß, schreibt die „Zeitung für Deutschland“, verdanke sich ideologischer Borniertheit, die Polemik gegen das Wort „Begrenzung“ (vor einem Jahr war es der Terminus „Remigration“) sei in der Sache unbegründet. Es habe hier ja schon alles Mögliche mit SPD-Beteiligung gegeben – „wie die Aussetzung des Familiennachzugs“; und es ginge ja nur um pragmatische Dinge „wie ein größerer Aktionsradius für die Bundespolizei. Warum die SPD da nicht zustimmt, ist unbegreiflich. Nur das Argument, die Union mache gemeinsame Sache mit der AfD wäre ihr flöten gegangen. Aber ebendarum, um das ‚Tor zur Hölle‘, wie es Rolf Mützenich in geradezu grotesker Übertreibung nannte, ging es SPD und Grünen von Anfang an.“ (FAZ, 1.2.25)

Einen Beleg für den fiktiven Charakter der Brandmauer hat jüngst die Historikerin Daniela Rüther [1] mit ihrer Studie über „Die Sex-Besessenheit der AfD – Rechte im ‚Genderwahn‘“ (2025) geliefert. Es geht hier um die Polemik, die Rechtsradikale und Rechtspopulisten in Verbindung bzw. Übereinstimmung mit konservativen Kreisen gegen einen „Genderwahn“ der progressiven Kräfte betreiben. In der „Genderideologie“ sehen ja Rechte von Meloni bis Trump, aber auch Wertkonservative und christliche Traditionalisten den Angriff auf die nationalen Höchstwerte von Heimat, Familie und Gottesfurcht. Das traditionelle Familienmodell sei dagegen allein geeignet, die völkische Reproduktion sicherzustellen. Familienpolitik ist explizit Bevölkerungspolitik, die gegen das Aussterben des deutschen Volkes antreten muss. Und das will eine konservative Familienpolitik verhindern, wobei die AfD durchaus zu Modernisierungen bereit ist. Sie bekennt sich ja auch schon seit einiger Zeit zum Schutz von Homosexuellen, Transpersonen oder Frauen, die von sexueller Gewalt (natürlich durch Ausländer!) bedroht sind (vgl. dazu etwa den von Judith Goetz und Thorsten Mense herausgegeben Band „Rechts, wo die Mitte ist – Die AfD und die Modernisierung des Rechtsextremismus“, 2024).

Der Antifaschismus der Anständigen

Was man zu der jetzt öffentlich gemachten Brandmauer-Fiktion von den zuständigen Fachleuten hört, ist ansonsten wenig aufklärend. Ein Monat vor dem Wahltag legte – wie jedesmal bei solchen Anlässen – die Bundeszentrale für politische Bildung ihre „Informationen“ zur Wahl vor (bpb 2025). Der Autor, Politikprofessor Frank Decker, konnte natürlich Anfang des Jahres noch nicht wissen, dass der CDU-Kandidat mit seiner „Begrenzungs“-Initiative einen „Dammbruch“ einleiten würde, aber sonst waren, wie oben dargelegt, alle einschlägigen Informationen über die gemeinsamen Grundlagen bekannt. Dazu gab es ja auch in der politischen Öffentlichkeit immer wieder eindeutige Hinweise – sofern sich die Medien dafür interessierten und nicht, wie nach der Entlarvung des angeblichen Potsdamer „Geheimtreffens“, die Rechtspopulisten aus der demokratischen Gemeinschaft ausgrenzten, weil sie Pläne für eine ethnische Säuberung von NS-Format in den Schubladen hätten.

An der Dramatisierung des Migrationsproblems ‚nach Solingen‘ hätte man den ausländerfeindlichen Grundtenor des beginnenden Wahlkampfs unschwer erkennen können. Dass man die (irreguläre) Migration – noch vor Weltkriegsgefahr, Klimawandel, weltweiter, auch einheimischer Verelendung und Prekarisierung, die jetzt sogar unseren Wohlfahrtsstaat zum Abbau eines überzogenen Leistungskatalogs zwingt – als den eigentlichen Notstand betrachten soll, der alle betrifft, hat natürlich seine Wahlkampflogik (siehe unten den ersten IVA-Beitrag zur Brandmauer).

Was Decker dazu in den Informationen der Bundeszentrale zu vermelden hat, ist ein ziemlicher Fehlgriff. Klar sei, dass „die demokratischen Parteien der Mitte die Koalitions- und Regierungsbildung unter sich ausmachen“ würden. „Gänzlich Tabu ist für alle Parteien (mit gewissen Einschränkungen beim BSW) jedwede Zusammenarbeit mit der AfD.“ Da wundert es nicht, was der Mann zu den großen Themen des Wahlkampfs zu sagen hat. An erster Stelle stünden hier Wirtschaft und Soziales (einschließlich Klimaschutz), an zweiter der russische Krieg in der Ukraine. Natürlich kommt das alles in den Wahlprogrammen vor, sogar der Evergreen Bürokratieabbau hat hier seinen Platz. Aber die Rangfolge sieht bekanntlich anders aus.

Das Thema Migration wird von Decker am Ende auch noch aufgeführt. Hier sieht er eine Front, die zwischen den „linken Parteien“ (vor allem Rotgrün) und den „Mitte-Rechts-Parteien“ verläuft. Die einen seien „für Zuwanderung prinzipiell aufgeschlossen“, die anderen für „Begrenzung“. Dass Scholz seit einem Jahr zusammen mit seiner Innenministerin Faeser propagiert, man müsse „im großen Stil“ für Remigration sorgen, und, wie die FAZ bemerkte, auch schon allem Möglichen zugestimmt hat – nicht zuletzt auf europäischer Ebene (siehe dazu die Analyse von Joshua Graf bei 99zu1) –, geht dabei ganz verloren.

