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Textbeiträge 2025

An dieser Stelle veröffentlichen wir Texte und Debattenbeiträge. Wer Anmerkungen dazu hat, wende sich an die IVA-Redaktion (siehe „Kontakt“).

November

Wer kann und wer will einen Krieg in Deutschland verhindern?

Björn Hendrig hat bei Telepolis zu dieser Frage eine Antwort veröffentlicht, die dort zahlreiche Reaktionen in der Leserschaft und in der Redaktion hervorgerufen hat. Hier die ungekürzte Fassung es Beitrags.

Die herrschende Politik steuert auf einen Waffengang gegen Russland zu. Dennoch ist Widerstand möglich. Hier eine Bestandsaufnahme, wer ihn leisten könnte und wie es darum derzeit bestellt ist. Die Antwort zerfällt in zwei Teile: Einmal geht es um die parlamentarische, das andere Mal um die außerparlamentarische Opposition.

Teil 1: Opposition im Deutschen Bundestag

Angenommen, die Bundesregierung ruft den „Verteidigungsfall“ aus. Das muss sie dem Bundestag als Initiative vorlegen. Das Parlament entscheidet dann laut Artikel 115a Grundgesetz über die „Feststellung, dass das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht“. Zwei Drittel der Abgeordneten, die abstimmen, müssen diese Feststellung bejahen; mindestens jedoch die absolute Mehrheit aller Abgeordneten. Und der Bundesrat, die Kammer der Bundesländer, muss ebenfalls zustimmen. Dort bedarf es der absoluten Mehrheit der abgegebenen Stimmen. (Näheres bei Wikipedia.)

Für den „Verteidigungsfall“ genügt es, wenn laut Ansicht der führenden Politiker in der Regierung und in den Bundestagsfraktionen ein Angriff unmittelbar bevorsteht. Der gegnerische Staat muss nicht Grenzen bereits überschritten haben. Ein festgestellter Fernwaffenbeschuss reichte zur Begründung. Wer hier an vermeintliche russische Drohnen über deutschem Staatsgebiet denkt und sich an Roderich Kiesewetter (CDU) erinnert, der angesichts dieser „Bedrohung“ den „Spannungsfall“ als Vorstufe des Verteidigungsfalls forderte – der liegt richtig.

Deutsche Geheimdienste: Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit

Kiesewetter blitzte damit allerdings ab. Aber die Richtung stimmt. Denn kurze Zeit später konstatierten der Bundesnachrichtendienst, das Bundesamt für Verfassungsschutz und der Militärische Abschirmdienst in einer gemeinsamen Pressekonferenz: „Wir dürfen uns nicht zurücklehnen und denken, ein russischer Angriff kommt frühestens 2029. Wir stehen schon jetzt im Feuer“. Sabotageversuche, Spionagedrohnen, Brandstiftung, generell Angriffe auf die kritische Infrastruktur vonseiten Russlands seien eine „neue Qualität der Konfrontation“.

Geheimdienste als glaubwürdige und unparteiische Informationsquelle? Für Medien wie die „Tagesschau“ offenbar. Nur zur Erinnerung: Geheimdienste sind dazu da, für ihren staatlichen Befehlshaber andere Staaten auszuspionieren, dort schädliche Intrigen zu spinnen, erwünschte Opposition anzuheizen bis hin zur Organisation von Aufständen. Diese Vereine sorgen nach innen für die Bekämpfung jeglichen Widerstands gegen die herrschende Politik. Nach außen kundschaften sie die Potenziale gegnerischer Staaten aus, suchen nach Schwachstellen und empfehlen ihren Herrschaften, wo sie Druck ausüben können. Und solchen Organisationen soll man Glauben schenken, wenn sie Feinde ausgemacht haben wollen?

Einen Fall für den „Verteidigungsfall“ lässt sich immer finden

Indes, um Wahrheit geht es in Kriegsfragen ohnehin nicht. Sondern darum, wann es eine Herrschaft für angeraten hält, mit Gewalt gegen ihresgleichen vorzugehen. Zur Begründung genügt dann beispielsweise ein Attentat auf einen Thronfolger wie vor dem Ersten Weltkrieg, ein inszenierter Überfall auf einen deutschen Sender wie im Zweiten Weltkrieg, eine angebliche Attacke von nordvietnamesischen Schnellbooten auf US-Kriegsschiffe im Golf von Tonkin oder der „Beweis“ des Geheimdienstes CIA (sic!), dass der Irak über Massenvernichtungswaffen verfügte.

Der „Verteidigungsfall“ kann daher auch für die Bundesregierung schnell eintreten. Eine Begründung von obigem Kaliber lässt sich immer finden. Die schwarz-rote Koalition muss nur vom Bundestag und vom Bundesrat ihre Einschätzung bestätigt bekommen, dass der Angriff eines Feindes unmittelbar bevorsteht. Dem muss sich jedoch nach aktueller Lage auch ein Großteil der Opposition anschließen.

AfD und die Linke haben eine Sperrminorität im Bundestag

Womit wir bei Bündnis 90/Die Grünen, der Partei Die Linke und bei der AfD angekommen sind, plus zwei fraktionslosen Abgeordneten. Von den 630 Sitzen im Bundestag haben sie 302 inne. Für die kriegsnotwendige Zwei-Drittel-Mehrheit von 420 Ja-Stimmen fehlen der Regierung 92 Stimmen. Die AfD könnte mit ihren 151 Mandaten zusammen mit den 64 von Die Linke die Feststellung des Verteidigungsfalls scheitern lassen. Sie verfügen über 215 Sitze, fünf mehr als ein Drittel des Bundestages.

Wie soll es dann zu einem vom Parlament beschlossenen Kriegseinsatz kommen? Zumal diese beiden Parteien sich gegen den Kriegskurs der Regierung aussprechen. Allzu viel Hoffnung sollte man darin allerdings nicht setzen.

AfD: Nur Kriege im deutschen Interesse führen!

Die AfD will eine starke und moderne Bundeswehr, setzt sich für eine Erhöhung des Wehretats ein und kritisiert die Aussetzung der Wehrpflicht. Dass deutsche Interessen gegen den Rest der Welt mit einer durchsetzungsfähigen Gewalt zu vertreten sind, ist für diese Partei selbstverständlich. Nur im Fall des Ukraine-Kriegs sieht die AfD kein lohnenswertes deutsches Interesse. Und eine Unterordnung unter die USA hält sie für falsch, wenngleich manche in der Partei mit Trumps Politik sympathisieren.

Eine Kriegsgegnerschaft sieht anders aus. Wenn im „Verteidigungsfall“ ganz Deutschland gegen einen „Aggressor“ aus dem Osten zusammenstehen muss, dürfte sich diese stramm deutschnationale Partei der „Notwendigkeit“ eines Krieges nicht verschließen.

Die Linke: Bundeswehr muss sein, und lieber erst reden, dann schießen

Aber vielleicht wenigstens Die Linke? Sie hält eine „friedliche Welt“ für „möglich“. Dann setzt sie sich also entschieden gegen jeglichen Krieg zwischen Staaten ein? Und erklärt den Leuten, dass nicht der Staat seine Bürger im Krieg verteidigt? Dass es sich vielmehr umgekehrt verhält: Die Bürger erschießen auf Befehl wildfremde Menschen, werden getötet, verstümmelt und ihr Zuhause wird zerstört. Weil sie mit Gewalt das Vorhaben des Staates exekutieren, anderen Staaten seinen Willen aufzuzwingen. Aktuell will die herrschende Politik Russland dazu bringen, sich der Ausdehnung des Westens zu fügen, mit Nato und EU bis ganz nah an Moskau heran. Dafür wird das Exempel Ukraine statuiert. Und in einigen Jahren könnte es an anderen Stellen Krieg geben – wenn Russland nicht klein beigibt.

So sieht es jedoch Die Linke nicht. Sie nennt nicht Ross und Reiter. Vielmehr hält sie die Bundeswehr für nötig und der Bundesregierung und der Europäischen Union eine Menge zugute. „Wir wollen Diplomatie stark machen und die EU und Bundesrepublik international glaubwürdig (…) Dafür braucht es eine EU, die sich in der Blockkonfrontation unabhängig macht und ohne Doppelstandards Völkerrecht und Menschenrechte achtet – und überall für Gerechtigkeit, Kooperation und Demokratie eintritt.“ (Ebenda) Da rüstet diese EU mit ihrer Führungsmacht Deutschland für den Krieg und fuhrwerkt überall in der Welt mit ihrer Gewalt und wirtschaftlichen Übermacht herum – und was fällt dieser Partei ein? Eigentlich könnte das doch irgendwie friedlich verlaufen. Indem man seine bedrohlichen Forderungen höflich formuliert – von wegen Diplomatie – und vielleicht erst dann andere Seiten aufzieht, wenn die Gegenseite nicht spurt?

Eine entschiedene Opposition gegen die derzeitige Politik in Deutschland ist daher von dieser Partei nicht zu erwarten. Dies zeigte sich auch im März bei der Abstimmung im Bundesrat zur Aufhebung der Schuldenbremse, um so die Aufrüstung zu finanzieren. Die Linke in den Landesregierungen von Mecklenburg-Vorpommern und Bremen stimmte dafür.

Es klingt bei der Linken daher eher nach einer Begleitmusik: Alle falschen Ideale über eine gerechte und friedliebende Politik werden hochgehalten. Wenn es dann zum Kriegsschwur kommt, zeigt sich Die Linke gewiss bitter enttäuscht, entzieht sich aber auch nicht der „Verantwortung“. Wenn die Geheimdienste „beweisen“, dass Russland „angreifen will“? Dann muss halt die Bundeswehr doch ran, oder? Die ist ja auch für Die Linke nötig zur „Verteidigung“.

Auf die Oppositionskräfte im Bundestag kann man also nicht setzen. Sie werden sich kaum gegen einen Kriegseintritt Deutschlands stemmen. Kann man dann vielleicht auf Kräfte außerhalb des Parlaments, auf die „Friedensbewegung“ und die Gewerkschaften setzen? Das soll im zweiten Teil untersucht werden.

Teil 2: Außerparlamentarische Opposition

An die Dimension des Protests gegen die damalige „Nachrüstung“ mit Mittelstreckenraketen Anfang der 1980er-Jahre kommt die aktuelle Friedensbewegung bisher nicht heran. Statt mehrere Hunderttausend Demonstranten kamen bei der jüngsten großen Versammlung in Berlin Anfang Oktober gerade einmal rund 20.000 Friedensbewegte zusammen, plus 15.000 auf der parallelen Demo in Stuttgart. Von einer machtvollen Bewegung kann man also nicht sprechen. Aber vielleicht wird das noch was? Immerhin unterstützten mehrere hundert Organisationen den Aufruf „Nie wieder Krieg! Nein zur Kriegspolitik und Militarisierung. Ja zu Frieden und Abrüstung“.

Das klingt erst einmal nach einer ziemlich entschiedenen Gegnerschaft. Nur: Wer sind die Gegner? Der Aufruf beginnt so: „Die Situation in Europa entwickelt sich gefährlich in Richtung eines großen Krieges. Statt sich für Frieden einzusetzen, will die Bundesregierung Deutschland ‚kriegstüchtig‘ machen. Mit massiver Hochrüstung soll das Land europäische Führungsmacht werden.“

Deutschland will Frieden – aber erst müssen wir gewinnen!

Seltsam, da rüstet der Staat für einen Krieg gegen Russland – wo er sich doch eigentlich für Frieden einsetzen müsste? Wo steht denn dieser Auftrag geschrieben? Das Grundgesetz verbietet zwar „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten“ ( Art.26 (1)), aber was heißt das schon?

Wenn die Störung des „friedlichen Zusammenlebens der Völker“ wirklich verfassungswidrig ist, hätte noch ziemlich jede Bundesregierung verklagt werden müssen. Passierte aber nicht – weil „Frieden“ eine herrschaftliche Kategorie ist: Die Politik entscheidet, welchen Zustand sie im Verhältnis zu anderen Staaten als „Frieden“ betrachtet. Im „Kalten Krieg“ konnte es beispielsweise mit der UdSSR und der DDR keinen Frieden geben, weil sich diese Länder dem Westen nicht fügten. Sie verlangten bekanntlich „friedliche Koexistenz“, um ihr realsozialistisches System zu stabilisieren. Aktuell kann es aus deutscher Sicht keinen Frieden in der Ukraine geben. Denn damit würde zwar das Sterben und Töten aufhören. Aber Russland wäre nicht besiegt!

Das Winken vieler Friedensbewegter mit dem Grundgesetz verkennt außerdem: Die Verfassung hat sich der Staat selbst gegeben. Sie ist die Grundlage für seine Politik, nicht etwas ihr Übergeordnetes. So wird die Verfassung angepasst, wenn sie der aktuellen Lage im Wege steht – mit Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament, wie gesehen bei der Schuldenbremse.

Und noch etwas: Glaubt jemand ernsthaft, wenn Bundestag und Bundesrat den „Verteidigungsfall“ ausrufen, dass das Verfassungsgericht dagegen eine „einstweilige Verfügung“ erlässt? Die Damen und Herren Richter sehen auch die Tagesschau und bekommen mit, was angesagt ist, wenn sich die Nation „bedroht“ fühlt. Dann geht es an die Waffen, nicht vor Gericht.

Schließlich „verteidigt“ sich jeder Staat: Deutschland gegen „russische Aggression“; Russland in der Ukraine dagegen, dass die Nato weiter an Moskau heranrückt, so dass Weltmacht Nr. 2 im Kampf gegen Weltmacht Nr.1, die USA, noch angreifbarer wird; Israel gegen die Palästinenser, die sich gegen ihre Vernichtung wehren – und die USA gegen jeglichen Widerstand anderer Staaten, die Allmacht Washingtons anzuerkennen.

Politiker als Gefangene der Situation, die sie selbst herbeiführen?

Stutzig könnte einen auch die Formulierung machen, dass „sich“ da was „gefährlich“ entwickelt. Als wenn etwas von den herrschenden Politikern Unabhängiges diese in eine „Situation“ triebe. Von Akteuren mit Interessen, gegen die man vorgehen muss, bleibt dann nicht mehr viel. Konsequent heißt es am Ende des Aufrufs: „Wir fordern statt Eskalation Diplomatie und Entspannungspolitik und fordern die Bundesregierung auf, sich für ein schnelles Ende der Kriege in Europa, im Nahen und Mittleren Osten einzusetzen.“

Die Gründe für diese Kriege benennt der Aufruf nicht. Wohlweislich, denn sonst müsste er feststellen: In all diesen gehört die Bundesregierung zu den maßgeblichen Treibern. In der Ukraine will sie Russland verlieren sehen, um in Europa die Vorherrschaft zu gewinnen und damit zur Weltmacht neben den USA und China zu werden. Im Gaza-Krieg und im Vorgehen gegen den Iran mischt die deutsche Politik mit, liefert Waffen, unterstützt Israel – und arbeitet hart daran, neben der US-amerikanischen Weltmacht Nr.1 dort auch ein Wörtchen mitzureden. Da ist allerdings noch viel Luft nach oben. Kunststück, über eine überragende Militärmacht verfügt Deutschland mitsamt der EU nicht – noch nicht, daher die Aufrüstung.

Krieg beenden? Gern, aber nur zu unseren Bedingungen!

Ein „schnelles Ende der Kriege“ kann dabei durchaus im Interesse der Bundesregierung sein. Nur halt zu ihren Bedingungen: also Niederlage Russlands, Zerschlagung der Hamas, Aufgabe des iranischen Atomprogramms. Dann kehrt „Frieden“ ein. Aber ist das der erstrebenswerte Zustand für eine Friedensbewegung? Der Aufruf und seine zahlreichen Unterstützer wollen offenbar von einem nicht lassen: Eigentlich ist ihr Staat friedliebend und gut, kommt dabei aber leider vom Weg ab, wählt die falschen Mittel.

Und macht sich mit den falschen gemein, wie der Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner (DFG-VK), Jürgen Grässlin, auf der Kundgebung erklärte: „Was mich am Allermeisten erschreckt, ist die Tatsache, dass die führenden Politiker auf unserem Planeten – Donald Trump, Wladimir Putin und Xi Xinping – zu skrupellosen Machtpolitikern verkommen sind. Ihnen sind das Wohlbefinden der Menschen und eine intakte Natur schlichtweg gleichgültig. Längst haben sie jegliche Zielvorstellung einer friedlichen und gerechten Welt für alle aufgegeben. Keinen Deut besser sind antidemokratische Regierungspolitiker oder Präsidenten wie Netanjahu, Erdoğan, Orban, Meloni oder Le Pen. Und auch unsere vermeintlichen Demokraten Macron, Starmer und Merz versagen.“

Der Bundeskanzler „versagt“, könnte stattdessen das „Wohlbefinden der Menschen und eine intakte Natur“ befördern – und sich gegen die „skrupellosen Machtpolitiker“ stemmen. Das wäre sein Job, den erledigt er aber nicht, also scheitert er an seiner eigentlichen Aufgabe. Mehr Einbildung darüber, was Politiker hierzulande umtreibt, geht kaum. Und mehr als ein Appell an ihn, doch bitteschön von zu viel Rüstung zu lassen und mit den Russen zu reden, kommt dann halt bei einer solchen Friedensbewegung nicht heraus.

Letzte und vielversprechendste Chance: die Gewerkschaften

Von der Opposition im Deutschen Bundestag kann man keinen ernsthaften und wirkungsvollen Widerstand gegen den Krieg erwarten, von der Friedensbewegung offenbar ebenfalls nicht, selbst wenn sie größeren Zulauf bekäme. Wer bleibt dann noch?

Natürlich die Organisationen der Arbeiter und Angestellten. Sie könnten ihre Mitglieder aufrufen, ihre Mitarbeit für die Realisierung der „Zeitenwende“ aufzukündigen. Die abhängig Beschäftigten schaffen doch all den Reichtum, auf dem die wirtschaftliche Macht Deutschlands beruht und mit dem die größte Aufrüstung aller Zeiten finanziert wird. Ganz unmittelbar stellt ein Teil von ihnen auch die Waffen her, mit denen demnächst in den Krieg gezogen werden soll. Wenn sie nicht nur „Nein!“ zum Kriegskurs sagen, sondern auch ihre Arbeit dafür beenden, geht hierzulande gar nichts mehr. Ein stärkeres Druckmittel gibt es nicht, um die Politiker zu stoppen.

Allein, wie stehen die deutschen Gewerkschaften dazu? „Wir erleben die Wiedergeburt einer verhängnisvollen Denk- und Handlungslogik in den internationalen Beziehungen“, schreibt der DGB zum diesjährigen „Antikriegstag“ am 1. September. „Wir fallen mehr und mehr zurück in Zeiten, in denen die Durchsetzung der eigenen Interessen mit Waffengewalt und militärische Aggression als legitimes Mittel der Politik betrachtet wird. Maßgeblichen Anteil an dieser bedrohlichen Entwicklung hat die Großmachtkonkurrenz zwischen den USA, China und Russland. In ihrem Ringen um geopolitischen und geoökonomischen Einfluss forcieren sie eine Politik der Konfrontation und Blockbildung.“

Da ist sie wieder, die „Situation“, in der sich das gute Deutschland leider befindet. Das Land droht, „zum Spielball rivalisierender Großmachtinteressen zu werden. Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften sehen deshalb durchaus die Notwendigkeit, in Deutschland und Europa die gemeinsame Verteidigungsfähigkeit zu stärken.“

Mehr Militär wagen – Deutschland gegen Großmächte „verteidigen“!

Im Klartext: Die Aufrüstung muss schon sein, sonst hat Deutschland nicht genug Gewaltmittel gegen die Großmächte in der Hand. Und natürlich macht das unser Staat nur, um sich zu „verteidigen“. Wie eben die USA, China und Russland auch nur sich „verteidigen“ – nämlich gegen die Konkurrenten im globalen Kampf um den Erfolg des eigenen Kapitals und um die sie flankierenden Einflusssphären.

Diese Wahrheit will jedoch der DGB nicht auf sein gutes Deutschland beziehen. Der Staat BRD will angeblich, gemeinsam mit den Ländern der Europäischen Union, einfach nur Frieden und friedlichen Handel mit allen Nationen dieser Welt. Wenn da welche nicht mitspielen, ja dann… werden im Falle des Falles auch andere Seiten aufgezogen. Dann heißt es: die Zerschlagung Jugoslawiens anschieben und mit Einsatz der Bundeswehr vollenden; bei den Golfkriegen der USA wichtigen Support leisten und beim Angriffskrieg gegen Afghanistan mitmachen; im syrischen Bürgerkrieg den Aufstand gegen den Störenfried Assad befeuern; den Gaza-Krieg Israels und den Angriff auf den Iran unterstützen und viele weitere kleinere Konflikte, die „nur“ in der Dritten Welt passieren, also unterm Radar der hiesigen Öffentlichkeit laufen. Ganz zu schweigen von zahlreichen Handelskriegen, Sanktionen und ökonomischer Übervorteilung, die im Frieden, ganz ohne Krieg, für Hunger und Elend sorgen.

Deutsche Waffen nur von deutschen Arbeitern!

Einen Aufruf zum entschiedenen Widerstand kann man sich bei diesem DGB kaum vorstellen. Vielmehr wendet er sich konstruktiv an die kriegsvorbereitende Bundesregierung und will ausgerechnet ihre „Rolle als internationale Friedensmacht“ stärken. Und gegen die vielen neuen Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie haben Gewerkschaften ebenfalls keine Einwände, im Gegenteil, da muss mehr passieren, wie der zweite Vorsitzende der IG Metall, Jürgen Kerner, fordert. Denn „anders als man denken könnte, führt das Sondervermögen Bundeswehr nicht automatisch zur Stärkung der heimischen Industrie. Sie droht vielmehr unter die Räder zu geraten, wenn mehr und mehr in Übersee gekauft wird und die Regierung keine Sorge trägt, dass Betriebe in Deutschland Wartung und Upgrades übernehmen. Wir brauchen endlich eine wehrtechnische Industriepolitik. Hier arbeiten hochmotivierte, hervorragend qualifizierte Beschäftigte auf technisch anspruchsvollen, meist tariflich abgesicherten Arbeitsplätzen.“ (Kerner)

Das Credo des IG Metall-Funktionärs lautet: Deutsche Waffen nur von deutschen Arbeitern! Der gewerkschaftliche Fetisch „Arbeitsplatz“ wirkt hier gleich doppelt. Erstens darf der Mensch sich glücklich schätzen, für das Kapital als lohnend erachtet und deshalb ausgebeutet zu werden; einfach weil die Alternative lautet: Existenznot. Und zweitens arbeitet er im Auftrag Deutschlands! Da stärken die vielen neuen Waffen dessen „Rolle als internationale Friedensmacht“. Die selbstverständlich nur eingesetzt werden, wenn man sich gegen Russlands sture Weigerung, den Krieg in der Ukraine zu verlieren, „verteidigen“ muss.

„Sagt Nein!“ Nicht alle Gewerkschafter sind auf Linie

Der „Verteidigungsfall“ wird also nicht aufzuhalten sein? Wie es derzeit aussieht, tatsächlich nicht. Die es schaffen könnten mit ihrer Arbeitermacht und ihrer gewerkschaftlichen Organisation, unterstützen den Kurs der Bundesregierung, begleiten ihn konstruktiv kritisch oder nehmen die Entwicklung fatalistisch hin.

Immerhin regt sich ein wenig innergewerkschaftliche Opposition. Beispielsweise im Landesverband Berlin der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Er protestiert gegen Werbung für die Bundeswehr an Schulen. Eine Reihe von „kämpferischen Gewerkschaftern“ plädiert für entschiedenen Widerstand gegen „Kriegstüchtigkeit und Völkermord“

Und in der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di fordert eine Initiative: „Sagt Nein! Schluss mit Kriegslogik, Hochrüstung, Militarismus, Militarisierung, Kriegs- und Zwangsdiensten und dem Burgfrieden der Gewerkschaftsführungen! Nur wenn die Gewerkschaften aktiv werden, gemeinsam mit der Friedensbewegung, können wir die weltweiten Kriege, weitere Kriegsvorbereitung, Sozialabbau und Klassenkampf von oben stoppen!“ Auf die Diskussionen mit der Friedensbewegung darf man gespannt sein. Vielleicht entdeckt sie dann doch, wo der Gegner steht…


„I don’t wanna get drafted“

Das Vaterland ruft: Jugend ans Gewehr! Erfreulicherweise gibt es noch Leute, die Nein dazu sagen. Hier einige Hinweise der IVA-Redaktion.

Die Wehrpflicht kommt wieder. Seit der „Zeitenwende“ wird die Notwendigkeit eines Wehrdienstes, der junge Menschen an die Bundeswehr heranführt, allenthalben betont, wobei eigentlich nur noch der Zeitpunkt der (Wieder-)Einführung offen ist. Zustimmung gibt es – leider – von rechts bis links. Aber es gibt auch entschiedenen Widerspruch, so von der gewerkschaftlichen Basisinitiative „Sagt NEIN!“, die unter der Losung „Gewerkschafter:innen gegen Krieg, Militarismus und Burgfrieden“ angetreten ist und für ihren Aufruf mittlerweile rund 30.000 Unterschriften eingesammelt hat.

IVA unterstützt die Initiative. Sie stellt sich, wie letztens im „FriedensForum“, der Zeitschrift der Friedensbewegung ausgeführt, kritisch gegen die Linie der DGB-Führung. Sie findet es etwa empörend, was in der diesjährigen DGB-Erklärung zum Antikriegstag steht, und besonders auch das, was nicht in ihr steht: Zwar im Ton leise, im Inhalt aber „robust“ stimme die Arbeitervertretung ihre Mitglieder auf den Kurs von Hochrüstung und Kriegsvorbereitung ein – wiederhole also die Politik des „Burgfriedens“, mit der 1914 die Arbeiterbewegung den Weg ins Jahrhundert der Weltkriege bahnte.

„Arbeiter schießen nicht auf Arbeiter“

Seit dieser Zeit trifft also die Losung, dass Arbeiter nicht auf Arbeiter schießen, genau auf die gegenteilige Realität: Die arbeitende Bevölkerung ist imperialistische Ressource, mit der die Hüter der Kapitalstandorte ihre Gegensätze in Krieg und Frieden austragen. „Sagt NEIN!“ will sich mit dieser Realität nicht abfinden, ruft dazu auf, der allseitigen Militarisierung und der in atemberaubendem Tempo stattfindenden Kriegsvorbereitung entgegenzutreten. Denn wirksamer Sand im Getriebe können eigentlich nur die sein, die den Reichtum samt seinen gigantischen Destruktivkräften schaffen – wenn sie denn die verordnete Parteilichkeit fürs völkische Kollektiv aufgeben und sich solidarisch mit denjenigen zeigen, die anderswo in gleicher Weise das Fußvolk für die dortigen Warlords abgeben.

Deshalb muss, wenn das Vaterland ruft, die Parole lauten: Wir sagen Nein! Denn a) wird die Öffentlichkeit mit diesem ominösen Ruf nach Strich und Faden belogen. Das „Wir“, das hier beschworen wird, lebt nicht in einem Vaterland, sondern in einer Klassengesellschaft, die durch eine Staatsgewalt zusammengehalten wird. Diese betreut lauter gesellschaftliche Gegensätze – an erster Stelle den von Kapital und Arbeit –, die dem Gemeinwesen schon in Friedenszeiten ihren äußerst gewalttätigen Stempel aufdrücken. Und b) ist dieser Ruf eine einzige Zumutung, die die Massen zu Mord und Totschlag in Bewegung setzen will. Und zwar geschieht dies im Interesse der politischen und ökonomischen Machterweiterung, die der jeweilige Souverän als unabdingbare Verteidigung seines Status und seiner Ansprüche im Staatenverkehr kennt. Zur Umsetzung seiner Vorhaben benutzt er die Lüge, er verteidige die Heimat seines Volks, während in Wahrheit seine menschliche Verfügungsmasse rücksichtslos zur Absicherung von Reichweite und Schlagkraft der Staatsgewalt verheizt wird.

Die Initiative„Sagt NEIN!“ hat daher ein Flugblatt vorgelegt, dass sich vor allem an die zu späterem Kriegsdienst vorgesehenen Jugendlichen wendet. Es trägt die Überschrift „Kriegsdienst – Jetzt auch für dich, mein Freund!“ und bringt Nachfragen zum gegenwärtigen Prozess der Militarisierung. U.a. heißt es in dem Blatt:

Hey Leute, kurze Ansage von Vater Staat

Wir brauchen wieder mehr Soldaten. Also Euch.

Uniform statt Unifit – Trend des Jahres. Putin ist böse, sagen wir, also verteidigen wir uns. Wogegen genau? Ach, das erklären wir später. Hauptsache, ihr seid bereit, wenn’s losgeht. Wir sind jedenfalls die Guten! Da dürft ihr sicher sein.

Natürlich habt ihr Meinungsfreiheit. Ihr dürft das alles total blöd finden - gern auch laut - und darüber posten. Nur, wenn wir sagen „Musterung“, dann heißt’s halt: Hingehen und Schnauze halten. Demokratie eben. Toll, was? So what?

Klar, wir bieten auch was: Führerschein for free, Abenteuer in Grün, Karrierechancen mit Beigeschmack. Vielleicht Chef, vielleicht Schütze, vielleicht Leiche – wer weiß das schon? Wichtig ist nur, dass ihr mitmacht.

Und bitte: Diskutiert fleißig weiter, wie die Obrigkeit das fair hinkriegt. Wen soll man ziehen? Ist ein Losverfahren gerecht? Das ist top! So bleibt ihr schön beschäftigt und fragt garantiert nicht, warum überhaupt gekämpft und gestorben werden muss.

Oder wer am Ende profitiert…?! Ihr seid’s bestimmt nicht.

Aber hey – Mitbestimmung ist wichtig! Deshalb dürft ihr natürlich alles sagen, solange ihr danach tut, was wir wollen. So läuft das hier mit der Freiheit: Ihr redet, wir entscheiden. Teamwork halt.

Also danke schon mal für euren Einsatz. Und keine Sorge, falls ihr’s nicht gleich versteht – an der Front und auf dem Schlachtfeld wird’s dann schon klar.

Ciao, und bleibt „frei“! Eure Staatsgewalt

Aktionen gegen die Wehrpflicht

Das Flugblatt wurde kurz vor dem 8. November, dem Beginn der bundesweiten Protestaktionen, erstellt und wird über verschiedene Verteiler verbreitet. Es kann hier heruntergeladen werden. Außerdem stehen auf der IVA-Startseite weitere Flugblätter zum Download bereit. Das neue Blatt eignet sich zur Verteilung bei Demos, vor Schulen oder bei Werbeveranstaltungen der Bundeswehr. Es ist kurz und polemisch abgefasst, versteht sich natürlich als Denkanstoß. Es greift u.a. Überlegungen auf, wie sie Suitbert Cechura in der Jungen Welt am 5. November unter dem Titel „Jugend ans Gewehr!“ ausgeführt hat.

Den Aufbau einer kriegsbereiten Bundeswehrtruppe hat jetzt auch Björn Hendrig in einer zweiteiligen Reihe bei Telepolis kommentiert. Der Kommentar „Die deutsche Politik steuert auf einen bewaffneten Konflikt mit Russland zu. Wer könnte Widerstand leisten?“ stellt genau die Frage, die für „Sagt NEIN!“ zentral ist: Auf welche Kräfte kann man überhaupt setzen, wenn der nächste Krieg verhindert werden soll? Teil 1 widmet sich der (möglichen) Opposition im Bundestag, Teil 2 einer Umschau unter den friedensbewegten Akteuren außerhalb des Parlaments, wobei natürlich auch die Gewerkschaften und die trostlose Rolle der DGB-Führung zur Sprache kommen. Der Text führt abschließend die Notwendigkeit an, eine machtvolle gewerkschaftliche Opposition aufzubauen, und nennt dazu Beispiele.

PS IVA wird eventuell eine größere Auflage im Vierfarbendruck herstellen, um Exemplare (in begrenzter Anzahl) für die bundesweite Verteilung zur Verfügung stellen. Wer interessiert ist und Bedarf hat, soll sich bei redcat@posteo.de melden. Hoffen wir, dass dieser Einspruch gegen die Herstellung von Kriegstüchtigkeit Erfolg hat und dass sich viele die Einstellung zu eigen machen, wie sie Ry Cooder besang: „I’m a redcat till I die/I’m a recdat through and through/I won’t fight your rich man’s war/an kill poor folks for you“. Beziehungsweise als offiziellen Song der neuen Kampagne empfehlen wir statt Reinhard Mei Frank Zappa und seinen damaligen Hit gegen die Wehrerfassung: „I don’t wanna get drafted“. In diesem Sinne: I don’t wanna go, oh no no no!


Oktober

Vom Anti- zum Philosemitismus

Georg Auernheimer hat eine kritische Stellungnahme zur eigenartigen Karriere vorgelegt, die der Antisemitismusbegriff in der BRD bis in die jüngste Zeit erlebt. Eine Buchvorstellung von Johannes Schillo.

„Antisemitismus, früher ein Kampfbegriff gegen die Diskriminierung und Entrechtung von Juden, einer schwachen, bedrängten Minderheit, ist zu einem Schild zur Abwehr von Kritik an Israels Politik geworden, eines hochgerüsteten und über Atomwaffen verfügenden Staates, der ein Volk unterdrückt und entrechtet.“ Das stellt Georg Auernheimer in seiner aktuellen Veröffentlichung fest, die den nicht ganz geglückten Titel „Zweierlei Antisemitismus“ trägt (2025, 96; daraus, so weit nicht anders angegeben, die folgenden Zitate). Denn sie will ja nicht, wie in der BRD derzeit üblich, die alte von rechts kommende Judenfeinschaft um eine neue („linke“, „islamische“, „propalästinensische“, „importierte“…) Variante ergänzen und an dieser die Probleme des gesellschaftlichen Zusammenlebens festmachen. Im Gegenteil, sie greift die gegenwärtige, angeblich allein auf den Schutz der jüdischen Bevölkerung und des israelischen Staates bedachte Regierungslinie als eine Abwehr von kritischen Nachfragen an, die aktuell – aber auch schon seit der in Deutschland weitgehend ausgeblendeten Nakba der 1940er Jahre – an die zionistische Politik zu adressieren wären.

Was etwa mit den Bundestagsbeschlüssen zur Übernahmen der IHRA-Definition (s.u.) oder zum Boykott der BDS-Bewegung in Gang gesetzt wurde, atmet nämlich, so Auernheimer, „den Geist des Obrigkeitsstaates“ (128) und zeichnet sich durch repressive Maßnahmen aus, die der antirassistischen Bildungsarbeit oder der Aufklärung über Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit einen Bärendienst erweisen. Mit dem unbedingten Schutz von Juden und Jüdinnen habe dies jedenfalls nichts zu tun. In einem jüngst erschienenen Interview mit dem Overton-Magazin (11.9.2025) hält Auernheimer fest: „Selbst Juden werden von deutschen Instanzen als Antisemiten abgestempelt“. Und er spricht davon, dass es mittlerweile in Deutschland zu „grotesken Zensurmaßnahmen und Verboten“ komme, wenn man gegen den israelischen Vernichtungskrieg in Gaza protestiert (ein Beispiel hat IVA jüngst vorgestellt). Dagegen setzt er seine Hauptthese, die in der neuen Veröffentlichung ausführlich begründet wird: „Kritik an israelischer Politik hat mit Antisemitismus nichts, aber auch gar nichts zu tun“.

Israelkritik und Antisemitismus

Auernheimer, von Hause aus Erziehungswissenschaftler, war lange als Hochschullehrer mit dem Schwerpunkt Interkulturelle Pädagogik tätig und meldet sich immer wieder als politischer Publizist zu Wort. Das jetzt vorgelegte Statement ist mit seinen 140 Seiten natürlich keine erschöpfende Darstellung der Geschichte und Systematik seines Gegenstandes (wozu ja viele Wissenschaftsdisziplinen das Ihre beigetragen haben), sondern ein gelungener, kurz gefasster Problemaufriss. Er beginnt mit einem Kapitel, dass den Stand der heutigen Kontroversen (Redaktionsschluss: April 2025) in knapper Form wiedergibt. Es zeigt die Mängel der „Arbeitsdefinition“ auf, die von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) verabschiedet und von der Bundesregierung mit ihren einschlägigen Beschlüssen zur verbindlichen Grundlage des heutigen Verständnisses gemacht wurde.

Die hier geleistete „Fokussierung auf ‚israelbezogenen Antisemitismus‘ schafft Unklarheit über die tatsächliche Verbreitung von Antisemitismus und Verwirrung bei seiner Bekämpfung“ (17) lautet das Resümee des Autors. Er wendet sich dann genau dieser Verbreitung in der BRD zu, die seit der Nachkriegszeit traditionell aus dem rechten und rechtsradikalen Lager gespeist wird und mittlerweile eine Verstärkung aus der migrantischen Szene – als Nachwirkung des Nahostkonflikts – erfährt. Diese neueren Tendenzen dürften aber nicht überbewertet werden und vor allem nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Antisemitismus ein genuin europäisches Produkt ist: als rassistisches Konzept mit der Durchsetzung der kapitalistischen Nationalstaaten im 19. Jahrhundert explizit in die Politik eingeführt, dabei auf die christliche Tradition der Judenfeindschaft des Mittelalters zurückgreifend und im 20. Jahrhundert durch den Faschismus, vor allem in Deutschland, aber auch anderswo, in die Radikalform eines Vertreibungs- und Ausrottungsprogramms überführt.