Wenig hilfreich sind auch die Einlassungen des Politikprofessors Hajo Funke, der bisher mit seinen Veröffentlichungen einiges an Aufklärung über die AfD beigesteuert hat. Im Zeitungs-Interview (Bonner General-Anzeiger, 1./2.2.25) erklärt er, Merz habe mit seinem „Tabubruch“ gezeigt, „dass er skrupellos die Macht will.“ Das kann man nicht bestreiten, ist aber nicht gerade eine Besonderheit dieses christlichen Politikers. Weiter heißt es: „Das, was Friedrich Merz durchgesetzt hat, ist ein Dammbruch. Das erste Mal seit 1949 haben demokratische Parteien mit einer antidemokratischen, rechtsextremen Partei bewusst und absichtsvoll zusammen eine Mehrheit erreicht.“ Das bietet noch weniger Aufklärung. Hier geht ganz verloren, was es an inhaltlichen Gemeinsamkeiten gegeben hat und was aus wahltaktischen Gründen zur Fiktion einer völligen Unvereinbarkeit hochstilisiert wurde. Da ist vielmehr Arnold Schölzels Kommentar (Junge Welt, 4.2.25) zuzustimmen: „AfD und Merz besorgen die Hetze, SPD, Grüne und FDP machen die Gesetze“. [2]

Am Schluss heißt es dann bei Funke: „Wir wissen aus Erfahrungen anderer Länder, aber auch aus unserer eigenen Erfahrung, dass eine Annäherung an Rechtspopulisten bei Wahlen eher dem Original hilft, also in diesem Fall der AfD.“ Schlussendlich steht also alles auf dem Kopf! Lernen kann man am Fall Zuwanderung und Demographie gerade etwas anderes: Nicht die AfD ist, wie gern behauptet, das Original, das jetzt bei den anstehenden Verschärfungen im Asyl- oder Ausländerrecht von den „Altparteien“ kopiert wird. Die demokratischen Bevölkerungspolitiker liefern vielmehr die Vorlage, die die Agenda des Nationalstaats in Sachen Intaktheit und Reproduktion(sfähigkeit) des Volkskörpers auf den aktuellen Stand bringt – und damit das Material, an dem die rechten Agitatoren dann immer den rücksichtslosen nationalistischen Geist vermissen.

Und der Protest?

Die antifaschistische Aufregung, die jetzt zu verzeichnen ist und zu erstaunlich breiten Protesten geführt hat, kann man jedoch nicht einfach mit einem Vertrauensbeweis für die etablierten Parteien gleichsetzen. Die Analyse des Gegenstandpunkt hat auf diesen Sachverhalt bereits bei der früheren Anti-AfD-Kampgane aufmerksam gemacht: „Es gibt diejenigen, die die deutsche und europäische Migrationspolitik auch ohne die AfD schon ziemlich schlimm finden. Und es gibt die anderen, die diese Politik unterstützen, sie aber nicht von der AfD gemacht sehen wollen. Der Dissens wird auf den Demonstrationen immer wieder laut – und dann schnell wieder leise. Teilnehmer rufen: ‚Merz, das gilt auch für dich‘ und vermissen bei CDU und SPD die berühmte Brandmauer gegen Xenophobie und Abschiebungspolitik. Es laufen auch Leute mit, die meinen, eine Demonstration für die Demokratie wäre eine Gelegenheit, an das Leiden der Palästinenser in Gaza und das ihnen verweigerte Recht auf eine eigene Demokratie zu erinnern.“ (Decker 2024, 86)

Das ist jetzt wieder genau die Lage, wie sich z.B bei der Bonner Demonstration – nach Berlin und Köln eine der größeren Veranstaltungen – zeigte. Da hier Amnesty International Mitveranstalter war, durfte das Thema Gazakrieg in einer Rede vorkommen, in Übereinstimmung mit der AI-Position, die den israelischen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser kritisiert. Als Rednerin trat eine – jüdische – Vertreterin der antizionistischen Organisation Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost auf. Für Lokalpresse und -politik war das ein Skandal, der auf die Notwendigkeit einer schärferen Kontrolle solcher Veranstaltungen verweist.

Eine systematische Kontrolle findet hier übrigens seit der Vorjahreskampagne statt, der ja damals vom CDU-Vorsitzenden Merz und von Bundespräsident Steinmeier der Weg in die konstruktive und damit allein zulässige Richtung gewiesen wurde: Tatkräftiges Vertrauen in die politische Klasse, die bisher den Laden ohne AfD-Beteiligung geführt hat, sollte am Schluss herauskommen. Notfalls muss hier der Staatsschutz einschreiten. Der operiert seit letztem Jahr etwa mit dem Paragraphen 86a des Strafgesetzbuches, der die „Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger oder terroristischer Organisationen“ unter Strafe stellt (Höchststrafe: drei Jahre).

Wenn Plakate bzw. Parolen mit zu viel antifaschistischem Elan gegen rechts einschreiten wollen oder sonstwie den zur Zeit geforderten Oppositionsgeist vermissen lassen, stattdessen etwa störende Aufklärung in Sachen rechte Gefahr vortragen, zieht die Polizei solche Dinge aus dem Verkehr. So jetzt in Bonn geschehen, wo zwei Demo-Plakate beschlagnahmt wurden, weil sie anscheinend den NS-Vorwurf an die Adresse der AfD zu plakativ vortrugen (wie gesagt nicht zum ersten Mal, bereits im Frühjahr 2024 fuhr die Polizei in einem Bonner Wohnviertel Streife und prüfte, welche Anti-AfD-Plakate zulässig und welche verboten sind). Die Urheber warten jetzt auf das Verfahren nach § 86a. Vielleicht sollten sich die Demonstranten einmal anhand solcher Fälle, aber auch im Blick auf die politische Großwetterlage klarmachen, für welche konstruktiven politischen Zwecke ihre antifaschistischen Ängste hergenommen werden.

Anmerkungen

[1] Die Autorin bringt umfangreiches Material zu ihrer These vom „Genderwahn“ und legt dar, wie die Propaganda für das heterosexuelle Leitbild von Ehe und Familie seine ehrwürdige familienpolitische Tradition hat, die nicht allein aus dem rechtsradikalen Lager gespeist wird. Im Grunde geht es hier ja um Bevölkerungspolitik, die jeder Nationalstaat – ob auto- oder demokratisch verfasst – betreibt. Bei Rüther bleibt jedoch die demokratische Tradition in Sachen Demographie etwas unterbelichtet. Bei ihr erscheint Bevölkerungspolitik als alleiniges Programm der AfD, während demokratische Politiker sich angeblich darum bemühen, die Selbstverwirklichung von Menschen mit Kinderwunsch in einem schwierigen politisch-ökonomischen Umfeld Wirklichkeit werden zu lassen. Dazu ist jetzt eine Rezension des Buchs im socialnet erschienen.

[2] Etwas milder ist der Kommentar von Albrecht von Lucke (2025) in den Blättern für deutsche und internationale Politik ausgefallen, er betont aber auch die grundsätzliche Übereinstimmung in der migrationspolitischen Linie: „Die anderen Parteien setzen der Radikalität der AfD kaum etwas entgegen. Das ist der Kern des AfD-Momentums in diesem Wahlkampf: Anstatt die Rechtsradikalen offensiv zu attackieren und ihre eklatanten Widersprüche aufzudecken, drohen die demokratischen Parteien sich aus eigener Schwäche selbst weiter zu kannibalisieren“. Der Kommentar wurde allerdings vor der neuesten Initiative des CDU-Vorsitzenden verfasst.