Man muss die hier propagierte Volkskunde, darauf legt der Autor Nachdruck, als Rassismus verstehen, also nicht als bloßes (Ab-)Qualifizieren von Äußerungen oder Handlungen eines Kollektivs, sondern als ein Urteil, das über die Menschen- bzw. Volksnatur gefällt wird und somit das unveränderliche Wesen der betreffenden Personen erfassen will – ursprünglich in einer streng biologistischen Fassung, heute, seitdem die „Rassenkunde“ durch den Nationalsozialismus diskreditiert ist, auch gerne mit kulturalistischen Elementen angereichert. Das dritte Kapitel thematisiert dazu den Antisemitismus im Blick auf den Rassismusbegriff und die verschiedenen Theorieansätze bzw. Definitionen. Das vierte Kapitel zeigt den Werdegang dieser rassistischen Konzeption vom Antijudaismus der Feudalepoche bis zur Judenemanzipation im modernen Nationalstaat und zu ihrer „exterminatorischen“ Zuspitzung im 20. Jahrhundert.

Deutsche Vergangenheitsbewältigung

Das umfangreichste fünfte Kapitel trägt die Überschrift „Die Bundesrepublik und die Last des Holocaust“ und verdeutlicht Hauptlinie und -anliegen von Auernheimers Argumentation: Der westdeutsche Staat habe die Untaten der Nazidiktatur, deren Nachfolge er ja antrat, zuerst verdrängt und dann mehr nolens als volens in einer Vergangenheitsbewältigung so aufgearbeitet, dass ein neuer geläuterter Nationalismus wieder möglich wurde. Das deckt sich mit anderen kritischen Analysen zur hochgelobten deutschen Erinnerungskultur, wie sie etwa von Rolf Gutte und Freerk Huisken (vgl. die Übersicht bei Johannes Schillo 2022) oder zuletzt von Daniel Marwecki (2024) vorgelegt wurden. Gutte und Huisken haben es auf die Formel „Alles bewältigt und nichts begriffen“ gebracht: Das Bekenntnis zur deutschen Schuld wurde nationales Pflichtprogramm, um zu beweisen, dass der Kriegsverlierer demokratisch geläutert ist. Gemäß der staatspolitischen Vorgabe erging ein Auftrag an die Pädagogik – und diese habe folglich „nicht aufgeklärte Faschismuskritiker, sondern deutsche Nationaldemokraten hervorgebracht“ (Gutte/Huisken 1997, 14).

Auch Marweckis Studie läuft darauf hinaus, dass mit der legendären „Stunde Null“ nach 1945 keine Absage an das Vorgängerregime erfolgte, die die westdeutsche Bevölkerung mit einer antifaschistischen und antirassistischen Aufklärung beglückt und die Jugend in diesem Geist erzogen hätte. „Das, was wir nach 1968 als ‚Aufarbeitung der Vergangenheit‘ oder ähnliches bezeichnen, spielte in der Nachkriegszeit, als Israel die Bundesrepublik so dringend brauchte, bekanntlich keine große Rolle“ (Marwecki 2024, 8). In dieser Zeit sponserte die BRD vielmehr den Staat Israel mit Wirtschafts- und dann vor allem Militärhilfe und wurde dafür von dessen Politikern nicht mit Vorwürfen in Sachen Holocaust behelligt – ein Tauschgeschäft eigener Art, dem sich Marweckis Publikation widmet.

Selbst die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), die im westdeutschen Staat als zentrale Agentur zur demokratischen Reeducation galt und gilt, lässt seit einiger Zeit ihre Geschichte aufarbeiten und dabei Zweifel an ihrem Charakter als antifaschistische Erziehungsinstanz zu Wort kommen. Vor allem die große, kritische Studie von Gudrun Hentges „Staat und politische Bildung“ (2013) hat die Einbindung der Behörde in die deutschnationale, völkische Tradition herausgearbeitet (vgl. das Resümee bei Schillo 2014). Und im September 2025 erfährt man in einer bpb-Publikation, dass die Gründung der Zentrale nicht den demokratischen Bruch mit der Vergangenheit bedeutete, sondern in der Tradition des „Heimatdienstes“ der Weimarer Zeit stand. Dieser war aus der Propaganda des Ersten Weltkriegs an der Heimatfront hervorgegangen und hatte sich gerade „nicht als ideeller Verteidiger demokratischer Werte hervorgetan“ (Schanetzky 2025, 28f): Der Bundeszentrale für Heimatdienst, wie sie zunächst hieß, wurde beim Neustart in der jungen BRD zuerst die Aufgabe einer „propagandistischen Zentrale“ zugewiesen, die gegen den Totalitarismus im Osten anzutreten habe, wobei die „Methoden der NS-Propaganda als effektiv (galten)“ und als Vorbild durchaus in Betracht gezogen wurden (ebd.). Als Mitarbeiter wurden konsequenterweise alte Nazis herangezogen. Die Studie von Hentges hat eine solche Kontinuität vielfach belegt. Und dass „man hier das Erbe des Goebbels‘schen Propagandaministeriums antrat, war den Protagonisten bewusst“ (Schillo 2014, 138).

Der geläuterte Nationalismus schlug dann nach der Wiedervereinigung teils mit seinen Schlussstrich-Forderungen (Walsers Paulskirchenrede, Augsteins Kritik am Holocaustmahnmal…) über die Stränge, führte aber im Endeffekt zu einem ritualisierten Gedenken, das die politische Klasse der BRD heutzutage professionell betreibt und das sie als bedingungsloser Bündnispartner des israelischen Staates von jedem rassistischen Makel freisprechen soll. Politisch wurde somit einer aufstrebenden europäischen Führungsmacht ihr Imageschaden (verantwortlich für ein „singuläres“ Menschheitsverbrechen!) repariert und auf der persönlichen Ebene eine Schuldabwehr ermöglicht, die gegenwärtig im Fremden – bevorzugt im von rechts problematisierten muslimischen Migranten – den „Importeur“, also den eigentlichen Urheber des Antisemitismus identifiziert. (Ein Exkurs Auernheimers geht auf die etwas anders gelagerte Instrumentalisierung der NS-Erinnerungskultur in der DDR ein.)

Einige kurze Kapitel zu „Stigmamanagement und Strategien der Schuldabwehr“, zur Unhaltbarkeit eines Generalverdachts gegenüber muslimischen Jugendlichen und zu den Aufgaben bzw. Schwierigkeiten politischer Bildung beschließen das Buch, die Überlegungen werden auch noch einmal in neun abschließenden Thesen auf den Punkt gebracht. Dabei fasst die Schlussthese das Bedenken gegenüber der unbedingten Israel-Solidarität, die zumindest bis zum Spätsommer 2025 Regierungsleitlinie der BRD ist, so zusammen: „Die vorbehaltlose Verteidigung der israelischen Besatzungspolitik und der genozidalen Kriegsführung, die Diskreditierung jeder Kritik als Antisemitismus, fördert die Straflosigkeit für Völkerrechtsbrüche und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und damit einen allgemeinen Rechtsnihilismus“. (134)

Von der Güte der deutschen Nation

Auernheimers Studie erhebt, wie gesagt, keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Bei dieser Materie wäre das auch ein hoffnungsloses Unterfangen. Sie gibt aber zahlreiche Literatur- und Quellenverweise, die weitergehende Information ermöglichen. Das neue Antisemitismuskonstrukt, das in der BRD quasi regierungsoffiziell Gültigkeit hat, destruiert die Studie treffend im Blick auf den angeblichen „Import“ aus arabischen oder muslimischen Ländern. Sie erinnert zum Beispiel daran, dass es in der muslimischen Welt des Mittelalters und der Neuzeit keinen genuinen Antisemitismus gab, dass dieser im Nahen Osten, von wenigen Ausnahmen abgesehen (siehe z.B. den Mufti von Jerusalem!), erst mit den neuen Nationalbewegungen, mit dem Konflikt um die israelische Staatsgründung und der Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aufkam.

Vielleicht hätte man hier auch noch die Variante des „linken Antisemitismus“ in den Blick nehmen können, die etwa vor dem Hamas-Massaker vom Oktober 2023 in der BRD eine gewisse Rolle gespielt hat. Dabei wurde – das Klischee vom jüdischen Selbsthass leistet da gute Dienste – der Jude Karl Marx wegen seines Aufsatzes „Zur Judenfrage“ als Antisemit geoutet. Eine üble Nachrede, zu der gerade Hannah Arendt, man muss sagen: wider besseres Wissen, maßgeblich beigetragen hat. In ihrer Totalitarismustheorie hat sie die Rede vom „linken Antisemitismus“ populär gemacht, wobei in der Sache der kleinbürgerliche Radikalismus gemeint ist und eben nicht die sozialistische Arbeiterbewegung, die mit dem Aufwerfen der Klassenfrage gerade den Antipoden zum bürgerlichen Räsonnement über die Rassenfrage bildete. (Siehe dazu auch bei IVA die Beiträge Marx – biographisch erschlossen? und Marx und der „linke Antisemitismus“.)

Auernheimer ordnet den Antisemitismus in den Rassismus ein, hält natürlich die Besonderheiten fest, die ihn mit seiner mehr als 1000jährigen (Vor-)Geschichte auszeichnen. Doch welcher Rassismus hat nicht seine besonderen Merkmale? Im Fall der Judenfeindschaft muss man deswegen nicht auf die These von der „Singularität“ des Holocaust verfallen – und ihr auch keinen exklusiven Status einräumen, der sie aus den allgemeinen antirassistischen Bemühungen ausklammert und etwa das Studium des jüdischen Lebens und seiner Tradition zur Pflicht macht oder die spezielle Religiosität mit ihren Übergängen in den politischen Fundamentalismus der Kritik entzieht. Strukturell ist ja der antijüdischer Rassismus gar nicht groß verschieden von einem antimuslimischen oder antislawischen.

An Letzteres muss man in Deutschland wohl besonders erinnern, denn der rassistische Vernichtungskrieg, den die deutsche Wehrmacht gegen Sowjetrussland führte und der 27 Millionen Menschen das Leben kostete, hat sich in die (west-)deutsche Erinnerungskultur nicht „eingebrannt“, wie Bundespräsident Steinmeier 2021 zum Gedenken an 80 Jahre „Unternehmen Barbarossa“ feststellte. Sechs Millionen tote Juden verpflichten uns Deutsche dagegen bedingungslos, einem Staat, in dem heute ein Teil der jüdischen Weltbevölkerung lebt, die Treue zu halten und dessen Bedrohungsgefühle zu teilen, wenn er sich etwa in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Rivalen Iran wendet. 27 Millionen Tote verpflichten die BRD dagegen zu überhaupt nichts. Und dass im Nachfolgestaat der Sowjetunion Deutschland heute als eine bedrohliche Macht empfunden wird, kann ein Politiker der hochgerüsteten BRD nur lachhaft finden.

Nachweise

Georg Auernheimer, Zweierlei Antisemitismus – Staatsräson vor universellen Menschenrechten? Köln 2025. (Siehe dazu auch den Podcast mit dem Autor bei 99zu1.)

Rolf Gutte/Freerk Huisken, Alles bewältigt, nichts begriffen! Nationalsozialismus im Unterricht – Eine Kritik der antifaschistischen Erziehung. Berlin 1997 (Neuausgabe: Hamburg 2007).

Gudrun Hentges, Staat und politische Bildung ‒ Von der „Zentrale für Heimatdienst“ zur Bundeszentrale für politische Bildung“. 2013 Wiesbaden.

Freerk Huisken, Der demokratische Schoß ist fruchtbar… Das Elend der Kritik am (Neo-)Faschismus. Hamburg 2012.

Daniel Marwecki, Absolution? Israel und die deutsche Staatsräson. Göttingen 2024.

Franz Schanetzky, Kleine Geschichte des Propaganda-Vorwurfs an die politische Bildung. Aus Politik und Zeitgeschichte, hg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Nr. 39, 2025, S. 28-34.

Johannes Schillo, Vom Heimatdienst zur politischen Bildung. In: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik (GWP), Heft 1/2014, S. 131-140. (Text auch im Netz abrufbar.)

Johannes Schillo, Ein nationaler Aufreger – Zur Kritik der Erinnerungskultur. Ulm 2022.


Back home nach dem Protest

Der heiße Herbst hielt sich bislang in Grenzen. Aus dem Kreis der IVA-Unterstützer waren einige Aktive unterwegs und beteiligten sich an Veranstaltungen der Friedensbewegung. Hier ein paar Rückblicke.

„Steht ein heißer Herbst des Protests gegen die allseitige Militarisierung bevor?“ Das hatte IVA im September gefragt und auf die kommenden Demos und Kundgebungen hingewiesen. IVA war hier mit dem Kooperationspartner „Sagt NEIN!“ unterwegs, machte aber auch eigene Angebote, verteilte z.B. ein Flugblatt zu den Militärübungen, die der Kriegsvorbereitung ‚gen Osten‘ sowie der Einstimmung der Bevölkerung auf diesen Kurs dienen. Nähere Informationen dazu finden sich unter Texte2025, und auf der IVA-Startseite ist weiterhin das Flugblatt „Wir betteln nicht um Frieden“ abrufbar.

Im Folgenden einige Rückblicke aus der Teilnehmerperspektive, persönlich gefärbt und ohne Anspruch einer abschließenden Bilanz: zunächst ein Fazit aus dem Kreis der NachDenkSeiten zum Berliner Großereignis im Oktober und zur Essener Demo, dann ein paar Streiflichter zu den Mahnwachen und Kundgebungen in Nörvenich, Uedem, Hamburg.

Nachdenkliches von einem Nachdenker

Hier mein kurz gefasstes Resümee der Demos gegen Kriegsplanung, Kriegsvorbereitung, Einführung der Wehrpflicht etc. in Berlin und Essen: Leute, so wird das nix! Bei den NachDenkSeiten wurde über die „große“ Demo in Berlin berichtet. Von 20.000 Teilnehmern war die Rede – die Polizei nannte 7.500. In der überregionalen Presse und den Leitmedien übrigens so gut wie nichts zu der Tatsache, dass zusammen mit der Stuttgarter Demo und weiteren lokalen Events in Deutschland Zehntausende auf der Straße waren. So gleichgeschaltet ist die hiesige Öffentlichkeit, auf die die Demonstrationen doch gerade setzen!

Meine Schätzung für Berlin beläuft sich auf 10.000. Aber selbst wenn man die doppelte Anzahl zu Grunde legt, zeigt das, wie schwach der Protest gegen Militarisierung und Kriegsvorbereitung in Deutschland (noch) ist. Die offizielle Propaganda funktioniert offenbar, denn die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung hat die Warnung vor der Kriegsgefahr, die durch „Puttiiin“ in die Welt gekommen sein soll, geschluckt. Auch wenn jetzt noch viele – gerade nach den Ansagen zur Wiedereinführung der Wehrpflicht – vor einem aktiven Kampfeinsatz zurückschrecken, ist doch die ungeheure Aufrüstung weitgehend akzeptiert, jedenfalls solange sie der Abschreckung und Verteidigung dient.

Was setzt die Friedensbewegung dagegen? Eine eindeutige Gegenposition? M. E. gibt es keine Einigkeit und Klarheit darüber, wer warum die Vorbereitungen für den Krieg gegen Russland verantwortet und betreibt, gegen wen man sich also zu wenden hat. Mir ist es auf jeden Fall schleierhaft, wie man einen Vertreter der Partei, die 2022 die „Zeitenwende“ ausgerufen und eine „rote Linie“ nach der anderen in der Eskalation gegen Russland überschritten hat, bei der Berliner Demo reden lassen kann. Die Rede ist von SPD-MdB Stegner, zu dessen dubioser Rolle im Rahmen des angeblich oppositionellen SPD-Manifests ja schon einige Kritik in der Friedensbewegung, z.B. von der gewerkschaftlichen Basisinitiative „Sagt NEIN!“, laut geworden ist.

Stegner wurde in Berlin sehr vorsichtig angekündigt und es gab zu Beginn ein paar vereinzelte Pfiffe. Aber mit Sprüchen wie „Ein schlechter Frieden ist besser als ein guter Krieg“ und dem Ruhrpott-Zitat „Eure Scheißkriege …“ kam er an. Er erntete viel Beifall zwischendrin – besonders bei der nationalistisch eingefärbten antiamerikanischen Kritik an der Stationierung der Tomahawk-Marschflugkörper in Deutschland – und wurde am Ende mit großem Applaus verabschiedet. Das war 1A-Wahlkampfwerbung für die SPD! (Und auch in Stuttgart durfte ein Vertreter der SPD sprechen, die sozialdemokratische Rentnerorganisationen hatte zum herbstlichen Protest aufgerufen.)

Unkritisiert konnte Stegner so seine Lügen und seine Russland-Hetze loswerden. „Wir“ sind die Friedenswilligen, „jetzt wollen auch die Europäer Friedensverhandlungen“. Nur zur Erinnerung: Trumps Friedensbemühungen, vorbei an allen europäischen Interessen, hatten panische Reaktionen bei den auf Weltmachtanspruch geeichten Europäern ausgelöst. Die EU beharrte bei jeder sich bietenden Gelegenheit diplomatisch darauf, dass Russland der unmenschliche, brutale Aggressor ist, der die Ukraine überfallen hat, um sie sich einzuverleiben. Und unterhalb eines Siegfriedens für die Ukraine akzeptiert das „Friedensprojekt Europa“ keine Lösung: Ukrainische Soldaten müssen also weiterhin für die EU ihr Leben lassen und das Land wird weiter umgepflügt . Es gab keine Pfiffe gegen Stegners Ankündigung: „Wir müssen die Ukraine weiterhin unterstützen“. Überhaupt benannte Stegner die Verantwortlichen für die Kriege, die er aktuell zur Kenntnis bringen wollte, ganz im Sinn der üblichen deutschen Feindbildpflege: Putin und die Hamas sind es! Bei der Aufzählung der begangenen Kriegsverbrechen durfte dann natürlich „Kindesentführung“ nicht fehlen. Wen hat er wohl damit als Kriegsverbrecher gebrandmarkt?

Bei der blamabel schwach besuchten Essener Demo gegen Kriegsplanung – es waren wahrscheinlich eher drei- als vierhundert Teilnehmer – hatte ich eine bezeichnende Diskussion. Sie zeigt, was für eine Kritik an Aufrüstung und Kriegsvorbereitung im Protest unterwegs ist: Das Kapital, so meine Gesprächspartner, will den Krieg und die Politiker sind die Marionetten; sie sind dem Rüstungskapital zu Diensten, da sie um ihre Karriere fürchten – sonst würden sie nämlich vom Kapital abgeschossen. Auf meine Nachfrage, woran man denn erkennt, dass das Kapital die Politiker im Griff hat, wurde der Fall Horst Köhler genannt, der damals seinen Posten als Bundespräsident aufgeben musste. Köhler wurde allerdings nicht vom Kapital abgesägt. Er nahm sich vielmehr die Kritik an seiner etwas forschen Aussage, dass die Freiheit in Afghanistan auch wegen der wirtschaftlichen Interessen Deutschlands verteidigt werden müsse, so zu Herzen, dass er abtrat.