Nachweise


Die Brandmauer befeuert den Bundestagswahlkampf

„Bröckelt die Brandmauer?“ Das fragte ein Online-Kommentar von Johannes Schillo zu den jüngsten Entwicklungen ‚nach Aschaffenburg‘. Hier eine aktualisierte Fassung des Textes.

Der Bundestagswahlkampf hat sein heißes Thema gefunden: Jenseits aller Sachfragen geht es um die brennende Frage, ob die Brandmauer gegenüber der AfD hält. So lautete die Eingangsthese des Overton-Beitrags. Mittlerweile hat es einige Kommentare gegeben, die auf denselben Punkt Nachdruck legen. Bei Telepolis hielt z.B. Harald Neuber fest: „Schwarz-blau ist jetzt: Wie die CDU sich nach rechts öffnet – und das als ‚Brandmauer‘ präsentiert“. Und mit Merkels Einspruch ist jetzt die Aufregung groß, ob wir nicht das Ende der liberalen Demokratie erleben.

Ausgangspunkt war die – sonst immer der AfD unterstellte – Praxis einer ‚disruptiven‘ Intervention. „Merz wagt den Tabubruch“, kommentierte die FAZ (25.1.25) zustimmend nach der letzten Amoktat in Aschaffenburg die Linie des CDU-Kanzlerkandidaten. Der hatte nach den Aufforderungen aus CDU/CSU, aber auch aus der Bildzeitung und anderen Medien angekündigt, rechtsstaatliche oder humanitäre Zimperlichkeiten in Sachen Migration endlich fahren zu lassen. „Das Votum der Deutschen ist klar: Die große Mehrheit will sofortige und drastische Maßnahmen gegen die illegale Migration“, meldete Bild (bild.de, 26.1.25). Die „faktische Schließung deutscher Grenzen für illegale Migranten und Asyl-Sucher“ (Bild) sollte endlich das gefährdete Gemeinwesen wieder zur blühenden Landschaft machen. Das goldene Zeitalter, das Trump seiner Nation versprochen hat, soll also auch hierzulande einkehren.

Das hat Folgen, weniger hinsichtlich der praktischen Konsequenzen, die die nationale Politik ergreifen kann und darf (siehe dazu Graf 2025), als im Blick auf ein ideologisches Konstrukt, das in der BRD höchste politische Priorität besitzt bzw. besaß: Angeblich gibt es einen fundamentalen Unterschied zwischen den demokratischen Parteien und ihren populistischen Rivalen, allen voran der AfD, die ja – in Teilen – als extremistisch zu gelten hat. Automatisch wirksam wird dieser Unterschied freilich nicht, die Demokraten müssen sich gegenseitig immer wieder dazu aufrufen, ihn wirklich zu beachten und die Konkurrenz von rechts aus dem normalen Parteienpluralismus auszugrenzen, eben durch besagte Brandmauer. Doch jetzt heißt es: „Plan zu Migrations-Stopp verändert ALLES“ (bild.de, 27.1.25).

Rechte gegen Genderwahn

Explizit in Frage gestellt wird diese Ausgrenzungsstrategie in christdemokratischen und christlich-sozialen Kreisen schon seit einiger Zeit. Zuletzt hatte die Brandenburger CDU-Politikerin Saskia Ludwig „eine Koalition ihrer Partei mit der AfD nach der Bundestagswahl für sinnvoll“ gehalten (Junge Welt, 24.1.25). Dabei wandte sie sich explizit gegen eine Brandmauer gegenüber der AfD, die nur dieser Partei und dem „linken Lager“ nutze. „Wenn über 50 Prozent Mitte-rechts wählen, dann muss es auch eine Mitte-rechts-Regierung geben für die Bürger“, sagte sie und warb dafür, „dass wir mit unserer Demokratie deutlich entspannter umgehen müssen und den Wählerwillen akzeptieren“. Arnold Schölzel resümierte zutreffend in der Jungen Welt (25./26.1.25): „Die lächerliche Brandmauer zwischen CDU und AfD, die es auf kommunaler Ebene nie gab und die auf Länderebene systematisch durchlöchert wurde, ist Geschichte.“

Ein Beispiel für diese Durchlöcherung hat jüngst die Historikerin Daniela Rüther mit ihrer Studie über „Die Sex-Besessenheit der AfD – Rechte im ‚Genderwahn‘“ (2025) vorgelegt. Es geht um die Polemik, die Rechtsradikale und Rechtspopulisten in Verbindung bzw. Übereinstimmung mit konservativen, gerade auch jüdisch-christlich-muslimischen Kreisen gegen einen „Genderwahn“ der progressiven Kräfte betreiben. Hier bewegt man sich natürlich auf der Ebene einer ideologischen Überhöhung, wo Leitbilder eines sittlich-geordneten Zusammenlebens gegeneinander gestellt werden und beide Seiten die Ebene der praktischen Maßnahmen verlassen, auf der um einzelne familien- oder sozialpolitische Änderungen gerechtet wird, stets kontrovers angesichts „knapper Kassen“ und „vielfältiger Herausforderungen“.

Der von rechts angegriffene Genderwahn soll das Werk eines „Kulturmarxismus“ sein. Sowohl Trump als auch Weidel verwenden diesen ideologischen Kampfbegriff, der den Urheber beim finalen Untergraben der nationalen Sittlichkeit benennen soll. Während der Marxismus politisch keine Rolle mehr spielt, hält er sich erstaunlich zäh als Feindbild – nicht nur rechts außen. Sachlich ist das nicht ganz falsch: Marx und Engels haben schließlich im Kommunistischen Manifest den Proletariern geraten, sich von der Nation und ihren Höchstwerten inklusive Kleinfamilie und Beschränkung der Frauen auf Hausarbeit zu verabschieden.

Der Witz ist nur: Das, was seit gut einem Vierteljahrhundert unter dem Ticket Gender Mainstreaming – ausgehend von UN-Konferenzen – in die europäische und nationale Gesetzgebung als Auftrag zur Gleichstellung von Männern und Frauen Eingang fand und zu verschiedenen (Pseudo-)Aktivitäten wie Genderforschung, gendergerechte Sprache, Anerkennung bislang tabuisierter Sexualpraktiken etc. führte, hat mit dem Marxismus nichts zu tun. Es geht in der Hauptsache darum, wie Menschen, die auf Lohnarbeit angewiesen sind, im Berufsleben oder dem öffentlichen Raum vor Diskriminierungen geschützt, also mit anderen Konkurrenzsubjekten rechtlich und damit dann irgendwie sozial gleichgestellt werden und wie sie das in ihrem Privatleben anhand partnerschaftlicher Leitbilder regeln sollen. Der familiäre Regelungsbedarf bezieht sich darauf, wie die lohnarbeitende Menschheit mit der großartigen Errungenschaft der bürgerlichen Frauenemanzipation fertig wird: dass nämlich die traditionelle Versorgerehe passé ist, in der das Einkommen des männlichen Verdieners den Lebensunterhalt bestritt, und dass mittlerweile beide Partner Geld verdienen müssen, um halbwegs über die Runden zu kommen.

Die politischen Bemühungen um Gendergerechtigkeit zeigen jetzt, wie viel an materiellen Vorleistungen des Staates eingesetzt werden muss, wenn es darum geht, die Folgen der gigantischen Lohndrückungsaktion in den Griff zu bekommen und Friktionen der Konkurrenzgesellschaft dauerhaft zu beseitigen. Von der Empfängnisverhütung und dem Steuersatz auf Babywindeln über frühkindliche Erziehung, Kitawesen, Ganztagsschulen, berufliche Bildung bis zu Regelungen des Karrierewesens, der Ausmalung von Leitbildern oder der Betreuung einschlägiger Kollisionen muss alles Mögliche getan werden, um eine halbwegs funktionierende Work-Life-Balance hinzukriegen.

Wozu Leitbilder verleiten

Die praktischen Maßnahmen, die politisch ergriffen werden, um das Privat- und Familienleben funktional zu halten, sind das eine. Die Idealvorstellungen, die den Familienmenschen dazu nahe gebracht werden, stehen auf einem anderen Blatt. Auch das traditionelle Familienbild hat dabei schon einige Konjunkturen erlebt. Das weibliche Arbeitskräftereservoir staatlich zu erschließen ist ja nichts Neues, sondern seit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg eine Selbstverständlichkeit: Wenn Not am Mann ist, muss die Frau als Krankenschwester oder Rüstungsarbeiterin ihren Dienst leisten, und auch die Faschisten hatten keine Hemmungen, eine Leni Riefenstahl als ihre Starpropagandistin zu beschäftigen oder das weibliche Fußvolk als Funknachrichtenhelferinnen an die Front oder als Aufseherinnen in die KZ‘s zu schicken. Egal, welche idyllische Hausfrauenrolle im Nazi-Leitbild der Familie eigentlich vorgesehen war!

Das moderne Gender Mainstreaming gehört in die Abteilung der übergeordneten Leitbilder. Wie dargelegt ist es – ganz anders, als die Rechten sich das vorstellen – ein Programm, das den nationalen Erfolg sicherstellen soll. Es tut dies mit einem gewissen idealistischen Überschuss, der sich ganz dem Dienst an den weiblichen, männlichen, diversen oder sonstwie sexuell orientierten Konkurrenzsubjekten verpflichtet weiß. Dass eine materielle, soziale Gleichstellung mit dem supranationalen Verbindlichmachen dieser Strategie erreicht worden sei, können die Vertreterinnen und Vertreter dieser Politik nicht gerade behaupten. Aber das spornt anscheinend nur dazu an, auf dem Ideal noch nachdrücklicher zu bestehen, polemisch gesagt: einen regelrechten Genderwahn zu entwickeln. So gesehen, können sich beide Seiten mit diesem Vorwurf beharken.

Und die wertegeleitete, „feministische Außenpolitik“, wie sie unter der Außenministerin Baerbock Kariere machte, schafft es ohne Weiteres, andere Länder (natürlich nur, wenn es politisch opportun ist) daran zu messen, ob in ihnen irgendeine sexuelle Orientierung aus dem LGBT*-Regenbogen auch angemessen respektiert wird. Und die AfD-Vorsitzende Weidel schafft es, den Wahlerfolg des mächtigsten Mannes der Welt deshalb als globalen Hoffnungsschimmer, weil er mit der „Genderideologie“ Schluss machen will.

„Schluss mit der Genderideologie!“

Unter dieser Überschrift standen die Glückwünsche an die Adresse von Donald Trump, die die AfD-Vorsitzende Alice Weidel am 6. November 2024 über diverse Nachrichtendienste mitteilte. „Nicht das woke Hollywood hat diese Wahl entschieden, sondern die arbeitende amerikanische Bevölkerung.“ So begann ihr erstes Statement zur US-Wahl. Im Interview erläuterte sie: „Vor allen Dingen haben junge Leute Donald Trump gewählt. Warum? Weil sie vernünftig ausgebildet werden wollen und nicht mehr diesen ganzen woken linken Genderquatsch gelehrt bekommen wollen… Ich werde Ihnen sagen, was passiert, wenn die AfD in der Regierung sitzt, sie wird genau diesen ganzen Genderquatsch aus dem Bildungsplan rauswerfen.“

Der „Genderquatsch“ lähmt die Tatkraft junger Leute, verhindert den wirtschaftlichen Aufschwung und lässt stattdessen Massenmigration mit ihrer Gefährdung der inneren Sicherheit zu – so das Credo der AfD-Vorsitzenden, die das totalitäre Gender-Projekt auch schon im Bundestag als totalitären Umbau der Gesellschaft brandmarkte: „Die sogenannte ‚gendergerechte‘ Sprache ist ein Orwell-Projekt. Sie … will über die Manipulation der Sprache auch unser Denken im Sinne der Gender-Ideologie beeinflussen und kontrollieren.“

Vom Gender zur Migration

Was die Studie von Rüther schlüssig darlegt, ist die Verbindung dieser Propaganda für das frühere Familienideal und seine klare heterosexuelle Orientierung an naturgegebenen bzw. naturrechtlichen Daten mit der Hetze gegen Migration. Und dabei wird auch deutlich, dass man es hier mit einem gemeinsamen ideologischen Besitzstand zu tun hat, den das konservative Lager, etwa CDU/CSU, mit radikaleren Vertretern von rechts teilt; dass hier von den grundsätzlichen Überzeugungen her gesehen überhaupt keine Brandmauer existiert, dass sie vielmehr erst künstlich hochgezogen werden muss – sei es, um parteipolitischen Konkurrenten eine Grenze zu setzen, sei es aus einem gewissen Modernisierungsbedarf heraus, den etwa eine Kanzlerin Merkel bei ihrem Agieren in Koalitionsfragen oder der Staatenkonkurrenz sah.