Dass man einen völkerrechtswidrigen Kriegseinsatz mit nationalen Interessen rechtfertigt (natürlich immer in Verbindung mit „unseren Werten“), war damals nämlich noch nicht so eingebürgert wie heute. Köhler war so gesehen ein Pionier der Militarisierung. Ein Verteidigungsminister Guttenberg ließ ja auch erst nach rund zehn Jahren Afghanistan-Einsatz – umgangssprachlich – die Rede vom „Krieg“ zu. (Siehe „Tabu-Bruch Guttenberg spricht von Krieg in Afghanistan“.)

Eine solche Sichtweise von der Ohnmacht der Politiker – die für (große?) Teile der Friedensbewegung repräsentativ zu sein scheint – stellt die Machtverhältnisse und -befugnisse auf den Kopf. Tatsächlich verhält es sich doch so, um das Bild einmal mit ein paar ganz groben Strichen zurechtzurücken: Der Staat setzt mit seinen Agenten, den befugten Politikern, den Kapitalismus als das herrschende ökonomische System ein und durch, garantiert dessen Fortbestehen mit seiner Gewalt in Form von Polizei, Justiz und – nach außen – Militär. Ohne diese Gewalt wäre der Kapitalismus schnell am Ende. Diesen prinzipiellen Gewaltcharakter muss man natürlich ignorieren, wenn man sich an die Herrschenden mit der Bitte um Frieden wenden will. Vielleicht erklärt sich so, warum man einen Stegner SPD-Propaganda machen lässt.

Vor Ort bei den Militärs

„Rund 150 Menschen haben heute in Nörvenich bei Düren für einen Atomwaffenausstieg demonstriert. Auf einem Luftwaffenstützpunkt in Nörvenich sind Tornados und Eurofighters stationiert. ‚Wir wollen keine Atomwaffen‘, skandierten die Teilnehmer. Mehr als 30 Organisationen aus der Friedensbewegung hatten zu dem Protestzug aufgerufen. Hintergrund der Proteste ist die Teilnahme deutscher Kampfflugzeuge an einem Manöver zur Verteidigung des Bündnisgebietes mit Atomwaffen.“ Das ist die kurze Meldung des WDR vom 11. Oktober (wird auch noch mal in der Lokalzeit Aachen am 13. 10. aufgegriffen, im Kölner Stadt-Anzeiger mit einem Foto vom „die-in“ verziert, dort „Lyin“ genannt) – und, man muss es ehrlicherweise sagen, das ist die ganze öffentliche Resonanz auf diesen Protest „vor Ort“. Vor dem Flugplatz nur einige Polizeiwagen, hinter dem Maschendrahtzaun in sicherer Entfernung zwei bis drei Soldaten, eine halbe Stunde Fußmarsch auf einer kaum befahrenen Landstraße hin zum menschenleeren Städtchen, wo man dann auf einer Wiese namens Schlossplatz unter sich ist und knapp zwei Stunden lang beisammen sitzt.

Ja gut, man kommt ins Gespräch, auf dem Podium gibt es verschiedene Statements – von IPPNW, zu einer ähnlich gelagerten Aktion vor einem Militärstützpunkt in den Niederlanden, aus der evangelischen Friedensarbeit (wo man Hoffnung auf eine neue friedensethische Denkschrift der EKD setzt, die im November erscheinen soll) oder von den örtlichen Initiativen, die die Protestaktionen seit Jahren organisieren. Eine kurze Rede von „Sagt NEIN!“ macht auf die gewerkschaftliche Opposition gegen die DGB-Linie aufmerksam und erinnert u. a. daran, wie in der BRD kritische Stimmen mundtot gemacht werden. Dass Protest mit massiver Polizeigewalt platt gemacht wird, konnte man ja am 30. August in Köln erleben – wo „Sagt NEIN!“ den Demonstrationszug des Camps „Rheinmetall entwaffnen“ bis zum bitteren Ende begleitete. In Nörvenich dagegen sahen ein paar freundliche Polizeibeamte gelangweilt dem Event zu; hier mussten sie nicht einschreiten, da im Unterschied zu Köln keine Kriegsunwilligkeit in die Öffentlichkeit getragen wurde. Letztere fehlte nämlich, man war unter sich!

Das trifft sich mit dem, was ein Teilnehmer von der Uedem-Demo berichtet: Uedem heißt der tote Ort. Die am 3. Oktober dort durchgeführte Demo fand zunächst am NATO-Gefechtsstand für Nordeuropa zur Führung von Luftstreitkräften statt. Die NATO plant und koordiniert dort (laut Wikipedia) offensive, defensive und unterstützende Luftoperationen. Die Anfangskundgebung war am Eingangstor des Kriegsführungszentrums – abgesehen von der Polizei nur freies Feld. Trostlos! Wem will man da was zeigen? Dann ging’s zu Fuß in die Kleinstadt Uedem: Außer den vielleicht 200-300 Demonstranten war kaum jemand zu sehen. Wieder eine Kundgebung – wir praktisch alleine. Und von einem Widerhall in den ‚Qualitätsmedien‘ habe ich nichts gehört! Also, was bringt so etwas, frage ich mich wie auch einige Gesprächspartner? Eine Demo muss doch der Bevölkerung direkt sichtbar und soweit es geht über die Medien den Protest nahebringen! Dazu wären die beklagenswert wenigen Demoteilnehmer woanders nutzbringender aufgehoben gewesen.

NATO-Manöver „Red Storm Bravo“

Drei Tage lang wurde im Hamburger Hafen und in der Stadt Krieg unter realen Bedingungen geübt, und zwar beim NATO-Manöver „Red Storm Bravo“ Ende September. Allgemein ging es darum, die zivil-militärische Zusammenarbeit zu trainieren: in Hamburg als „Drehscheibe für die Nato“. Also landeten Soldaten gleich an der Elbe auf dem Airbus-Gelände, um von dort mit Barkassen in den Hamburger Hafen gebracht zu werden. Nachts fuhr eine etwa vier Kilometer lange Kolonne von Militärfahrzeugen durch das Stadtgebiet Richtung Osten; sowas muss man natürlich trainieren, um zuverlässig an die Ostfront Menschenmaterial zum Verschleiß zu liefern und dauerhaften Nachschub zu garantieren. Auch wurde eine Blockade von Demonstranten auf der Strecke des Konvois simuliert, um zu üben, wie Widerstand zu brechen ist. Der ins Auge gefasste Ernstfall erforderte zudem eine Übung bei der Agentur für Arbeit, die im Kriegsfall Arbeitskräfte in kriegswichtige Betriebe zwangsvermitteln soll.

Dagegen hatte sich ein Bündnis von verschiedenen Organisationen gebildet, auch die Linkspartei war dabei, seit dem Ukrainekrieg eher ein strikter Befürworter von Waffenlieferungen in den Stellvertreterkrieg, solange Maß gehalten wird. Natürlich mittendrin Gewerkschafter*innen von ver.di, von der Initiative „Sagt NEIN!“, von der IG Metall und von der Hamburger GEW, die sich gegen die Förderung der zivil-militärischen Zusammenarbeit wendet.

Erwartet hatten die Veranstalter 10.000 Demonstranten. Ernüchterndes Ergebnis bei der Ankunft vor Ort: Es waren erst 200 bis 300 Teilnehmer*innen am Treffpunkt versammelt. Redner*innen trugen ihre Beiträge vor und mit Verspätung setzte sich der Demonstrationszug von mittlerweile dann etwa 1.500 Menschen in Bewegung. Manche – wie die „Verantwortungspresse“ – reduzierten die Teilnehmerzahl auf „einige Hundert“, andere sprachen von 2.000. Martialisch für die relativ kleine Anzahl der Teilnehmer*innen: das Aufgebot der Staatsmacht mit einer überdimensionierten Anzahl von Mannschaftswagen. In jeder Seitenstraße auf der Route positionierte sich ein Polizeiwagen.

„JA zur zivilen Entfaltung des Lebens!“ war im Flugblatt des Aufrufs Ziviler Hafen zu lesen. Nur eine Anmerkung dazu: Hier den zivilen Betrieb hochzuhalten heißt allerdings auch, Ja zu sagen zu Arbeitsbedingungen, die durch miese Tarifabschlüssen zustande kommen, zu den Schäden, die Menschen mit und ohne Arbeit erleiden in Zeiten der Krise und Aufrüstung, wo exorbitante Preiserhöhungen für Lebensmittel stattfinden, wo der Reallohn von den Ausgaben fürs Allernötigste immer schneller aufgefressen wird, wo man sich um seinen Arbeitsplatz Sorgen machen muss usw. Es wurden erfreulicherweise auch Flugblätter verteilt, so von „Sagt NEIN!“, die den Zusammenhang von kapitalistischer Wirtschaftsordnung und Kriegsgefahr aufzeigten. Doch eins ist klar: Es müssen mehr werden…

Fazit

Ein Rückblick auf die Herbstaktionen im Gewerkschaftsforum hält zufrieden fest, dass in Berlin und Stuttgart Zehntausende den Protest auf die Straße getragen hätten: „Nun geht die Friedensbewegung mit ihren Partner:innen mit gestärktem Vertrauen weiter in einen heißen Herbst, um einen nuklearen Winter zu verhindern.“ IVA meint: Wir sollten uns keinen in die Tasche lügen. Jenseits aller Differenzen und Widersprüche, die sich bei den „fast 500 unterstützenden Organisationen, Initiativen und Gruppen“ zeigen und zu denen viel zu sagen wäre, muss man die banale Wahrheit festhalten, dass „die Öffentlichkeit“ gerade nicht erreicht wurde. Das elementare Ziel einer jeden Demonstration, sich öffentlich bemerkbar zu machen, wird von der Staatsgewalt und den Medien systematisch konterkariert. Zugelassen sind Begegnungen meist älterer, friedensbewegter Menschen, die sich gegenseitig ihrer Friedenshoffnungen versichern und dabei unter sich bleiben. Viel mehr nicht.

Renate Dillmann hat es in ihrem Beitrag „Und seid ihr nicht (kriegs-)willig, so brauch‘ ich Gewalt“ NachDenkSeiten auf den Punkt gebracht. Die Staatsgewalt schreitet ein, wenn organisierte und zur Organisierung aufrufende Kriegsunwilligkeit sich in einer Stadtöffentlichkeit – in diesem Fall der Kölner Innenstadt am 30. August – lautstark bemerkbar machen will. Da brauchen keine Pflastersteine zu fliegen oder Knallkörper zu explodieren, da weiß die Polizei sofort Bescheid: Das ist eine Störung der öffentlichen Ordnung, die mit aller Gewalt unterbunden werden muss.


Wir üben Krieg

Die Kriegsbereitschaft der Nation – das geht alle an! So die Ansage der Politik, die der Bevölkerung durch einschlägige Events, durch Militärmanöver und natürlich die (Leit-)Medien nahe gebracht wird. Doch der Protest ist noch nicht mundtot gemacht. Dazu eine Mitteilung der IVA-Redaktion.

Ob Atomkriegsvorbereitungen namens „Steadfast Noon“ am Flugplatz Nörvenich, eine umfassende NATO-Großübung „Red Storm Bravo“ im Hamburger Hafen oder die Konferenz des „Joint Air Power Competence“-Zentrums in der Essener Grugahalle, wo (so das Motto) die „Zukunft der Luftüberlegenheit” ins Auge gefasst wird – überall in Deutschland ist die Militarisierung der Zivilgesellschaft zu spüren und soll dort ja auch ankommen. Natürlich dient die deutsche Aufrüstung nur der Abschreckung alias Kriegsverhinderung, wie uns die Regierenden versichern…

Wer’s glaubt, wird selig. Wie bei der Essener Konferenz offen formuliert, geht es bei der Aufrüstung von Großmächten (und Deutschland will sich ja in und mit der EU zu einer militärischen Führungsmacht mausern) ganz klar darum, Überlegenheit über Konkurrenten zu erlangen. Deren Anstrengungen müssen zunichte gemacht, also ständig mit verbesserter Zerstörungskraft gekontert werden. Das heißt, Aufrüstung wird zum Dauerprogramm, das immer bessere Vernichtungskapazität zur Verfügung zu stellen hat, um dem Feind zuvorzukommen.

Und wer droht, muss natürlich glaubwürdig sein. Die Mittel und die Bereitschaft, den Krieg zu führen, müssen vorhanden sein. Wie wollte man sonst den ‚bösen Nachbarn‘, der bekanntlich den ‚Frömmsten nicht in Frieden leben‘ lässt, in seine Schranken weisen? Speziell einen „Neoimperialisten“ wie Putin, von dem jeder Deutsche dank der Dauerpropaganda aus Politik & Medien weiß, dass er nur die Sprache der Gewalt versteht. Und mit der wird er ja durchaus bekannt gemacht.

Die Staaten der NATO, des größten und mächtigsten Kriegsbündnisses aller Zeiten, haben dem Rest der Welt immer wieder klar gemacht, was sie unter Abschreckung verstehen. Mit Kriegen gegen unbotmäßige Regionalmächte wie Afghanistan (ab 2001), den Irak (1991 und 2003) bzw. Libyen (2011) oder der Zerschlagung Jugoslawiens 1999 haben sie praktisch ein Gewaltmonopol des Westens etabliert: Sie dürfen – Völkerrecht hin oder her – im Namen der „Menschenrechte“ oder der „regelbasierten Weltordnung“ Gewalt ausüben, Staaten zerschlagen, Regime auswechseln und Grenzen verändern – also all das, was anderen (Russland, China u.a.) untersagt ist. Selbstverständlich verteidigen sie dabei nur „unsere Werte“ bzw. unsere „freiheitliche Lebensweise“ gegen Angriffe.

Zurzeit sind es die europäischen Staaten, die einen wie auch immer gearteten Frieden in der Ukraine nicht hinnehmen wollen und die Bemühungen des US-Präsidenten torpedieren. Dem ist der Ukraine-Krieg lästig geworden, nachdem er 1. militärisch für den Westen nicht zu gewinnen ist, der US-Focus sich 2. mehr auf die Auseinandersetzung mit China richtet und 3. auf dem europäischen Kontinent ein aus US-Sicht nützlicher Konflikt etabliert wurde, an dem sich Russland und die deutsche EU – zwei wichtige Konkurrenten der USA – abarbeiten können. Das sehen die Euros inklusive Großbritannien notwendigerweise anders. Für sie ist dieser Krieg der Kampf um die kontinentale Vorherrschaft; falls Russland ihn „gewinnt“, d.h. seine Sicherheitsinteressen durchsetzt, würden ihre Ansprüche einen herben Rückschlag erleiden. Das können und wollen sie nicht hinnehmen: Das ist ihr Grund für die beschleunigte Aufrüstung und die Herstellung von „Kriegstüchtigkeit“ bis 2029 – und nicht ein „bösartiger“ Putin, der dann angeblich über „uns“ herfallen will.

Deutsche Medien: Feindbildpflege auf allen Kanälen

Dafür, dass ein solches Bedrohungsgefühl immer weiter zunimmt, sorgen Politiker und Militärs mit ihren Ansagen und Manövern, aber natürlich auch und vor allem die Leitmedien, die Gewehr bei Fuß stehen. Das, was sie Tag für Tag produzieren, ist gediegene Feindbildpflege in Richtung Osten, wo „das Böse“ haust. Währenddessen sind wir als „die Guten“ in unserer Gutwilligkeit vielfach herausgefordert, „müssen“ uns in allerlei Händel auf dem Globus einmischen, notfalls mit nackter Gewalt. Die Parteinahme für die Anliegen der eigenen Nation – das ist das Erste, was deutscher Qualitätsjournalismus oder massenmediale Volksbetreuung ihrem Publikum mitzuteilen haben. Und dabei können die Journalisten auf eine patriotische Gesinnung setzen, die leider auch diejenigen an den Tag legen, die nicht zu den Profiteuren des Kapitalstandorts D gehören.

Hier zeigt sich gerade die Leistung der deutschen Gewerkschaften, ihr konstruktiver Beitrag zum sozialen Frieden: Alle sind von den ausgreifenden Interessen und Wachstumsbedürfnissen des Standorts abhängig gemacht und wollen deshalb seinen Erfolg, nicht zuletzt in der Staatenkonkurrenz. Auch die Lohnabhängigen sind dafür zu Opfern bereit – mit dem Verschleiß im Arbeitsleben und, bei Bedarf, mit dem krönenden Abschluss eines Heldentodes auf dem Schlachtfeld.

Wer bei der aktuellen Mobilisierung aus der Reihe tanzt, muss sich vorsehen (denn im Fall des Falles droht „Jobverlust wegen Antikriegsprotest“). Von den Medien als einer „kontrollierenden Instanz“ ist hier nicht viel zu erwarten. Der Kölner Protest gegen Aufrüstung am 30.8., der von der Polizei mit brutaler Gewalt platt gemacht wurde, war der deutschen Presse zum Beispiel keinen Aufschrei Wert (anders als ähnliche Vorgänge in Moskau, Peking oder Teheran). Hier wurde der Friedensbewegung eine Lektion erteilt: Kriegsunwilligkeit hat in der deutschen Öffentlichkeit nichts mehr verloren – auch nicht am Antikriegstag, den der DGB seit Jahrzehnten begeht und in diesem Jahr besonders ‚rüstungsnah‘ gestaltete. Doch auch hier gab und gibt es Protest, der Nein sagt zur DGB-Linie.

Wir sagen NEIN

So legt die gewerkschaftliche Basisinitiative „Sagt NEIN! Gewerkschafter:innen gegen Krieg, Militarismus und Burgfrieden“ entschiedenen Einspruch gegen den Kurs der Kriegsvorbereitung ein, der leider in der deutschen Arbeitervertretung bisher keinen ernsthaften Widerstand erfährt. „Sagt NEIN!“ fordert stattdessen vom DGB und seinen Mitgliedsgewerkschaften einen klaren Bruch mit dem derzeit eingeschlagenen Burgfriedenskurs.

Die Devise der Neinsager lautet: Aufrüstung und Krieg sind nicht in unserem Interesse! Also, nicht um Frieden betteln, sondern Kriegsunwilligkeit organisieren. Lasst euch nicht länger für den Dienst am Vaterland vereinnahmen. Kriegsunwillige aller Länder vereinigt euch!

IVA unterstützt die Gewerkschaftsinitiative „Sagt NEIN!“, die auch zum Protest gegen die aktuellen Militärübungen aufruft. IVA hat zu einer Veranstaltung mit Renate Dillmann am 9. Oktober in Aachen (siehe unter IVA/Termine), die der Protestaktion in Nörvenich anlässlich von „Steadfast Noon“ vorausgeht, ein Flugblatt vorgelegt, das auf der Startseite zum Download zur Verfügung steht.