Migration gilt den heutigen Rechten als Bedrohung der Volkssubstanz. Ins humanitäre Extrem getrieben – so lautete die damalige Polemik gegen die „Willkommenskultur“ Merkels, an der sich auch konservative Teile der CDU beteiligten und zu der Innenminister Seehofer (CSU) die Anklage vom „Unrechtsstaat“ beisteuerte – laufe sie mittels des initiierten „Bevölkerungsaustauschs“ auf einen nationalen „Volkstod“ hinaus. Eine Schreckensvision, die nicht nur Faschisten, sondern auch Demokraten umtreibt. So hat ja die postfaschistische Staatengemeinschaft nach dem Ende des Nationalsozialismus in einer eigenen Konvention den „Völkermord“ als das größte denkbare Verbrechen verurteilt. Die Ungeheuerlichkeit dieser Untat macht sich nicht an einem Massenmord fest, der hier geplant oder ausgeführt wird. Es kommt darauf an, dass der Täter oder die Täterin ein Volk zum Verschwinden bringen wollen, unabhängig davon, ob gegen viele Angehörige des Feindvolks vorgegangen wird oder nicht. So reicht ja auch schon der Hinweis auf die chinesischen Reeducation-Lager, in denen islamistische Uiguren gezwungen werden, Schweinefleisch zu essen und sich ins nationale Volksleben einzureihen, als Verdacht, dass hier ein „kultureller Genozid“ unterwegs ist.

Zuwanderung und Nachwuchsproduktion gehören – vom Standpunkt des Staates aus – zusammen. Es sind zwei Optionen, dem Bedarf nach einer brauchbaren Bevölkerung nachzukommen. Auf der Website des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) kann man nachlesen (bmfsfj.de), dass es natürlich zu den Aufgaben demokratischer Politik gehört, „den Herausforderungen des demografischen Wandels“ – auch bekannt als die Überalterung unserer Gesellschaft – zu begegnen. Und bekanntlich hat ja Anfang der 2000er Jahre die CDU einen Landtagswahlkampf mit der Parole „Kinder statt Inder“ bestritten. Das könnte eine AfD unmittelbar für ihr Wahlprogramm benutzen! Wobei die AfD sich heute (s.u.) selber an notwendigen Modernisierungen beteiligt. Der Slogan von Rüttgers aus dem nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf des Jahres 2000 würde den Rechtspopulisten heute vielleicht zu sehr nach der Festlegung auf die Rolle „Gebärmaschine“ klingen?

Früher war diese Rolle selbstverständlich. Als „1953 die Regierung Adenauer die Familienpolitik in den Rang eines Ministeriums“ erhob, das erfährt man auch auf der Website des BMFSFJ, galt eine BGB-Praxis, die mit ihrer Benachteiligung von Frauen eindeutig verfassungswidrig war – wie man heute weiß. Die Berufstätigkeit der Frau war ständiger Kritik ausgesetzt, auch und gerade durch den ersten Familienminister Wuermeling (CDU), den das BMFSFJ mit folgenden Äußerungen zitiert: „Für Mutterwirken gibt es nun einmal keinen vollwertigen Ersatz“. Oder: „Eine Mutter daheim ersetzt vielfach Autos, Musiktruhen und Auslandsreisen“. Laut Wuermeling war auch „der Frau die Aufgabe der ‚Selbsthingabe und Selbstverleugnung‘ zugewiesen, ein Dienst an ‚höheren Zielen‘: Fürsorge für Mann und Kinder“.

Die Verbindungslinie zum normalen Konservatismus – und damit der fiktive Charakter der besagten Brandmauer – hat übrigens FAZ-Redakteur Patrick Bahners in seinen Publikationen über die Ausländerfeindlichkeit („Die Panikmacher“, 2011) oder über den neuen deutschen Nationalismus der AfD („Die Wiederkehr“, 2023) besonders hervorgehoben. Die letztgenannte Studie sucht nach den intellektuellen Wurzeln der rechten Partei und wird dabei – wie schon in der Untersuchung zu den antiislamischen, migrationsfeindlichen „Panikmachern“ – im eigenen, nämlich konservativen Lager, speziell in einem von der FAZ geförderten Geistesleben fündig. Und da dürfte Bahners sich ja auskennen!

Ein letzter Punkt sei noch erwähnt: Auch die AfD versteht sich darauf – wie seinerzeit Merkel –, notwendige Modernisierungen vorzunehmen. Man wird sehen, wozu das im Wahlkampf (und danach dann in eventuellen Koalitionsverhandlungen) noch führen wird. In puncto EU hat es ja schon einige Anpassungsmaßnahmen gegeben, ein Dexit ist wohl nicht mehr vorgesehen, eher eine Umwandlung der EU zu einem Bund der Vaterländer (eine nicht gerade brandneue Idee); und auch zur NATO hat es gewisse Treuebekundungen gegeben.

Darüberhinaus bekennt sich die AfD schon seit einiger Zeit zum Schutz von Homosexuellen, Transpersonen oder Frauen, die von sexueller Gewalt (natürlich durch Ausländer!) bedroht sind. Judith Goetz, Mitherausgeberin des Sammelbandes „Rechts, wo die Mitte ist – Die AfD und die Modernisierung des Rechtsextremismus“ (2024), spricht in einem Interview (Konkret, 2/25) von „strategischen Anpassungen“, die der AfD dazu verhelfen sollen, „sich als offen, tolerant und modern zu inszenieren“. Andere Autoren konstatieren das Auftreten eines neuen „Femonationalismus“ oder „Homonationalismus“, der in den betreffenden Szenen – begrenzt – Anklang findet. Dazu passt ja, dass die Kanzlerkandidatin der AfD in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft mit einer Migrantin lebt.

Auf in den Wahlkampf!

Migration als Wahlkampfthema – das schlägt jetzt nach der letzten Amoktat Wellen und „die Parteien überbieten sich in Sachen Schikane von Asylbewerbern, Kriegs- und sonstigen Flüchtlingen“, wie es zuletzt in dem Beitrag „Wenn sich Brandstifter als Feuerwehrleute anbieten“ bei Overton hieß. CDU-Merz preschte aber auch schon Anfang Januar vor und versuchte der AfD die Vorreiterrolle zu nehmen. Er wolle, so sein Votum ‚vor Aschaffenburg‘ (siehe Bild am Sonntag, 5.1.25), selbst Deutsche abschieben, die eingebürgert sind, wenn sie zwei Straftaten begangen haben. Die AfD denkt erst einmal, so die Entscheidung ihres Wahlparteitags, „nur“ an die Abschiebung krimineller oder unberechtigt anwesender Personen…

Eine solche Dramatisierung des Migrationsproblems im Wahlkampf hat in der Tat etwas Wahnhaftes. So als ob hier angesichts von Weltkriegsgefahr, Klimakatastrophe, weltweiter, auch einheimischer Verelendung und Prekarisierung, die jetzt sogar unseren Wohlfahrtsstaat zum Abbau eines überzogenen Leistungskatalogs zwingt, der eigentliche Notstand, der alle betrifft, ausgemacht wäre. Aber sie hat ihre Logik. Wo das Volk sich sowieso keine sozialen Wohltaten mehr von der nächsten Regierung erwarten soll, höchstens die Beseitigung von ein paar Gerechtigkeitslücken (wie vor allem die SPD verspricht), die mit Respekt vor den sozialen Härtefällen ausgefüllt werden sollen, kann man den Leuten auch einmal den eigentlichen Lohn ihrer Dienstbeflissenheit vor Augen führen: Er besteht darin, was Overton schon in den letzten Wahlkampf-Analysen herausstellte, dass man mit anderen, den Migranten und denen, die nicht hierhergehören, noch rabiater umgeht als mit den eigenen Leuten. Das ist das tolle Angebot: Das treue, „privilegierte“ Eigenvolk, das sich alles gefallen lässt, darf beim Wahlkampf dabei zuschauen, wie sich die Parteien mit ihren Vorschlägen zur Schlechterstellung anderer überbieten.