September

Jobverlust wegen Antikriegsprotest

Ein Arbeitgeber trumpft auf, Gewerkschafter solidarisieren sich mit einem Kollegen und im Hintergrund lauert wieder der Antisemitismus-Verdacht. Ein Statement zum Fall Christopher T. von Georg Auernheimer.

Ein DHL-Frachtarbeiter und Verdi-Vertrauensmann am Leipziger Flughafen hat nach einer antimilitaristischen Rede seinen Job verloren: Christopher T. hatte sich am 23. August 2025 nach seiner Schicht am Flughafen Leipzig/Halle am Protestmarsch »March to Airport«, der sich gegen Waffenlieferungen an Israel richtete, beteiligt und eine Rede gegen Kriegsvorbereitung und Rüstungsexporte, auch im Namen seiner Kollegen, gehalten. Wie die Junge Welt jetzt meldet, wurde er am 11. September freigestellt, am 23. September folgte die außerordentliche fristlose Kündigung. Zahlreiche Kollegen und Kolleginnen habe sich mittlerweile mit Christopher T. solidarisch erklärt; auch die gewerkschaftliche Basisinitiative „Sagt NEIN!“ aus der Verdi-Opposition unterstützt ihn.

Und jetzt hat Univ.-Prof. i. R. Dr. Georg Auernheimer – als Erziehungswissenschaftler lange Jahre mit Fragen der interkulturellen Pädagogik befasst – ein Statement zu dem Fall abgegeben, gewissermaßen in Fortsetzung seiner Streitschrift „Zweierlei Antisemitismus“, die kürzlich erschienen ist. Wie IVA anlässlich der neuen Proteste in Sachen Gazakrieg berichtete, wendet sich Auernheimers Schrift gegen den neuen Kampfbegriff „Antisemitismus“. Im Overton-Interview sprach der Autor davon, dass es in Deutschland zu „grotesken Zensurmaßnahmen und Verboten“ komme, wenn man gegen den israelischen Vernichtungskrieg in Gaza protestiere. Dagegen sei festzuhalten: „Kritik an israelischer Politik hat mit Antisemitismus nichts, aber auch gar nichts zu tun“. IVA veröffentlicht hier das neue Statement.

Ein Statement aus gegebenem Anlass

Die Kündigung von Christopher T. muss die Gewerkschaft auf den Plan rufen. Denn sie hat nach meinem Verständnis nicht nur die sozialen Interessen und arbeitsrechtlichen Belange ihrer Mitglieder zu vertreten, sondern sollte auch deren bürgerlichen Rechte und Freiheiten schützen. Für die Gewerkschaft von hohem Interesse ist dabei die Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Und die sehe ich mit der Kündigung von Christopher bestritten.

Es mag sein, dass das Unternehmen mit dem, was Christopher auf der Kundgebung gesagt hat, seine Geschäftsinteressen berührt sieht. Aber alles spricht im Kontext der bundesdeutschen Israelpolitik und der sie begleitenden Meinungsmache dafür, dass die Kündigung primär politisch motiviert ist.

Die juristische Bewertung ist nicht meine Sache. Nur so viel: Dass Rheinmetall zu den Kunden von DHL zählt, kann sich jeder ausrechnen, der etwas informiert ist und weiß, dass über den DHL-Hub Leipzig Rüstungsgüter exportiert werden. Der Vorwurf, Christopher habe Betriebsgeheimnisse verraten, ist also meines Erachtens abwegig. Auch den eventuellen Vorwurf, mit dem Bekenntnis, er habe „schon Pakete von Rheinmetall in der Hand gehabt, so was will man nicht befördern“, habe er den Betriebsfrieden gefährdet, ist nicht haltbar. Denn die Formulierung „so was will man nicht befördern“ ist als allgemeine ethische Überlegung zu lesen, nicht als Aufforderung an die Kolleg*innen.

Meines Erachtens soll mit der Kündigung der Widerstand oder genauer Protest gegen die Waffentransporte an Israel, eine politische Handlung also, geahndet werden. Das fügt sich ein in die bestimmende politische Agenda. Jeder Protest gegen die genozidale Kriegsführung der rechtsextremen Regierung Israels wird als Antisemitismus diffamiert. Das geht so weit, dass selbst Juden und Jüdinnen, die sich von Israel und dem Zentralrat der Juden in Deutschland nicht vertreten sehen, eine antisemitische Gesinnung unterstellt wird.

Der Wahnsinn hat damit begonnen, dass die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), ein ursprünglich auf eine Privatinitiative zurückgehender Zusammenschluss von 34 Staaten (einschließlich Israel), der keinesfalls die Weltgemeinschaft repräsentiert, ein völlig neues Verständnis von Antisemitismus propagiert hat. Die Umdeutung, mit der grundlegende Kritik an israelischer Politik zu Antisemitismus erklärt wird, wurde von den europäischen Regierungen und den USA übernommen, was eine Verfolgungspraxis zu Folge hat, die fast dem hysterischen Antikommunismus der McCarthy-Ära in den USA vergleichbar ist.

Eine unternehmerische Sanktionspraxis wie im Fall Christopher T. kann die Gewerkschaft nicht kalt lassen. Sie muss der Tendenz zu politischer Relegation, und sei auch nur begründeter Verdacht auf ein politische Motiv gegeben, Einhalt gebieten. Sonst besteht die Gefahr zunehmender Einschränkung politischer Handlungsmöglichkeiten.


Zum Protest in Sachen Gaza

Zu den Protestaktivitäten, auf die IVA hingewiesen hat, gehören auch die aktuellen Veranstaltungen zum Gazakrieg. Hierzu gibt es ein neues Flugblatt von Rudolf Netzsch.

„All eyes on Gaza” (Alle Augen auf Gaza) heißt es am 27. September in Berlin, wo ein breites Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen zur Teilnahme an einer Kundgebung aufruft und wo eine Demonstration unter dem Titel „Zusammen für Gaza“ stattfinden soll. Dazu gibt es jetzt auch ein Flugblatt von Rudolf Netzsch (siehe die Website: www.rudi-netzsch.de ).

Ein paar Gedanken zu Krieg und Frieden im Allgemeinen und zu Israel im Besonderen

Was ist Frieden? Betrachtet man die Geschichte der – sagen wir einmal – letzten dreihundert Jahre, so kann man zum Schluss kommen: Frieden, das sind die Zeiten, in denen Kriegsgründe geschaffen werden.

Klingt sarkastisch. Vielleicht fragt mancher jetzt irritiert: Soll uns das denn davon abhalten, für den Frieden einzutreten, Verhandlungen zu fordern? Klar, Krieg ist furchtbar, und seine Beendigung zu fordern deshalb nicht verkehrt. Nur sollte man darauf achten, in der Argumentation nicht zu kurz zu greifen. Wer bloß ganz allgemein Verhandlungen als die bessere Alternative benennt, verpasst das Entscheidende. Sehen wir uns einmal an, worüber unter Außenpolitikern verhandelt wird. Da drängt sich die Antwort auf: über Kriegsgründe! Denn es ist doch auffällig:

  • Jedem Krieg gehen Verhandlungen voraus.
  • Jeder Krieg wird durch Verhandlungen beendet.
  • Bei allen Verhandlungen stehen die militärische Stärke und Position der Verhandlungspartner – zumindest als der redensartliche Elefant – im Raum.
  • Während des Kriegs ist es üblich, militärische Ziele so zu bestimmen, dass sie einen mög­lichst guten Ausgangspunkt für eventuelle Verhandlungen bieten.

Friedliche Verhandlungen und kriegerische Feldzüge sind also engstens miteinander verzahnt. Die entscheidende Frage ist daher: Was sind die Gründe, die die Staaten ständig zueinander in Gegner­schaft bringen, so dass sie immer wieder streiten, zunächst in Verhandlungen und vor interna­tio­na­len Insti­tu­tio­nen, aber am Ende auch auf den Kriegsschauplätzen? Geht es um die berühmten „Werte“? Nun ja, mit Blick darauf, wie selektiv dieses Argument gebraucht wird, glauben wohl nur wenige wirklich fest daran – und doch greifen fast alle gern darauf zurück, wenn es darum geht, die eigene Parteinahme zu begründen. Deutlich plausibler ist da schon der Hinweis auf wirt­schaft­liche Inter­essen, auch wenn mancher sich scheut, das direkt auszusprechen.

Denn es ist die Wirtschaft, durch die die Staaten untereinander in Abhängigkeiten geraten: Sie be­nö­tigen und benutzen sich wechselseitig als Rohstofflieferanten, Absatzmärkte und Arbeitskräf­te­reservoir und das führt unweigerlich zu Konflikten. Frei­lich ist das nicht so zu verstehen, dass jeder Staat, der sich irgendwie von einem anderen wirt­schaft­lich benachteiligt fühlt, gleich zu den Waffen greift. Da befände sich längst jedes Land im Krieg mit jedem anderen. Viel­mehr wird erst einmal „friedlich schiedlich“ um möglichst günstige Zugriffsbe­din­gungen auf Reich­tum und Ressourcen der anderen Nationen gefeilscht. Alle Staaten treten als Betreuer ihres jeweiligen nationalen Kapi­tal­standorts auf und werden so zu Konkurrenten am kapita­listischen Weltmarkt­, der in­zwi­schen – nach dem Abdanken des sozialistischen Blocks – tatsächlich „global“ geworden ist. Der Ost­block versuchte, sich dem zu entziehen, und wurde totgerüstet. Jetzt sind alle Staaten kapita­lis­tisch ver­fasst und nehmen an der Weltmarktkonkurrenz so gut sie können teil, um nicht zum Verlierer zu werden, was Konse­quen­zen hätte bis hin zum Absturz als „failed state“. In dieser Konkurrenz wird vor allem die Stärke als Wirt­schafts­standort – aber auch als Militär­macht! – in Anschlag gebracht. Da spürt jeder Staat schnell die Begrenztheit seiner eigenen Mög­lich­keiten und versucht, sich mit anderen zu Bündnissen zusam­menzuschließen. Das Ergebnis ist bekannt: Die ganze Welt teilt sich zunehmend in „Blöcke“ auf, die gegen­einander „geostra­te­gi­sche“ Interessen verfolgen.

Das ist ein durch und durch ungemütlicher Zustand, denn alle kleineren oder größeren Spannungen innerhalb oder auch zwischen kleineren und mittleren Staaten, werden von den Großmächten – sofern die sie nicht ohnehin geschürt haben – instrumentalisiert, um den Einflussbereich des eigenen Blocks zu erweitern. So kommt es immerzu zu den bekannten Stellvertreterkriegen, die, eben weil die Groß­mäch­te dahinterstecken, stets ein Spiel mit dem Feuer, sprich dem atomaren Weltkrieg, darstellen. Was ist also der Grund für diese ständig kriegsträchtige Situation? Es ist die kapitalistische Gesellschaftsordnung, die zwangsläufig und gesetzmäßig zu diesem Zustand führt. Fazit: Wer den Kapitalismus nicht kritisieren will, der sollte vom Frieden schweigen.

Zu Israel

Ja, es ist offenkundig: Israel begeht in Gaza einen Völkermord. Israel bewegt sich damit und auch durch eine Unzahl weiterer Kriegsverbrechen nicht nur in Gaza außerhalb dessen, was die deutsche Regierung ohne Glaubwürdigkeit zu verlieren, gutheißen kann. Dennoch liefert Deutschland weiter Waffen und finanzielle Hilfen an Israel.

Wie passt das zusammen?

Es liegt an der Rolle, die Israel für den als Westen bezeichneten Staatenblock spielt – und zwar nicht erst seit Kurzem, sondern schon seit der Staatsgründung. Diese erfolgte in den Anfangs­jahren des Kalten Kriegs und hatte zum Ziel, einen verlässlichen westlich orientierten Staat in der wegen des Erdöls strategisch wichtigen Nahost-Region aufzubauen. Kurz nach der Auflösung des Ost­blocks erschienen dann der iranische Gottesstaat und islamistische Terrororganisationen als neue, mithilfe Israels unter Kontrolle zu haltende Störfaktoren. Die zionistischen Gründer Israels und ihre politi­schen Nachfolger übernahmen gern diese ihnen zugedachte Funktion, wurden ihnen doch deshalb enorme materielle Hilfen zuteil und damit der Aufbau einer wirtschaftlich und militärisch den um­ge­benden Ländern weit überlegenen Staatsmacht ermöglicht. Israel nutzte das als Grundlage für sein zionistisches Programm, womit die USA und ihre europäischen Verbündeten kein Problem hatten, gehörte es doch zum offiziell verkündeten Gründungsmythos.

Allerdings tat sich da bald ein Wider­spruch zur Funktion als westlicher Vorposten auf: Durch ihre kriegerischen Gebietserweite­run­gen mit der als Nakba bekannten Vertreibung brachte die israelische Politik eher Unruhe in die Region, als sie wie gewünscht zu stabilisieren. Dennoch ließen die imperialistischen Schutzmächte das geschehen, blieb doch das entscheidende Ziel, nämlich den Zugriff erst des Ostblocks und später des Irans auf die Region abzuwehren, weiterhin gewahrt. Israel wurde deshalb weiter unterstützt, auch dann noch, als es in den besetzten Gebieten auf Landraub gegründeten Siedlungsbau, ein Apartheids­regime und weitere Formen der Unterdrückung der Palästinenser etablierte. Das alles lag zwar nicht direkt im Sinne der USA und der Europäer, aber sie sahen darüber hinweg, weil Israel als impe­ria­listischer Brückenkopf in der Region für sie strategisch so wichtig war und ist.

Mag sein, dass der Zionismus in seiner ursprünglichen Fassung ein friedliches Zusammenleben zwi­schen Juden und Arabern vorsah; mit der zunehmenden Stärke ihres Staats kamen jedoch er­höh­te Ansprüche bei den zionistischen Politikern und Teilen der Bevölkerung auf: Es wurde mehr und mehr zum Ziel, Israel mitsamt seinen besetzten Gebieten zu einem rein jüdischen Staat zu machen, also die Palästinenser loszuwerden. Nach dem Terror-Überfall der Hamas bot sich eine Gelegen­heit, große Schritte in diese Richtung voran zu kommen. Auf welche Weise, das ist täglich den Nachrichten zu entnehmen.

Aber das alles ändert nichts an der strategischen Bedeutung deretwegen Israel von den West­mächten unterstützt wird. Das ist der Grund, warum unsere Politiker so herumeiern: einerseits ihre vollmundigen Erklä­rungen zum Völkerrecht, andererseits die geostrategischen Erwägungen. Es ist das imperialistische Kalkül, das hier die Politik bestimmt.


Klimawandel und Weltkriegslage

IVA hat auf die Protestaktivitäten hingewiesen, die in diesem Herbst als Ausdruck von – mehr oder weniger entschiedener – Kriegsunwilligkeit anstehen. Eine Sonderstellung nimmt hier der Klimastreik der „Fridays for Future“ ein. Dazu ein Flugblatt von Rudolf Netzsch.

Die „Fridays for Future“ rufen wie berichtet – ausnahmsweise – an einem Samstag, nämlich dem 20. September, zu einem deutschlandweiten Klimastreik auf. „Es ist hart, in diesen Zeiten, in dieser Welt“, wo „die Politik immer mehr Klimaschutzmaßnahmen abwürgt“, heißt es in der Ankündigung. Dabei ist man vor allem darum bemüht, den Schwung, den man 2019ff verspürte, wiederzufinden, und beklagt sich über die Untätigkeit der Politik. Dass die nicht einfach nichts fürs Klima tut, sondern mit Kriegen und Kriegsvorbereitungen tatkräftig für weitere unabsehbare Schäden sorgt, wird dabei vornehm verschwiegen. Rudolf Netzsch (Website: www.rudi-netzsch.de), der mit seiner Streitschrift zum Klimaprotest schon auf IVA vorgestellt wurde, hat dazu ein Flugblatt veröffentlicht, das hier dokumentiert wird. Interessenten können es sich von der genannten Website direkt herunterladen. (Der Autor ist auch in einem Videopodcast zur Kritik der Klimabewegung bei 99zu1 aufgetreten: https://www.youtube.com/watch?v=yLw4j9RZcfs )

„Es gibt viele Planeten, aber nur eine Wirtschaft!”

witzelte einmal das Satiremagazin „Der Postillon“ – und traf damit ins Schwarze.

Denn was ist es, was die Politik daran hindert, sich an den Klimazielen zu orientieren? Genau: die Rücksicht auf die Wirtschaft. Das ist natürlich verrückt, denn wenn der Planet keine Lebensgrund­lage für die menschliche Gesellschaft mehr bietet, dann ist auch Schluss mit der Wirtschaft. Diese Haltung ist allerdings nur logische Konsequenz daraus, dass sich die gesamte Gesellschaft in ihrem Handeln von der Wirtschaft mit ihren Konjunkturen bestimmen lässt. Dabei ist doch die Wirtschaft nichts Anderes als die Gesamtheit der Produktion und Vertei­lung von Gütern, so dass man erwarten würde, dass sie von den Menschen für ihre Zwecke eingerichtet und gestaltet wird.

Es ist eine merkwürdige Verkehrung – über die sich allerdings kaum mehr jemand wundert –, dass hier das Mittel zum Leben zu einem selbstständigen Subjekt wird, dem sich die ganze Gesell­schaft unterordnet. „Die Wirtschaft“ wird zu einer eigenen, anonymen Wesenheit, die von den Wenigsten verstanden, von allen aber mit ihren kon­junk­turellen Höhen und Tiefen gleichsam als Schicksals­macht hingenommen wird.

Die Wirtschaft wird zu einem Herrscher, der in geradezu diktatorischer Weise das ge­sam­te ge­sell­schaft­liche Leben bestimmt. So sind ganze Heerscharen von Statistikern damit be­schäftigt, die Fieberkurven der Wirtschaftskonjunkturen zu erstellen, und diese sind dann der Maß­stab, der als unerbittliche Vorgabe für staatliches Handeln fungiert. Unsere Politiker, quer durch alle Parteien, kennen keine schlimmere Nachricht, als dass das Wirtschaftswachstum „einzubrechen“ dro­he. Dem gegenzusteuern rechtfertigt für sie jede Schandtat. Das geht regelmäßig nicht nur auf Kosten von Umwelt und Klima, sondern auch der kleinen Leute. Denn die Reichen, also die, an die man denkt, wenn von „der Wirtschaft“ die Rede ist, dürfen nicht „belastet“ werden, um die Kon­junk­tur nicht zu gefährden. So wird regelmäßig und ganz beiläufig dementiert, dass das Wirt­schafts­wachstum etwas wäre, was den Normalbürgern zugute kommt.

So wahnsinnig es ist: Statt den eigenen materiellen Lebensprozess bewusst zu gestalten, sind die menschlichen Gesellschaften – mittlerweile weltweit – so verfasst, dass sie von ihren eigenen Wer­ken getrieben und gehetzt werden, auch wenn sie damit wissentlich ihrem Untergang entgegen­gehen. Der Wirtschaft dienen heißt: ihr Wachstum fördern, auch wenn seit dem Club of Rome klar ist, dass die dafür akzeptablen Grenzen längst über­schritten sind. Es gilt, gute Bedingungen für das Wachstum zu schaffen. Das führt zu begehrlichen Blicken auf das Ausland, denn dort befinden sich fürs Wachstum benötigte Absatzmärkte, Rohstoffquellen und Arbeitskräfte-Reserven. Dumm nur, dass die auswärtigen Herrscher ihrerseits ganz ähnliche Ziele verfolgen. So kommen sie sich regel­mäßig in die Quere, machen sich gegenseitig ihre Geschäfte streitig. Bei den so entstehenden stän­di­gen Querelen kann sich der am besten durchsetzen, der über die stärkste Wirtschaftsmacht ver­fügt. So wird das Wirtschaftswachstum zu einem Zwang, dem eine Tendenz zur Selbstverstärkung innewohnt; es heißt für alle Nationen: mitmachen oder verlieren.

Es bestehen Abhängigkeiten zwischen den Staaten, indem der eine hat, was der andere braucht, und die werden umgehend als Hebel für allerlei große und kleine Erpressungen ausgenutzt. Kurz: Es eröffnet sich das weite Feld der Diplomatie, die – wie schon Clausewitz wusste – ihre Fortsetzung im Krieg findet.

Freilich ist es nicht so, dass jeder Staat, der sich irgendwie von einem anderen wirt­schaft­lich benach­teiligt fühlt, gleich zu den Waffen greift. Da befände sich längst jedes Land im Krieg mit jedem anderen. Aber als „letzte“ Option steht es dennoch immer im Raum. Erst einmal wird „friedlich-schiedlich“ um möglichst günstige Zugriffsbe­din­gungen auf Reich­tum und Ressourcen der anderen Nationen gefeilscht. Alle Staaten treten dabei als Betreuer ihres jeweiligen nationalen Kapi­tal­standorts auf und werden so zu Konkurrenten am kapita­listischen Weltmarkt­, der in­zwi­schen – nach dem Abdanken des sozialistischen Blocks – tatsächlich „global“ geworden ist. Der Ost­block versuchte, sich dem zu entziehen und wurde totgerüstet. Jetzt sind alle Staaten kapita­lis­tisch ver­fasst und nehmen an der Weltmarktkonkurrenz so gut sie können teil, um nicht zum Verlierer zu werden, was in unserer „regelbasierten“ Weltordnung Konse­quen­zen hätte bis hin zum Absturz als „failed state“.

In dieser Konkurrenz wird vor allem die Stärke als Wirt­schafts­standort – aber auch als Militär­macht! – in Anschlag gebracht. Da spürt jeder Staat schnell die Begrenztheit seiner eigenen Mög­lich­keiten und versucht, sich mit anderen zu Bündnissen zusam­men zu schließen. Das Ergebnis ist bekannt: Die ganze Welt teilt sich zunehmend in Blöcke auf, die gegen­einander „geostra­te­gi­sche“ Interessen verfolgen.

Das ist es, um was es in den heutigen militärischen Auseinandersetzungen geht: die Sicherung geo­pol­i­tischer Einflusszonen. Da entscheidet sich u.a., welcher Staat bloß Rohstoffe liefern darf, und in wessen Machtbereich damit dann tatsächlich Reichtum produziert wird, der der weiteren Festigung der nationalen Stärke dient. Reine Eroberungskriege, wie zu Zeiten von Dschingis Khan und Alexander, wären heute dysfunktional, denn um Einfluss über fremdes Land zu gewinnen, ist es nicht mehr nötig, es dem eigenen Herrschaftsgebiet einzuverleiben. Um Bedrohungen gegen den jeweils als Feind definierten Staat aufzubauen, genügt es, in dessen Nachbarschaft Verbündete zu haben, auf deren Gebiet eigene Raketen und Militärbasen stationiert werden können. Wo Grenz­ver­schie­bun­gen angestrebt werden, bleiben diese als Frontbegradigungen oder Brückenköpfe dem geostrate­gischen Kalkül untergeordnet. Dennoch wird für Propagandazwecke gern die Idee von Eroberungs­kriegen beschworen, man denke nur an die Rede vom „imperialistischen Expansions­drang“ Russ­lands. Da liegt eine Vorstellung von „Imperialismus“ zugrunde, die im Vergleich zu dem, was Imperialismus heute ist, fast schon ein wenig romantisch anmutet.

Und wenn man solche Reden für einen Augenblick gelten lassen wollte, so ergäbe sich nur Un­ge­reimtes: Angenommen, es gäbe tatsächlich diese russischen „Expansionsgelüste“ – wie sollte daraus folgen, dass Deutschland zur stärksten konventionellen Militärmacht in Europa werden müsste, wo doch das geeinte Europa bereits jetzt über ein Vielfaches der militärischen Schlagkraft verfügt, die nötig wäre, um so etwas abzuwehren? Der Grund, warum Merz die Bundeswehr zur stärksten Armee Europas ausbauen will, ist ein anderer. Es geht um die geopolitische Stellung der Nation: nämlich um weltweiten Einfluss mittels der vereinten Stärke Europas – aber so, dass davon in erster Linie Deutschland profitiert, das deshalb seine Dominanz innerhalb der EU auch militärisch unter­füttern will.

Und was folgt daraus?

Wer sich politisch mit seiner Nation identifiziert, muss sich auch klar darüber sein, dass alle ande­ren Staaten der Welt dieselben einander wechselseitig in die Quere kommenden Prinzi­pien verfol­gen, was dazu führt, dass das Klima in der Politik letztlich keine Rolle spielt, und dass er zudem auf den „Ernstfall“ gefasst sein muss, für den er bereits jetzt als Kanonenfutter oder ziviler Kolla­teral­schaden verplant wird.

Man kann sich auch auf die Beobachterposition zurückziehen und fragen, was wohl eher kommen wird: der Klimakollaps oder der Dritte Weltkrieg? – Wollen wir darüber eine Wette abschließen? Der Gewinner darf den Preis im Grab entgegennehmen. Einen anderen Gedanken zu fassen, bedarf offenbar einer gewissen Anstrengung – so jedenfalls lautet eine Parole, die auf den Klima-Demos manchmal zu lesen ist:

„Es ist leichter, sich das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus“


„Nicht um Frieden betteln!“

Steht ein heißer Herbst des Protests gegen die allseitige Militarisierung bevor? Die Initiative „Sagt NEIN!“ dringt jedenfalls darauf, dass etwas in Bewegung kommt. Dazu ein Kommentar von Johannes Schillo.

Die Staatsgewalt hat der Friedensbewegung am 30. August in Köln eine Lektion erteilt, was sich der Protest gegen das neue Leitbild Kriegstüchtigkeit leisten darf und was nicht. „Und seid ihr nicht (kriegs-)willig, so brauch‘ ich Gewalt“, charakterisierte Renate Dillmann auf den NachDenkSeiten das blutig herbeigeknüppelte Lernziel. Noch darf man aber demonstrieren und für den Herbst ist eine Reihe von Demonstrationen, Aktionen und Kundgebungen angekündigt, die sich direkt oder indirekt gegen die aktuelle Vorherrschaft der Militärlogik und die daraus folgende Verwüstung des Globus wenden.

Protestansagen

Selbst die „Fridays for Future“ sind wieder aus der Vergangenheit aufgetaucht und mobilisieren – ausnahmsweise – an einem Samstag, nämlich dem 20. September, für einen deutschlandweiten Klimastreik. „Es ist hart, in diesen Zeiten, in dieser Welt“, wo „die Politik immer mehr Klimaschutzmaßnahmen abwürgt“, heißt es in der Ankündigung. Dass die Politik nicht einfach nichts fürs Klima tut, sondern mit Kriegen und Kriegsvorbereitungen tatkräftig für unabsehbare Schäden sorgt, wird dabei vornehm verschwiegen. Beklagt wird vor allem, dass den freitäglichen Events von früher der Schwung (neudeutsch: das Momentum) abhanden gekommen ist; aber es sei „wichtiger, dabei zu bleiben, wenn das Momentum eben nicht da ist“. Vielleicht wäre es nur noch wichtiger, sich einmal über den damaligen Rückenwind, den man aus der großen Politik verspürte, Rechenschaft abzulegen – kritische Angebote dazu gibt es in der Gegenöffentlichkeit glücklicherweise noch (siehe z.B. „Wie Deutschland das Klima rettet“.

„All eyes on Gaza” (Alle Augen auf Gaza) heißt es dann am Samstag, dem 27. September, in Berlin. Ein breites Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen, darunter vorneweg das „Netzwerk Friedenskooperative“, ruft zur Teilnahme an einer Kundgebung auf; dem wird eine Demonstration vorausgehen, die ebenfalls von einem breiten Bündnis unter dem Titel „Zusammen für Gaza“ organisiert wird. Zu dessen Forderungen gehört der staatliche Schutz der „Rechte auf Meinungs-, Versammlungs- und Wissenschaftsfreiheit in Deutschland“ – also der Rechte, zu denen in Köln jüngst die Klarstellung der Staatsgewalt erfolgte: Sie dürfen nicht dazu dienen, einen organisierten und auf Organisierung bedachten Unwillen gegen die Vorhaben der Regierung lautstark in die Öffentlichkeit zu tragen. In der Sache trifft die Forderung natürlich einen entscheidenden Punkt. Georg Auernheimer, der jüngst eine Publikation zum neuen Kampfbegriff „Antisemitismus“ vorgelegt hat, spricht im Overton-Interview davon, dass es in Deutschland zu „grotesken Zensurmaßnahmen und Verboten“ komme, wenn man gegen den israelischen Vernichtungskrieg in Gaza protestiere, und hält dagegen: „Kritik an israelischer Politik, hat mit Antisemitismus nichts, aber auch gar nichts zu tun“.

Nach einer ersten Friedenskundgebung am Samstag, dem 13. September, zu der unter anderem die BSW-Kovorsitzende Sahra Wagenknecht aufgerufen hatte und die laut Angaben der Veranstalter 22.000 Teilnehmer in Berlin versammeln konnte, laufen dort jetzt die Vorbereitungen für die große bundesweite Demonstration am 3. Oktober (parallel wird eine Veranstaltung in Stuttgart stattfinden). Dazu wird unter der Losung „Nie wieder kriegstüchtig! Stehen wir auf für Frieden!“ aufgerufen. Erarbeitet wurde der Aufruf im Rahmen eines Bündnisses, dem die Initiative „Nie wieder Krieg – Die Waffen nieder!“, aber auch die DFG-VK, das „Netzwerk Friedenskooperative“ oder die katholische Friedensorganisation „Pax Christi“ angehören. Den Wortlaut des Aufrufs sowie weitere Erklärungen aus der Friedensbewegung findet man auf der Website des Gewerkschaftsforums.

Als vorläufiger Abschluss der Aktionen im Herbst wird dann am Samstag, dem 11. Oktober, in Nörvenich bei Düren eine Protestaktion gegen die nukleare Teilhabe der BRD folgen. Wie unter IVA/Termine mit den genaueren Angaben aufgeführt, stehen ein Besuch des Luftwaffenstützpunkts und eine Kundgebung unter der Losung „NATO-Atomkriegsmanöver 2025 stoppen!“ an. Die Initiative „Sagt NEIN!“, an der sich IVA beteiligt, unterstützt die geplanten Aktionen im Oktober und wird dabei ihre eigenen Positionen einbringen.

Antimilitarismus

„Sagt NEIN! Gewerkschafter:innen gegen Krieg, Militarismus und Burgfrieden“ ist eine gewerkschaftlichen Basisinitiative, die sich gegen den Kurs des DGB bei der Unterstützung der bundesdeutschen Militarisierung und gegen die zweifelhafte gewerkschaftliche Tradition einer Aufrechterhaltung des sozialen Friedens wendet – eben eines „Burgfriedens“, wie ihn die nationalen Führungen der europäischen Arbeiterbewegung bei ihrem letalen Übergang ins Zeitalter des Imperialismus vor gut 100 Jahren praktizierten.

„Wir sagen Nein zu allen Kriegen und lehnen die gefährliche Hochrüstung ab.“ So beginnt der Aufruf zur Friedensdemo am 3.10. und „Sagt NEIN!“ sagt hierzu JA, verbindet diese Unterstützung aber gleich mit Nachfragen, vor allem: a) wem sagt man b) damit was? Eine solche Klärung sei besonders dringlich angesichts des breiten Forderungskatalogs von „Dialogfähigkeit“, „Abrüstung für Soziales, Klima und Entwicklung“ oder „Entspannungspolitik für Europa“, wie er sich im Berliner Aufruf findet.

a) Adressiert man damit, fragt z.B. „Sagt NEIN“, die regierenden Kriegstreiber? Erwartet man von ihnen ernsthaft, dass sie auf die Sorgen der Bevölkerung eingehen? Soll hier eine Vertrauensbildung für abweichende Positionen im Regierungslager (siehe das Manifest der SPD-Dissidenten, zu dem sich „Sagt NEIN!“ kritisch geäußert hat) stattfinden? Oder das Vertrauen in die UN-Charta, die bei den Gewaltaffären der Staatenlenker Erlaubtes von Verbotenem trennt, als Wertehimmel der heutigen Weltkriegslage gestärkt werden? Was soll man unter der Forderung nach einer neuen Politik verstehen, „die die Friedens- und Sicherheitsinteressen aller Beteiligten berücksichtigt“? Wird hier einer Sicherheitspolitik, die sich als Verteidigung vorstellig macht, der Segen erteilt?

b) Aus gewerkschaftlichem Blickwinkel stellt sich dann die Frage, ob mit dem Berliner Aufruf wirklich der nationale Konsens aufgekündigt wird, also der soziale Frieden, der die Grundlage für das deutsche Hochrüstungsprojekt darstellt und der zur Zeit durch die angesagten Sozialkürzungen auf die Probe gestellt wird? Wie ist die Forderung nach „Verteidigung der Demokratie“ zu verstehen? Ist der Ausschluss von „demokratiefeindlichen Kräften“ aus der Protestbewegung so gemeint, dass das Extremismuskonzept des deutschen Staatsschutzes übernommen wird?

„Sagt NEIN!“ hat dazu jetzt ein eigenes Flugblatt vorgelegt, das unter der Überschrift „Nicht um Frieden betteln. Auf zur Meuterei!“ steht. Darin heißt es: „Es ist hohe Zeit vom Betteln um Frieden zur Meuterei zu kommen! ‚Meuterei‘ – das klingt groß. Aber was heißt das eigentlich? Es heißt: Sand ins Getriebe der Kriegsmaschine.“ Damit wird Antimilitarismus als der eigene Standpunkt benannt, also eine konsequente Wendung gegen die Kriegsvorbereitung, die in der Friedensbewegung oft in idealistischen, wohlmeinenden Anträgen an die Herrschenden untergeht. Was sich im gewerkschaftlichen Rahmen tut, wie etwa ein „revolutionärer Defätismus“ heute in Gang zu setzen wäre, kann man z.B. in den letzten Neuigkeiten der Initiative nachlesen.

Antikapitalismus

Die zweite Konsequenz, auf die „Sagt NEIN!“ beim Protest Wert legt, ist der Antikapitalismus. Andreas Buderus, einer der Initiatoren der Initiative, hat jetzt in der Jungen Welt dargelegt, wie er die gegenwärtige Krisenlage des globalen Kapitalismus – in Anlehnung an Lenins Diagnose vom „finalen Stadium“ – versteht, und damit auch Punkte angesprochen, die in der Initiative kontrovers diskutiert werden (siehe die Debatte im Kölner Workshop am 27. August, dokumentiert bei 99zu1). Deutlich wird in der Veröffentlichung aber auch der Konsens: Erstens, von einem Verschwinden der Arbeiterklasse kann keine Rede sein, auch wenn heutzutage eine Arbeiterbewegung fehlt und sich kein Proletariat dem „System“ entgegenstellt; es handelt sich immer noch um eine Klassengesellschaft, die auf der Ausbeutung der Arbeiter beruht; deren Mobilisierung bleibt der einzige Ausweg „gesellschaftlicher Entwicklung und möglicher Perspektive auf Befreiung und planetares Überleben“. Zweitens: Eine Reorganisation dieser Produktionsweise, etwa im Sinne einer sozialökologischen Wende, die den „fossilen“ Kapitalismus samt seinen Verwüstungen überwindet, oder der Etablierung eines neuen Steuerungsmodus in Richtung sozialer Gerechtigkeit und friedlichen Zusammenlebens der Völker, ist eine Illusion. Eine Täuschung, die leider in der Friedensbewegung allerorten anzutreffen ist, wenn etwa, wie jetzt wieder in Berlin am 3.10., eine Politik gefordert wird, „die die Friedens- und Sicherheitsinteressen aller Beteiligten berücksichtigt“.

Buderus war auch zusammen mit Dillmann auf der Zimmerwalder Konferenz 2025 vertreten, zu der die „United Front gegen Faschismus, Krieg und Umweltzerstörung“ im September eingeladen hatte. Er lenkte das Augenmerk auf den Übergang, den der Staat bei seiner Standortbetreuung den nationalen Dienstkräften abverlange: Das neoliberale Versprechen „Wenn du dich anstrengst, geht’s dir gut“, werde durch das Kommando „Funktioniere oder geh unter“ ersetzt. Dillmann kam auf die kapitalistische Grundlage der heutigen Weltkriegslage zu sprechen, fokussierte dabei auf die Haltung des Fußvolks, das sich eben nicht durch „Meuterei“, bestenfalls durch besorgtes Nachfragen, ob das alles gut gehen mag, auszeichnet: „Dass die Nutznießer der Nation – wirtschaftliche und politische Eliten – für dieses Land und seinen Erfolg sind, ist nicht weiter verwunderlich. Aber auch die vom Lohn Abhängigen behandeln ihre erzwungene Abhängigkeit, die sie sich ja nicht ausgesucht haben, mit der sie aber zurechtkommen müssen und wollen, wie einen guten Grund, für dieses Land zu sein, wünschen ihm (und vermeintlich damit auch sich) deshalb Erfolg – und sind deshalb bereit, für dieses Land einzutreten, mit Abstrichen am Lebensstandard, die schon jetzt ohne größere Proteste hingenommen werden, und zur Not auch mit ihrem Leben.“ Diese patriotische Grundstimmung der Bevölkerungsmehrheit müssten kritische Initiativen entschieden ins Visier nehmen.