Und lernen kann man am Fall Zuwanderung und Demographie auch noch eine andere Lektion: Nicht die AfD ist, wie gern behauptet, das Original, das jetzt bei den anstehenden Verschärfungen im Asyl- oder Ausländerrecht von den „Altparteien“ kopiert wird. Diese liefern vielmehr die Vorlage, die im Grunde jedem Nationalstaat vertraute Sorge um Intaktheit und Reproduktion(sfähigkeit) seines Volkskörpers. Die Konjunkturen, die sie dabei in arbeitsmarkt-, renten- oder industriepolitischer Hinsicht, bei Kriegen, Umsiedlungen oder sonstigen transnationalen Händeln zu bewältigen haben, liefern dann das Material, an dem sich rechtspopulistische Schmarotzer bedienen können – immer mit dem billigen Vorwurf, man könnte und müsste das Ganze noch mehr im nationalen Interesse gestalten.

P.S. Wie eingangs erwähnt, war der fiktive Charakter der Brandmauer nicht schwer zu erkennen. Dazu gab es ja auch in der politischen Öffentlichkeit immer wieder eindeutige Hinweise – sofern sich die Medien dafür interessierten und nicht, wie nach der Entlarvung des angeblichen Potsdamer „Geheimtreffens“, die Rechtspopulisten aus der demokratischen Gemeinschaft ausgrenzten, weil sie Pläne für eine ethnische Säuberung von NS-Format in den Schubladen hätten und mit der Errichtung einer faschistischen Diktatur beginnen würden, wenn sie an die Macht kämen. Bei Overton hieß es dazu in einem Kommentar im Sommer 2023: „Fragt sich nur, wie lange diese Abgrenzungsstrategie hält, hatte doch auch der frühere SPD-Ministerpräsident Börner zunächst den Grünen mit der Dachlatte gedroht, bevor seine Partei mit ihnen eine Koalition bildete. Bei so viel inhaltlicher Nähe zwischen AfD und den ‚etablierten‘ Parteien kann nach einer Wahl das politische Klima auch schnell kippen, denn schließlich geht es allen – auch der AfD – immer nur um eins: um Deutschland.“

Nachweise

  • Patrick Bahners, Die Panikmacher – Die deutsche Angst vor dem Islam. Eine Streitschrift. München 2011.
  • Patrick Bahners, Die Wiederkehr – Die AfD und der neue deutsche Nationalismus. Stuttgart 2023.
  • Suitbert Cechura, Umfragehoch für die AfD – oder was die Wähler falsch machen, in: Overton-Magazin, 24. August 2023.
  • Suitbert Cechura, Wenn sich Brandstifter als Feuerwehrleute anbieten, in: Overton-Magazin, 19. Januar 2025.
  • Judith Goetz, „Transpersonen fungieren als Kronzeug*innen“ – In der AfD engagieren sich erstaunlicherweise auch Transpersonen. Interview in: Konkret, Nr. 2, 2025, S. 40-41.
  • Judith Goetz/Thorsten Mense (Hg.), Rechts, wo die Mitte ist – Die AfD und die Modernisierung des Rechtsextremismus. Münster 2024.
  • Joshua Graf, Flucht – Asyl – Abschottung und das GEAS. 99 zu Eins, Episode 463, 23.1.25.
  • Daniela Rüther, Die Sex-Besessenheit der AfD – Rechte im „Genderwahn“. Bonn 2025.

Januar

Was verweigern eigentlich KDVler?

Die Wehrpflicht kommt wieder, damit auch das Recht der Kriegsdienstverweigerung (KDV), das im Grundgesetz verankert ist, zu neuer Bedeutsamkeit. Dazu ein Kommentar von Johannes Schillo.

Im Overton-Magazin erschien jüngst der Beitrag „Von der Kriegsdienstverweigerung zur Kriegstreiberei“. Er fragte: „Wo sind sie hin, die Anhänger der Gewaltfreiheit im friedenspolitisch geläuterten Deutschland, all die Verweigerer, die es einmal gab?“ Ja, sag mir, wo die Typen sind, wo sind sie geblieben, könnte man mit Pete Seeger anstimmen. Die Antwort ist natürlich ganz einfach, sie sind an der Macht, saßen z.B. im Kabinett der Ampelregierung, wo es kaum jemanden gab, der gedient hat. Kanzler Scholz und Vizekanzler Habeck konnten es z.B. vor Jahrzehnten nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren, auf Menschen zu schießen, und erinnern sich heute – irgendwie distanziert, auch belustigt – an ihre pazifistisch infizierte Jugendphase.

Habeck steht zu seiner Biographie, wie er dem Spiegel Ende 2024 mitteilte: Er „absolvierte einst den Zivildienst – und erinnert diesen als gute Zeit. Zwar sei er mit seiner damaligen Entscheidung im Reinen. Aber: ‚Ob ich das heute so tun würde in einer anderen Situation, das weiß ich nicht, beziehungsweise ich vermute, ich würde es nicht tun‘.“ Genial verlogen das Bekenntnis zur eigenen Geradlinigkeit, aber auch sachgerecht das Kokettieren mit der Gewissensentscheidung, von der man nur mutmaßen kann, wie sie in der konkreten Situation ausfällt.

Das passt zum KDV-Recht. Hier ist ja eine innere Stimme verlangt, die man sich als Instanz im Menschen denken muss. „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“ So das Grundgesetz. Nicht die Vernunft, der Widerwille gegen das Töten wildfremder Leute oder gar die eigene Bequemlichkeit, die von Aufenthalten in Schützengräben lieber Abstand nimmt, dürfen hier geltend gemacht werden. Ein „ich will das nicht“ hat hier keine Berechtigung, auch dann nicht, wenn ein „weil…“ folgt und die Gründe ausführlich dargelegt werden, wie Ole Nymoen das für sein neues Buch bei Rowohlt angekündigt hat. Die Stimme des Gewissens ist gefragt und dieser innere Vorgang muss in der glaubwürdigen Inszenierung einer sittlichen Persönlichkeit dem Prüfungsausschuss präsentiert und von dort abgesegnet werden.