Das allgemeine Mitmachertum angesichts eines drohenden (Atom-)Kriegs war übrigens zentrales Thema bei der Tagung „Krieg und Frieden“, die die „Neue Gesellschaft für Psychologie“ im Frühjahr 2025 veranstaltete und jetzt in einem Tagungsband (siehe die Vorstellung im socialnet) dokumentiert hat. Hier gab es ein breites, teils widersprüchliches Spektrum an (tiefen-)psychologischen Versuchen, die Staatstreue der arbeitenden Menschen zu erklären – also derjenigen, die gerade nicht zu den Profiteuren der Wirtschaftsordnung gehören und trotzdem bereit sind, bis zum bitteren Ende auf dem Schlachtfeld ihren Dienst zu leisten. Freerk Huisken lieferte hierzu einen Beitrag, der ohne Rückgriff auf spezielle Psycho-Techniken auskam, die angeblich manipulativ oder sonstwie klandestin ins Unbewusste der Massen eingreifen; er dekonstruierte vielmehr die gängigen Legitimationen über Abschreckung und Verteidigung, die oben und unten geteilt werden.

Der Schlussteil seines Beitrag ging dabei auch auf die Fragen ein, die „Sagt NEIN!“ beschäftigen: „Worin liegt denn nun die Kriegsträchtigkeit der herrschenden Friedensordnung begründet? Wie erklärt sich, dass Staaten in letzter Konsequenz ihre Konkurrenz kriegerisch austragen?“ Huisken nimmt ebenfalls die kapitalistische Konkurrenzgesellschaft in den Blick, die die Grundlage für die außenpolitischen Affären bildet; sie werde aber erst durch ihren staatlichen Betreuer – nicht allein in Krisenlagen, sondern bedingt durch die Gegensätze, die der Normalbetrieb systemgemäß hervorbringt – in die Konfrontationen bugsiert, die dann zu militärischer Eskalation führen. Der „eigentliche Wille“ von Staaten sei eben nicht die Herstellung von friedlichen Verhältnissen, was leider durch einzelne, aus der gültigen, d.h. US-dominierten Weltordnung ausscherende Störenfriede immer wieder konterkariert werde. Der staatliche Wille buchstabiere sich vielmehr so: „Souveränität über Land und Leute nach innen sichern und nach außen ausbauen – im Frieden und im Krieg per Verteidigung und per Angriff“.

Nachweise

Georg Auernheimer, Zweierlei Antisemitismus – Staatsräson vor universellen Menschenrechten? Köln (PapyRossa) 2025.

Klaus-Jürgen Bruder/Almuth Bruder-Bezzel et al. (Hg.), Militarisierung der Gesellschaft – Von der Glückssüchtigkeit zur Kriegsbereitschaft. Wien (Promedia ) 2025.

Andreas Buderus, Reale Barbarei – Warum es keine Reorganisation des Kapitalismus gibt – und was droht, wenn wir das nicht zur Kenntnis nehmen. In. Junge Welt, 15.9.2025.

Freerk Huisken, Über den Frieden, der nicht ohne Krieg auskommt. In: Bruder et al., Militarisierung der Gesellschaft, S. 89-100.


Antikriegstage im Rheinland

Der traditionelle Antikriegstermin der Gewerkschaften hatte dieses Jahr sein ganz eigenes Gepräge – von brutaler Polizeigewalt bis zum Champagnerfrühstück mit der Rüstungsindustrie. Hier ein Streiflicht der IVA-Redaktion zu zwei rheinischen Events.

Der in der BRD vor rund 70 Jahre als gewerkschaftlicher Traditionstermin installierte Antikriegstag – nachdem die Remilitarisierung im Adenauer-Staat nicht zuletzt durch die Unterstützung der Gewerkschaftsführung ohne ernsthaften Widerstand über die Bühne gegangen war – hat seitdem seine wechselhafte Geschichte und zweifelhafte Tradition. IVA hat darauf anlässlich des diesjährigen Aufrufs des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) aufmerksam gemacht und in Verbindung mit der gewerkschaftlichen Basisinitiative „Sagt NEIN!“ zur Kölner Demo am 30. August aufgerufen.

IVA trägt die Initiative „Sagt NEIN! Gewerkschafter:innen gegen Krieg, Militarismus und Burgfrieden“ mit, die 2023 im Rahmen der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi entstand und inzwischen mehr als 28.000 Unterschriften für ihren Appell an die Gewerkschaftsmitglieder eingesammelt hat. „Sagt NEIN!“ ist kein Zusammenschluss oder Bündnis im eigentlichen Sinn, sondern ein Kreis von Unterstützern, die sich in allerlei Hinsicht unterscheiden, sich aber in einer Sache einig sind – dass nämlich ohne eine antimilitaristische und antikapitalistische Stoßrichtung der Antikriegsprotest eine pazifistische Illusion bleibt.

In diesem Sinne unterstützt die Basisinitiative alle einschlägigen gewerkschaftlichen Vorgänge, beteiligt sich am Protest gegen den „Burgfrieden“ und interveniert in öffentliche Kontroversen, wobei sie deutlich ihre eigenen Vorstellungen einbringt. So hat sie u.a. mit einem Workshop am Kölner Camp „Rheinmetall entwaffnen“ mitgewirkt und am Antikriegswochenende ihr Anti-DGB-Flugblatt in hoher Auflage verteilt.

„Und seid ihr nicht (kriegs-)willig, so brauch‘ ich Gewalt“

Was am Antikriegstagswochenende in Köln los war – brutale Polizeigewalt gegen eine kriegsunwillige Jugendbewegung – ist mittlerweile ausreichend dokumentiert, zumindest in der Gegenöffentlichkeit. Das muss man in dem Fall besonders hervorheben, denn die Leitmedien glänzten wieder einmal durch Meisterleistungen der Verlogenheit. Hier schloss man sich mehr oder weniger den offiziellen polizeilichen Verlautbarungen an. Demnach kam es wieder einmal bei einer Demo zu Gewalt und Ausschreitungen, so dass die Polizei einschreiten und die Versammlung auflösen, waffenähnliche Gegenstände beschlagnahmen sowie Personalien feststellen musste. Diese Floskeln der Beschönigung, die einem deutschen Journalisten natürlich bei einer Demonstration in Teheran oder Peking nie im Leben einfallen würden, hat Renate Dillman jetzt in ihrem Beitrag auf den NachDenkSeiten unter die Lupe genommen. Er trägt den Titel: „Und seid ihr nicht (kriegs-)willig, so brauch‘ ich Gewalt“ und fasst nicht nur zusammen, was vor Ort geschah (greift dafür auch auf Augenzeugenberichte zurück, die IVA veröffentlichte), sondern gibt zudem eine Einordnung dieses Vorgangs in den Militarisierungsschub, den die BRD derzeit – begleitet von der Schützenhilfe der Medien – erfährt.

Dillmanns Fazit lautet: „Deutschland – so die nationale Zielbestimmung – muss kriegstüchtig werden. Deutschland – so die nationale Selbstdarstellung – muss das tun, um sich als freiheitliches Land gegen ‚autoritäre Regime‘ behaupten zu können. ‚Kriegstüchtig‘ werden – dazu gehört neben der Beschaffung von Waffen und Soldaten ganz weit vorne in der Prioritätenliste: die Reihen im Innern zu schließen. Für den Kriegskurs muss eine neue nationale Einheit her, und wenn sie nicht da ist, wird sie erzwungen – im Namen der Freiheit selbstverständlich. Denn diejenigen, die nicht mitziehen, sind ja – das wusste schon Franz Josef Strauß – die Feinde der Freiheit.“

Die Autorin hält auch fest, dass dazu der bisher zugelassene und ziemlich funktionale Level von Kritik und Protest nicht mehr passt. Das ist ja die Lektion, die in Kölner nicht nur 3000 „radikalen“ Jugendlichen, sondern damit auch der ganzen Friedensbewegung in der Republik erteilt wurde. Erfreulicherweise hat das Kölner Friedensforum diese Kampfansage verstanden und sich nicht von der Parade des Camps distanziert. Am 1. September hat das Forum eine Presserklärung veröffentlicht, in der es heißt: „Wir sehen hier seitens des Innenministeriums, des Polizeistabes und der Einsatzleitung die Absicht, die Proteste für Frieden und gegen die massive Aufrüstungs- und Kriegspolitik der Bundesregierung zu kriminalisieren.“

Ausdrücklich vermerkt wird in dieser Erklärung auch die Irreführung der Öffentlichkeit, „dass nämlich von breiten Teilen der Medien ins Gegenteil verkehrt wird, was für uns, die wir diese Demonstration erlebt und mitgestaltet haben, erfahrbar war: Diese Demonstration ist nicht gestoppt worden, weil sie gewalttätig war, sondern weil sie in Opposition zur ‚Kriegstüchtigkeit‘ für den Frieden stand, sie ist gestoppt worden, obwohl sie friedlich war.“ Die Beleg dafür sind zahlreich, die Kölner DFG-VK hat z.B. weitere Augenzeugen zu Wort kommen lassen und Videoaufnahmen ins Netz gestellt, die Anwohner angefertigt haben. Sie zeigen – außer den einzelnen Grausamkeiten – eins: Das war keine Nacht-und Nebel-Aktion eines ausgerasteten Polizeitrupps, sondern alle Welt sollte sehen & einsehen, dass hier den Kriegsunwilligen im Lande die nötige Lektion erteilt wird.

„Highway to hell“

Einen besonderen Akzent zum Antikriegstag setzte derweil die Landeshauptstadt Düsseldorf, wie jetzt die Website Rätekommunismus berichtet. Unter der Überschrift „Highway to hell“ wird dort über den neuesten olivgrünen Kult der öffentlichen Bekenntnisse und Gelöbnisse informiert. Passender Weise wurde kurz nach dem Antikriegstag ein Großereignis vor dem Düsseldorfer Landtag gefeiert: 420 Rekruten durften das Gelöbnis „Ich schwöre, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen, so wahr mir Gott helfe“ ablegen. Das Gelöbnis war dabei der Höhepunkt einer fast zweistündigen Feier mit geladenem Publikum, wohlwollenden Zuschauern und einer kleinen Horde von lauten Kriegsgegnern, die über 100 Meter entfernt von der Festwiese ihrem Protest Ausdruck geben durften.

Die Website informiert aber vor allem über einen anderen bemerkenswerten Vorgang – über eine Konferenz der Rüstungsindustrie in Verbindung mit einem hochrangigen DGB-Vertreter, die genau am 1. September begann. Informationen dazu finden sich auch in der Jungen Welt vom 5. September. Im Hotel Maritim trafen sich führende Vertreter der Rüstungsindustrie mit Bundespolitikern und Gewerkschaftern auf Einladung des Handelsblattes. Laut Einladungstext ist die derzeit labile politische Situation ein Aufbruchssignal für die Rüstungsindustrie: „Die aktuellen sicherheitspolitischen Umbrüche und geopolitischen Spannungen führen zu milliardenschweren Investitionen in den Verteidigungssektor.“ Aber Geld ist nicht alles, so behauptet das Handelsblatt: „Für ein mögliches ‚olivgrünes Wirtschaftswunder‘ braucht es mehr als Geld: Entscheidend sind klare politische Leitlinien …“

Mittendrin war hier Jürgen Kerner, zweiter Vorsitzender der IG Metall. Ein Mann, der in Fragen Aufrüstung kein Blatt vor den Mund nimmt, sich aber auf Anfragen aus der Gewerkschaftsopposition zu seiner Teilnahme nicht äußern wollte. Eine kleine, aber lautstarke Gruppe der Gewerkschaftsinitiative „Sagt NEIN!“ begrüßte nämlich die Besucher der Konferenz. Sie wollte „die Kriegstreiber und -profiteure bei ihrem Festbankett in Düsseldorf nicht alleine“ lassen und verteilte dazu ihr Flugblatt „Kriegstreiber provozieren am Antikriegstag“. Per Megafon wurde den Konferenzteilnehmern mitgeteilt, dass so „der Militärisch-Industrielle-Digitale-Komplex auf seine ganz eigene und perverse Art den Antikriegstag“ feiert und die Teilnehmer sich „bei Champagner und Canapés zur weiteren Planung ihrer Kriege treffen“.

Natürlich ist klar, wie die Website Rätekommunismus festhält, dass Kriege in den Chefetagen der Politik geplant werden. Aber das Material hierzu liefert die Industrie und macht dabei schwindelerregende Gewinne – „Wie sagt man so schön: Eine Hand wäscht die andere!“. Und dass diese Gewinne eingefahren werden können, setzt gerade in schweren Zeiten einen sozialen Frieden voraus, der sich gewaschen hat. Dafür braucht man dann eine rücksichtslos national gesinnte Gewerkschaft. Die müssen Politik und Kapital in Deutschland nicht lange suchen. IG Metall-Kollege Kerner ist hier ein Musterexemplar. Bisher sind zwar keine Beiträge bekannt, die er auf der Düsseldorfer Konferenz gehalten hat. Aber vor wenigen Monaten kennzeichnete er seine Position so eindeutig, dass seine Teilnahme den Erfolg der Verhandlungen, zu denen sich die Reichen und Mächtigen trafen, bestimmt nicht gefährdet hat.

Gegenüber den Stuttgarter Nachrichten hat sich sich Kerner nämlich am 10. März in einem Interview so geäußert: „Wir merken momentan nur, dass wir für Abrüstungsdebatten keinen Ansatzpunkt finden, weil wir jetzt damit konfrontiert werden, dass wir uns erst einmal selber verteidigen müssen und feststellen, dass wir dazu nicht in der Lage sind, wenn die Amerikaner nicht mehr mitspielen… Wir fordern einen industriepolitischen Plan für die wehrtechnische Industrie. Wenn wir das aktuelle Sondervermögen mit den 100 Milliarden Euro anschauen, da fließt der größte Anteil nach Amerika, weil wir dort viele Rüstungsgüter kaufen. Weiterhin in den USA im großen Stil auf Einkaufstour zu gehen, selbst wenn der Präsident dort es will, wäre völlig kontraproduktiv.“

Tja, deutsche Gewerkschafter kümmern sich also nicht nur um den Aufwuchs einer deutschen Rüstungsindustrie, sondern auch darum, dass Rüstungsarbeiter in den USA ihre Arbeitsplätze verlieren…


Wie Protest platt gemacht wird

Ende August fand in Köln das Protestcamp „Rheinmetall entwaffnen“ statt, dessen Teilnehmer am 30.8. mit der Friedensbewegung vor Ort den Antikriegstag begehen wollten. Die Polizei aber machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Dazu eine Mitteilung der IVA-Redaktion.

Von August bis Oktober ist, wie IVA berichtete, eine Reihe von Protestaktionen gegen den deutschen Kurs der Aufrüstung und Kriegsvorbereitung geplant. Die Website IVA und ihre Unterstützer wirken in der gewerkschaftlichen Basisinitiative „Sagt NEIN! Gewerkschafter:innen gegen Krieg, Militarismus und Burgfrieden“ mit, die sich an den Aktionen beteiligt und dabei ihre eigenen Vorstellungen in den Protest der Friedensbewegung einbringt; sich z.B. dezidiert von der Befürwortung maßvoller Aufrüstung absetzt, wie sie der DGB im diesjährigen Aufruf zum Antikriegstag vorgegeben hat.

Protest zum Risiko machen

So beteiligte sich „Sagt NEIN!“ unter anderem mit einem eigenen Workshop an dem Protestcamp „Rheinmetall entwaffnen“, das vom 26. bis 31. August in Köln stattfinden sollte und zunächst von der Polizei verboten, dann aber last minute – nachdem alle in der Stadt von dem potenziell gewalttätigen Charakter der Zusammenkunft erfahren hatten – von der Justiz freigegeben wurde. Als Verdachtsgrund wurde von der Polizei z.B. allen Ernstes die auf der Vorbereitungskonferenz plakatierte Parole „Krieg dem Kriege“ (ein Tucholsky-Zitat) angeführt. Das zuständige Oberverwaltungsgericht ließ solche weit hergeholten Bedenken erst einmal nicht gelten.

„Sagt NEIN!“ konnte somit in Köln am 27. August seinen Workshop „Wer entwaffnet Rheinmetall…?! Von der Analyse zur Meuterei“ durchführen (näheren Informationen dazu finden sich bei IVA unter Termine, das gesamte Programm ist auf der Website des Camps einsehbar). Der Workshop versah die anspruchsvolle Entwaffnungs-Losung des Camps mit einigen Anfragen und machte auf den hiermit gegebenen Diskussions- und Aufklärungsbedarf aufmerksam. Die Diskussion ist in Teilen auf der Website von „Sagt NEIN!“ verfügbar und jetzt auch bei 99zu1 greifbar. Weiteres aus und zu dem Workshop soll demnächst folgen. Über 100, vor allem junge Teilnehmer kamen dort zusammen, wobei in der Diskussion klar wurde, dass es dringend notwendig ist, kritische Positionen zur stattfindenden Aufrüstung in die – von nationaler Parteilichkeit bestimmte – Öffentlichkeit zu tragen, z.B. in die Öffentlichkeit der Domstadt anlässlich des vom DGB traditionellerweise ausgerufenen Antikriegstags.

Das sollte am Samstag, dem 30. August, im Vorgriff auf den Traditionstermin am 1. September, in der Kölner Innenstadt geschehen. Gemeinsam mit der Friedensbewegung vor Ort waren eine Demo bzw. „Parade“, Kundgebungen und ein Abschlussprogramm geplant. Doch daraus wurde nichts. Die Kölner Polizei, die ja das Camp schon hatte verbieten lassen und erst durch den Beschluss des Münsteraner OVG dazu gezwungen wurde, die Durchführung zuzulassen, schlug wieder zu. Der Auftakt mit Reden aus der Friedensbewegung auf dem Kölner Heumarkt durfte gerade noch stattfinden, doch als die Demonstranten losgehen wollten, untersagte die Polizei das, verlangte die Einhaltung diverser Auflagen, verzögerte den Ab- bzw. Weitermarsch um Stunden und beendete dann nach stundenlanger Einkesselung den Demonstrationszug, an dem wohl zeitweise über 3000 Personen teilnahmen.

Der Chlodwigplatz und andere Stellen in der Stadt, wo Abschlusskundgebungen stattfinden sollten, wurde gar nicht mehr erreicht. Wer clever und ortskundig war, machte sich rechtzeitig aus dem Staub, bevor er stundenlang irgendwo in der Sommerhitze ausharren musste. Die Presse, so das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND)noch am selben Abend, wusste natürlich gleich Bescheid (wobei sich der WDR bei der Beurteilung um etwas mehr Ausgewogenheit bemühte, Express und Kölner Stadtanzeiger am 1.9. aber dem RND folgten). Es war laut RND zu den üblichen „gewaltsamen Auseinandersetzungen“ gekommen. „Die Versammlung des Bündnisses ‚Rheinmetall entwaffnen‘ sei am Samstagabend“, so wurden die Mitteilungen der Polizei übernommen, „nach Angriffen auf Beamte und wiederholten Verstößen gegen das Versammlungsrecht gestoppt worden“. Mittlerweile kann man in der linken Gegenöffentlichkeit (in der Jungen Welt, im Neuen Deutschland oder in Videoaufzeichnungen bei Youtube) Genaueres über den Ablauf der „Auseinandersetzungen“ erfahren. IVA will das hier nicht wiederholen, will aber einige Augenzeugenberichte von Personen, die den Demonstrationszug miterlebt haben, zugänglich machen. Die Berichte werden hier – natürlich als subjektive Statements (die juristische Auseinandersetzung wird auf einer anderen Ebene laufen) und anonymisiert – wiedergegeben.