Pazifismus aus nationaler Verantwortung

Damit ist das ganze KDV-Wesen – wie immer demnächst das Bundesgesetz das „Nähere“ regeln wird, ob per vereinfachtem Antragsverfahren mit schriftlicher Begründung oder aufwändiger mit dreistufigem Prüfungsausschuss etc. – auf eine individualisierende, irrationale Schiene gesetzt, die jedenfalls einen oppositionellen Geist gegen staatliche Indienstnahme unterbinden will. Dass die Friedensbewegten und Verweigerer von gestern die Kriegstreiber von heute sind, kann man trotzdem als Widerspruch festhalten. „Nur ein Ampelminister hat Wehrdienst geleistet“, vermeldet bei Gelegenheit immer noch erstaunt die Presse, sogar „Finanzminister Christian Lindner (FDP) leistete Zivildienst.“

Wer sich darüber wundert, hat allerdings zwei Dinge übersehen. Erstens die Vorgeschichte des neuen deutschen Militarismus und zweitens den systematischen Grund, der politisch denkende Menschen zu diesem eigenartigen Übergang – von der Verweigerung militärischer Notwendigkeiten zum glatten Gegenteil – bewegt. Der Overton-Beitrag hat dies im Blick auf die grundsätzlichen Triebkräfte, nämlich den Nationalismus der damaligen Friedensbewegung und den staatstreu eingefärbten Pazifismus, zu erklären versucht. Dazu hier einige Nachträge.

Der erste Punkt dürfte den heutigen Resten der Friedensbewegung kein Geheimnis sein, haben sie doch in den 90er Jahren hautnah erlebt, wie sich realpolitisch bzw. verantwortungsvoll denkende Weggefährten in den Mainstream bzw. in neue Politkarrieren verabschiedeten. Es war ja gerade der grüne Anspruch auf „robuste“ Durchsetzung von Menschenrechten, der neue „Bellizismus“ von Gutmenschen, der nach der Wende im Osten die Weichen hin auf Kriegsbeteiligung stellte und der schließlich im Bündnis mit der Sozialdemokratie 1999 – in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, wie Kanzler Schröder später einräumte – Serbien zur Räson brachte. Eine Analyse in Sachen „konsequente Karriere von Kriegsgegnern zu gewissenhaften Militaristen“ kann man übrigens im Gegenstandpunkt nachlesen. Der Text, der bereits Anfang 1996 erschien, also lange bevor unter Rotgrün die Entscheidung in Sachen Kosovokrieg fiel, legt auch im Einzelnen den antikritischen Geist des staatlich konzessionierten Pazifismus dar.

Dessen zentraler Fehler besteht in der Bereitschaft, sich der Instanz, die mit Krieg und Frieden als Optionen ihrer Selbstbehauptung wie auswärtigen Durchsetzung kalkuliert, als dienstbereites Individuum zu unterstellen, das nur an einer Stelle, quasi aufgrund eines persönlichen Defekts, beim loyalen Mitmachen behindert ist. „Die Tatsache des Krieges entdeckt der Pazifist, die Frage nach dem Grund des Krieges ist für ihn irrelevant. Er verurteilt den Krieg, nicht aber die Politik, die die Kriegsgründe schafft und für die Durchsetzung ihrer Vorhaben bisweilen zu dieser letzten Konsequenz schreitet. Dabei ließe sich dem politischen Getriebe in der Zeit zwischen den Kriegen durchaus einiges über deren Gründe entnehmen…“ (Held 1996, 154)

Wie gesagt, das ist eine Analyse, die sich auf die Entwicklung bis 1995 bezog, als die Großtaten des grünen Bellizismus noch gar nicht stattgefunden hatten. Außerdem wäre daran zu erinnern, dass die Marxistische Gruppe, der Vorläufer des Gegenstandpunkt, mit ihrer Kritik am Nationalismus der Friedensbewegung bei den einschlägigen Demos der 80er von Anfang an vertreten war, sogar selber eine Großdemo in Bonn veranstaltete; dass diese Kritik also in der Republik öffentlich präsent war (siehe auch Held/Ebel 2023), von den friedensbewegten Aktivisten jedoch entschieden zurückgewiesen wurde, da die Herstellung eines „breitesten Bündnisses“ Priorität habe. Die nationale Borniertheit der damaligen Friedensbewegung war aber auch Thema an anderer Stelle, etwa beim März-Verleger Jörg Schröder, der später mit der Rubrik „Schröder erzählt“ sein erzählerisches Talent unter Beweis stellte.

Schröder konnte wirklich viel erzählen, wenn der Tag lang wurde, und seine Oral History „COSMIC“, die er zusammen mit dem Journalisten Uwe Nettelbeck verfertigte, wartete mit der steilen These auf, er, Schröder, sei der Erfinder der westdeutschen Friedensbewegung gewesen. Denn er habe das Schreckensszenario „Atom-Rampe Deutschland“, so der reißerische Stern-Titel von 1981, in die Welt gesetzt und damit den Startschuss für die öffentliche Aufregung gegeben. Was er in der Tat belegen kann ist ein allgemeines Totschweigen der konkreten Atomkriegsgefahr, das Ende der 70er Jahre in der westdeutschen Öffentlichkeit vorherrschte. Qualitätsmedien wie Spiegel, FR, FAZ wollten von Atomwaffen, die bereits auf deutschem Boden lagerten und das atomare Risiko für Deutschland auch ohne die neuen Pershings und Cruise Missiles der Nachrüstung erhöhten, nichts wissen (vgl. Schröder/Nettelbeck 1982, 145f).

Der März-Verlag teilt resümierend über den „Politskandal“ von 1980 mit: „Schröder entdeckt die Depots von Mininukes entlang der Zonengrenze, welche in sogenannten ‚Wasserwerken‘ lagern, erzählt davon in ‚Transatlantik‘ und der ‚taz‘. Verfassungsschutz und CIA reagieren panisch, der ‚Stern‘ steigt ein mit ‚Atomrampe Deutschland‘, Beginn der neuen Friedensbewegung.“ Der nationalistische Geist der Bewegung wird bei Schröder deutlich, wenn auch eher in gehässigen Bemerkungen über einzelne Aktivisten und über den provinziellen Geist dieses Heimatschutzes, Entwicklungen zum Ökofaschismus inbegriffen: „es muß dieser ganze Müslimuff und Moralmuff und Bewegungsmuff sich nicht unbedingt wie schon einmal gehabt transformieren, aber weiß der Teufel, aus welchem Ei es kriechen wird“ (Schröder/Nettelbeck 1982, 257).

Wir verweigern uns!

Man wird in der BRD jetzt natürlich abwarten müssen, wie die Neufassung oder Wiederinkraftsetzung der Wehrpflicht im Einzelnen aussieht und welche Neuerungen (Einbeziehung des weiblichen Nachwuchses, Einführung eines allgemeinen Dienstjahres…) sich eventuell ergeben. Die Abschaffung des KDV-Rechts ist dabei kaum zu erwarten. Wenn es bei der bisherigen gesetzlichen Regelung bleibt, unterstützt es ja auch die Herstellung einer individualistischen Haltung, die nicht zu Opposition anregt. Und das mehrstufige Prüfverfahren ist so angelegt, dass auf dem Verwaltungswege die Anerkennungskriterien ohne großen Aufwand verschärft werden können. Die Ausschussmitglieder prüfen ja eine innere Einstellung und haben daher ziemliche Freiheiten, um sich vom persönlichen Auftreten des Prüflings und seiner moralischen Inszenierung beeindruckt zu zeigen oder auch nicht.

Der Bundeskongress der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG/VK) fand Ende 2024 unter dem Motto „Kriegsdienstverweigerung ist Menschenrecht! Weltweit!“ in Halle statt. Man kam zusammen, um über die gegenwärtigen Kriege und eine mögliche Reaktivierung der Wehrpflicht zu diskutieren. „Mit der Debatte über die von Pistorius im Juni vorgestellten Pläne für einen sogenannten Neuen Wehrdienst rückt auch hierzulande das Thema Verweigerung wieder auf die Tagesordnung“, resümiert das Neue Deutschland die Einschätzung der Kongressteilnehmer. Der DFG-Geschäftsführer erklärte dazu: „Wir bieten schon wieder Beratung an und wir bekommen auch Anfragen“. „Wehrpflicht ohne mich“ lautet denn auch das Motto einer Kampagne, die die Friedensorganisation „in der nächsten Zeit“ durchführen will.

Natürlich kann man Kriegsdienstverweigerung als Möglichkeit zum antimilitaristischen Einspruch nehmen, d.h. das KDV-Recht tendenziell missbrauchen. Es gab ja sogar eine Zeit, als Kriegsdienstverweigerung, die von Anfang an mit gewissen bürokratischen Hürden versehen war, eine Verbindung mit einer Protestbewegung einging. In den zehn Jahren nach der Wiederbewaffnung führte sie zunächst ein Schattendasein und stieg erst danach, im Zuge der Unruhen von APO und antiautoritärer Revolte, zu einer Massenbewegung auf. Sich „dem System“ zu verweigern, wurde zum Programm einer lautstarken und tonangebenden Minderheit, die nach dem Urteil der Jugendforschung damals das Profil der „protestierenden Generation“ bestimmte.

Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt haben zuletzt in ihrem Videopodcast „Wir diskutieren über Herbert Marcuse!“ (2024) an diese Zeit erinnert. Sie beschäftigen sich mit Marcuses „Versuch über die Befreiung“ (1969), in dem sich der Kritische Theoretiker aus dem Kreis um Adorno und Horkheimer mit dem herrschenden „korporativen Kapitalismus“ auseinandersetzte und mit dem damaligen Protestpotenzial – mit Studentenbewegung, Bürgerrechtsprotesten, antiautoritärer Rebellion in den Metropolen, mit Revolten oder Aufständen im globalen Süden. All das müsste man miteinander verbinden, Chancen dazu gebe es. „Die Große Weigerung nimmt verschiedene Formen an“, hieß es eingangs in Marcuses Statement (Marcuse 1969, 9). Der Widerstand beschränke sich nicht auf die Front gegen die Kapital-Interessen, sondern ziele auch darauf, „Frieden zu verwirklichen“, denn die „jungen Rebellen wissen oder fühlen, daß es dabei um ihr Leben geht, um das von Menschen, das zum Spielball in den Händen von Politikern, Managern und Generälen wurde.“ (Ebd., 12)

Das Duo Nymoen/Schmitt, das den Podcast Wohlstand für alle betreibt, diskutiert Marcuses Hauptthese, die „korporativ“ ins System integrierte Arbeiterbewegung müsse durch weitere Protestbewegungen wiederbelebt, verstärkt und erweitert werden – aber ohne dass der Gegensatz von Kapital und Arbeit aus dem Blickfeld gerate und ohne dass ein Abgleiten in reformistische, kultur- oder konsumkritische Verbesserungsprogramme stattfinde. Marcuses Vorschläge erweisen sich, so könnte man das Fazit der Diskussion ziehen, als wenig hilfreich; im Grunde werde ein Wunschtraum ausgebreitet, der gleichzeitig wieder mit „realistischen“ Argumenten ein Dementi erfahre.

Am Schluss bleibt vielleicht als wichtigster Punkt aus Marcuses Überlegungen die Warnung, nicht im Vertrauen aufs Völker- oder Menschenrecht der Staatsautorität entgegenzutreten – so als könnte man sie auf die Einhaltung höherer Normen verpflichten. Wenn die DFG Kriegsdienstverweigerung zum Menschenrecht – „Weltweit!“ – erklärt, dann ist das eben auch nur ein Wunschtraum. Die UN-Charta der Menschenrechte kennt kein spezifisches Recht auf Kriegsdienstverweigerung, das weiß auch die heutige Protestbewegung. Wenn es wirklich zu einer Großen Weigerung kommen soll, dann bedarf es des Oppositionsgeistes und nicht der Vertrauensbildung in die dem Volk gewährten Grundrechte.

Nachweise

  • Karl Held/Theo Ebel: Krieg und Frieden – Politische Ökonomie des Weltfriedens. (Edition Suhrkamp, Neue Folge, Nr. 149, 1983) 2. Auflage, Gegenstandpunkt, München 2023. Siehe die Rezension im socialnet.
  • Karl Held (Red.), Das Elend des Pazifismus – Die konsequente Karriere von Kriegsgegnern zu gewissenhaften Militaristen, in: Gegenstandpunkt, Nr. 1/2, 1996, S. 147-160, online: https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/elend-pazifismus
  • Herbert Marcuse, Versuch über die Befreiung. Edition Suhrkamp 329. Frankfurt/Main 1969.
  • Ole Nymoen, Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde – Gegen die Kriegstüchtigkeit. Rowohlt, Hamburg 2025 (erscheint Anfang März).
  • Ole Nymoen/Wolfgang M. Schmitt, Frankfurter Schule: Wir diskutieren über Herbert Marcuse! Wohlstand für alle, Episode 278, 4.12.2024 https://www.youtube.com/watch?v=MraFDEMrNHA&t=187s
  • Jörg Schröder/Uwe Nettelbeck, COSMIC. In: Die Republik, Nr. 55-60, 3. Juni 1982, S. 54-340.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
texts25.txt · Zuletzt geändert: 2025/02/14 18:44 von straycat

Donate Powered by PHP Valid HTML5 Valid CSS Driven by DokuWiki