Sonnabends vorm Antikriegstag

H & M: Wir waren fast pünktlich um 13.30 Uhr auf dem Kölner Heumarkt, wo die Kundgebung des Kölner Friedensbündnisses stattfinden sollte und in der Tat auch beginnen durfte – eingekreist und mit allerlei Gerätschaften beobachtet von einem martialisch, in verschiedenen Kampfmonturen verkleideten, teils auch vermummten Aufgebot der Polizei, mit Helmen, Funkgeräten, Auf- und Abmarschieren, Näherrücken und wieder auf Distanz gehen etc. Tausende Demonstranten, vor allem die jungen Leute aus dem Camp, verharrten diszipliniert, aufgestellt in Blocks oder mit Transparenten, riefen Parolen, hielten ihre Schilder hoch. Wir haben keinen einzigen gesehen, der vermummt war (außer einer etwas Hidschab-mäßig gekleideten jungen Frau) oder der mit aggressiven Posen auf die äußerst bedrohlich wirkende Polizei-Umkreisung reagiert hätte.

Dann begannen die Schikanen der Polizei, die den Abmarsch elend lang verzögerten (damit natürlich schon das ganze vorgesehene Programm in Frage stellten). Immer wieder kamen polizeiliche Durchsagen, erst müssten alle Metallstangen aus den Transparenten entfernt werden; dann ging es um Holzlatten; dann wurde ein Verbot von Vermummung ausgesprochen; dann wurde „Vermummung“ präzisiert – Kopfbedeckung mit Sonnenbrille (an einem heißen Sommertag sowieso eine Selbstverständlichkeit) in Verbindung etwa mit einem Halstuch, das den Mund bedeckt, fiel also schon unters Polizeiverbot. Wo wir standen, konnten wir die Durchsagen der Veranstalter nicht verstehen, nur die bollernden Aufrufe der Polizei. Die jungen Leute warteten erstaunlich geduldig. Die Deeskalationsspezialisten (die das Camp zahlreich organisiert hatte) erklärten auf Nachfrage, die Polizei habe wieder da und dort etwas Unzulässiges entdeckt. Aber gleich ginge es los! Sie bemühten sich also erkennbar um Deeskalation.

Dann durften wir sogar losmarschieren. In den zwei Stunden, in denen wir etwa die Hälfte der geplanten Demonstrationsstrecke bewältigten, kam es aber immer wieder zum Stillstand – eine halbe Stunde warten, wieder ein paar Meter gehen, begleitet auf beiden Seiten von den Trupps in Kampfmontur. Diese kamen mal näher, inspizierten hier und da, gingen wieder auf Distanz, stellten sich mal in Einfahrten, mal an die Bordsteinkante, holten Verstärkung hinzu, gingen auf und ab, beobachteten die Demonstranten, die in keiner Weise aggressiv reagierten. Am Ende erlebten wir dann, wie ein Greiftrupp der Polizei in einen der Blocks hinter uns eindrang, anscheinend um irgendjemand abzuführen. Die Deeskalationsspezialisten rieten uns als alten Leuten, besser weiter nach vorne zu gehen, wo wir von den Hotspots entfernt wären. Dabei gingen wir ein ganzes Stück vor den „radikalen“ Blocks, die die Polizei vor allem auf dem Kieker hatte, und bekamen nur am Rande mit, dass dort schon das eine oder andere ‚los war‘. Als wir im „Sagt NEIN!“-Block noch darüber diskutierten, ob wir uns durch das Absetzen nicht unsolidarisch zeigen würden, ging es weiter – und wir erreichten endlich das Rheinufer.

Dort wieder ein riesiges Aufgebot an Polizeitrupps und -fahrzeugen. Gerade am Rhein angekommen, herrschte dann wieder Stillstand. Die Clownstruppe, die mit lustigem Marschschritt hinter einer Polizeimannschaft hinterherdackelte, wurde von den Polizisten aggressiv angegangen. Wir riefen laut dazwischen, um andere Leute darauf aufmerksam zu machen. Das ging noch einmal gut. Aber hinter uns rückten dann Polizisten immer näher an den Demozug, ein Block wurde ins Visier genommen, dort zündete jemand einen Rauchtopf oder ein bengalisches Feuer und die Polizei schlug zu, so weit wir das erkennen konnten. Wir waren bedient, nach geschlagenen vier Stunden in der Hitze und noch weit entfernt vom Zielort machten wir uns auf und konnten, während uns auf der Rheinuferstraße eine Kolonne von Einsatzkräften mit Blaulicht entgegen kam, der Einkesselung entgehen. Das Glück hatten andere, wie wir später erfuhren, nicht.

Zu unserem persönlichen Hintergrund: Wir beide sind über 70, haben seit den legendären 1960er Jahren, seit den damaligen Ostermärschen und dem nachfolgenden antiautoritären Protest, als uns das Einhalten der polizeilich vorgegebenen Routen zu doof wurde, viel an Demos und Polizeigewalt erlebt. Unvergessen 1968 der Sternmarsch in Bonn gegen die Aufnahme der Notstandsgesetze ins Grundgesetz, als wir die beschauliche Kleinstadt am Rhein besetzten, aber auch wieder brav abmarschierten (was uns damals aufregte, dass nämlich die Demokratie mit Notstandsrecht regiert, wurde übrigens 50 Jahre später von den Querdenkern entdeckt, die dann bescheuerterweise mit dem Grundgesetz in der Hand bei ihren Demos auftraten). Seit dem Jahr 2022 sind wir wieder zu Ostermärschen und Friedensdemos gegangen – meist friedliche Rentnertreffs, wenn man nicht gerade von ukrainischen oder proisraelischen Nationalhelden provoziert wurde. Erfreulich, dass langsam auch jüngere Leute zusammenkommen, um wie jetzt etwa auf dem Kölner Camp darüber zu beratschlagen, was sie vom neuen Kurs der Kriegsvorbereitung zu halten haben. Und erfreulich, dass sie wie der damalige Protestsänger Bob Dylan zu dem Schluss kommen: „It ain’t me, babe, no no no“. Also: ich bin’s nicht, Tussi, der eure Kriege führt, macht euren Scheiß doch alleine o.s.ä. Bei so viel Ohnemicheltum muss natürlich die Polizei einschreiten, bevor sich die irregeleiteten jungen Menschen der Kriegsertüchtigung komplett entziehen.Und wenn sie sich nicht gleich mit Gewalt widersetzen, muss man diese eben provozieren und herbeiprügeln. Köln war dafür ein Lehrstück.

Ein unvergessliches Erlebnis

XY: Ich war zusammen mit den Leuten von „Sagt NEIN!“ auf der Demo. Als nach vier Stunden am Rheinufer die ersten ausstiegen, blieb ich dabei, dachte, es geht sowieso zum Chlodwigplatz, also Richtung Zuhause, und der größte Stress ist überstanden. Doch das war ein Irrtum, jetzt ging es erst richtig los. All die Dinge, die H & M beschrieben haben, eskalierten in einer Weise, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Wir bogen, nachdem der Trubel am Rheinufer sich gelegt hatte, endlich in eine Seitenstraße Richtung Innenstadt. Doch dann kam wieder ein Stopp. Der Demozug wurde hinten und vorne von der Polizei abgeriegelt und so blieb es die ganze Zeit. Wir waren relativ an der Spitze, bekamen zunächst von der großen Menge, die hinter uns marschierte, nicht viel mit, nah dran waren wir an einem „roten“ Block, den die Polizei wohl von Anfang an im Visier hatte. Dann rückten Polizisten auf beiden Straßenseiten vor, in voller Kampfmontur, teils schon mit Helmen und vermummt, standen uns hautnah gegenüber, stellten sich auf die Bordsteinkante uns gegenüber, reagierten auf keine Ansprache oder Nachfrage, was hier geplant sei und warum es nicht weitergehe. Dann im Block hinter uns Geschrei, bei allen Uniformierten Helme runter, Trupps drangen in den Demozug ein, ein riesiger Tumult, Polizisten sprangen auf einen hinteren Demo-Wagen, der anscheinend als Störfall ausgemacht war (angeblich mit „waffenähnlichen“ Gegenständen bestückt, wie man nachher aus der Presse erfuhr), schlugen zu, griffen sich Leute, es gab Verletzte, Sanitäter tauchten auf, wurden teilweise an Hilfe gehindert, teils wurden blutverschmierte Demonstranten weggetragen. Das war keine Reaktion auf Unruhe oder Tumult im Zug, sondern ein organisierter „Überfall“. Der ganze hintere Teil der Demo war eingekesselt, die enge Straße dafür natürlich ideal. Der Lautsprecherwagen, der vorne die Demo anführte, rief verzweifelt die Polizei dazu auf, zu deeskalieren und einen Ansprechpartner zu benennen: Es gebe nur das Interesse, die Demo zum Kundgebungsort zu bringen. Wir überlegten uns, ob wir die Möglichkeit nutzen sollten, uns nach vorne aus der engen Straße zu verkrümeln, entschieden uns dann aber dafür, zu bleiben und den hinteren Teil der Demo nicht allein zu lassen. So bildeten wir auch einen Kessel um die Polizisten, die dann aber für Nachschub sorgten und auch wieder vorne vor dem Demowagen auftauchten.

Das Ganze stagnierte, die beklemmende Lage dauerte Stunden, bis kurz vor 21 Uhr (die hinten Eingekesselten mussten dann noch bis in die frühen Morgenstunden ausharren, wie wir später erfuhren). Es war unerträglich: Hitze, Durst, Lärm. Und es standen keine Toiletten zur Verfügung. Vom vorderen Demo-Wagen wurden alle juristischen Möglichkeiten durchgespielt, es wurde nach Polizeiverantwortlichen gerufen; da angeblich kein Ansprechpartner mehr zur Verfügung stand, wurde um die Nennung neuer Zuständiger gebeten. Die Versammlung wurde von den Veranstaltern aufgelöst und eine neue angemeldet – alles verzweifelte Versuche, so wie ich das verstanden habe, um aus der unerträglichen Situation herauszukommen. Die Demoleitung bat spätestens bei Einbruch der Dunkelheit nur noch darum, die Leute nachhause und zurück zum Camp gehen zu lassen. Keine Reaktion der Verantwortlichen, in der Ferne dagegen neue Mannschaftswagen, die mit Blaulicht heranrückten, immer neue Uniformierte tauchten auf. Wie gesagt, gegen 21 Uhr dann der Aufruf der Polizei, die Demonstranten sollten das Gelände verlassen, wer bliebe, würde festgenommen oder bis zur Überprüfung festgesetzt. So entkam ich mit Mühe und Not dem Desaster.

Was knapp drei Stunden lang in der engen Straße lief, krieg ich nicht mehr alles auf die Reihe. Ich war am Ende meiner Kräfte. Doch eine Sache war bemerkenswert, half uns auch, die Zeit zu überstehen: Das war die Unterstützung durch die Anwohner. Die bekamen von ihren Fenstern und Balkons natürlich alles mit und konnten (wer hat heute kein Handy?) die Vorgänge filmen oder fotografieren. Die Polizisten drangen teilweise in die Wohnungen ein, bezogen auf Balkons Beobachtungsposten, als ob sie noch nicht genug von der Demo erfasst hätten. Wir protestierten lautstark, forderten die Anwohner auf, das nicht zuzulassen. Das zeigte teilweise Wirkung. Es gab nicht nur verbale Solidaritätsbekundungen, sondern auch praktische Hilfe von Anwohnerseite. Wasserflaschen wurden aufgefüllt, Chipstüten wurden herabgeworfen. Die Polizei kümmerte sich nicht um unsere Versorgung (wir waren immerhin seit 13.30 Uhr unterwegs), aber ein Anwohner besorgte, wohl in Absprache mit der Demoleitung, in einem Einkaufswagen Wasserflaschen für uns, die er an der Demospitze abstellte – woran sich dann unverschämterweise auch Polizisten bedienten.

Mein persönliches Fazit: Ich bin über 60, habe keine große Demoerfahrung, weiß natürlich, was abgeht – welcher Zeitungsleser weiß das nicht? Lützerath war ja die letzte große Aktion in unserer Umgebung, wo man ein Riesenaufgebot der Polizei mit allen Schikanen und Übergriffen erleben konnte. Aber eine Friedensdemo, die es erkennbar nicht auf Besetzungen, Sachbeschädigungen, Blockaden oder auf Schlägereien abgesehen hatte, die sich nur in der Stadt mit ihrem Antikriegsprotest laut und deutlich bemerkbar machen wollte, derart in eine Falle laufen zu lassen – das hätte ich nicht erwartet. Denn so muss man sich die Sache ja erklären: Stundenlang die Demoleute reizen, bis die Ängstlichen und Vorsichtigen abgezogen sind und man einen passende Örtlichkeit gefunden hat, um richtig brutal zuzuschlagen – das war das Programm. Vielleicht hatten wir mit unserem Demozug sogar noch Glück im Unglück: dass nämlich die Anwohner und ebenfalls die älteren (nicht aus dem Camp stammenden) Friedensdemonstranten, die bei der Stange geblieben waren, alles beobachten konnten. So hatten die Einsatzkräfte dann wohl doch gewisse Hemmungen, ihrer Gewaltbereitschaft freien Lauf zu lassen (später wird bekanntlich alles publizistisch aufgearbeitet und da muss ein Einzelner sich schon mal vor Gericht verantworten).

Wie es losging und abrupt endete

M+T: Schon vor Erreichen des Heumarktes, wo die Auftaktkundgebung stattfand, fiel uns auf, dass sich die EinsatzbeamtInnen im Erscheinungsbild deutlich von den z.B. beim Bonner Ostermarsch eingesetzten PolizistInnen unterschieden: Sie trugen Helme mit Nackenschutz, waren unter dem Helm teilweise mit Sturmhauben maskiert, trugen schwere Schienbeinschoner und zusätzlich zu dieser „Schutzbewaffnung“ ein vollständiges Arsenal aktiv einsetzbarer Waffen. Am sichtbarsten der Stoß- und Schlagknüppel. Na gut, wir dachten uns nichts weiter dabei, weil der Aufruf von „Rheinmetall Entwaffnen“ nichts enthielt, was auf Widerstand gegen die Staatsgewalt hindeutete. Im Gegenteil wurde dort der Anwendung von Gewalt mehrfach widersprochen: „Solidarität und Zusammenhalt statt Angst und Gewalt.“ „Wir sind das Gegenkonzept zu Gewalt und Gehorsam.“ Im Aufruf war von „Konfettikanonen, Musik und Gesängen“ die Rede. Auch dass zu einer – wie es sich fürs CSD- und Karnevals-Köln gehört – „Parade gegen den Krieg“ aufgerufen wurde, sollte wohl verdeutlichen, dass die Demo nicht auf Krawall gebürstet ist.

Auf dem Heumarkt angekommen stellten wir fest, dass die Stimmung auf dem Platz der Ankündigung im Aufruf entsprach: Eine Kabarettgruppe spielte Sketche, die Kardinal Woelki, Frau Baerbock oder die Bundeswehr im Allgemeinen aufs Korn nahmen. Eine Sambagruppe trommelte ihre Rhythmen. Eine Clownsgruppe trieb Schabernack. Langsam füllte sich der Platz, weil nun auch die Leute aus dem Friedenscamp dazustießen. Die Polizei war in Kampfmontur rund um den Platz in beweglichen Gruppen zu ungefähr 10 BeamtInnen aufgestellt bzw. unterwegs. Nach einiger Zeit fragten wir uns aber, warum es nicht endlich losging. Irgendwann drang durch, dass es die Polizei war, die das Loslaufen der Demonstration verhinderte. Das Geschehen auf dem Platz bot hierfür allerdings keinen Anlass. Die Demoleitung bat die Polizei mehrfach, uns doch einfach loslaufen zu lassen. Was war die Begründung für die Blockade durch die Polizei?

Inzwischen hatte sich eine der – disziplinierter organisierten – Gruppen jüngerer TeilnehmerInnen ganz in unserer Nähe eingefunden. Sie trugen schwarze Mützen und rote Schals und waren einheitlich gekleidet. Auch sie trugen Schilder und Transparente und riefen Parolen, wie etwa: „Wir sterben nicht in euren Kriegen.“ Nach einer Weile näherte sich dieser Gruppe von hinten ein Einsatzfahrzeug der Polizei. Aus dem Fahrzeug tönte in größter Lautstärke eine Durchsage mit folgendem Inhalt: Im Demonstrationszug befänden sich Metallstangen, an denen Fahnen und Transparente befestigt seien. Diese Metallstangen seien ein Verstoß gegen die Demonstrations-Auflagen und aus der Demonstration zu entfernen. Vorher könnte der Zug nicht loslaufen. Überdies würden einige Teilnehmende Schlauchschals tragen, die zur Vermummung geeignet (!) wären. Auch dies verstoße gegen das Versammlungsrecht. Die Demonstration dürfe erst loslaufen, wenn nicht mehr gegen das Versammlungsrecht verstoßen werde.

Wir schauten uns daraufhin die Transparent- und Schilderstangen näher an. Neben hölzernen Dachlatten und Kunststoffstangen konnten wir lediglich einige dünne und biegsame Aluminiumstangen erkennen, mit denen Fahnen geschwenkt wurden, jedenfalls keine Eisenstangen. Die roten Schals waren tatsächlich Schlauchschals, die man über Mund und Nase ziehen kann, wenn man dies möchte. Das Gesicht kann man freilich mit jeder Sorte Schal verdecken. Und tatsächlich war in einer anderen Durchsage davon die Rede, dass einige Teilnehmende „zu lange“ Schals trügen. Waren die Pali-Tücher gemeint? In einer nächsten Durchsage wurde das Tragen einer Coronamaske bemängelt. Und tatsächlich haben wir eine Person mit einer solchen Maske gesehen!

Wir fragten uns da schon, was der Zweck dieser Durchsagen sein könnte – wenn nicht planvolle Behinderung der Veranstaltung. Ohne dass uns aufgefallen wäre, dass eine „Metallstange“ oder ein Schlauchschal oder ein anderer Gegenstand durch DemonstrantInnen der Polizei übergeben wurde, konnten wir mit großer Verspätung dann doch loslaufen. Der Zug wurde von EinsatzbeamtInnen begleitet. Die erwähnte Gruppe der jüngeren Teilnehmenden lief etwa 50 Meter hinter uns. Diese Gruppe wurde sehr eng – richtig im Sandwich – von den Uniformierten eskortiert. Aber nach einigen hundert Metern, wurde der Zug erneut angehalten. Und es war wieder nicht klar, was los war. Ein Mitglied der „Deeskalations“-Gruppe teilte uns mit, es habe eine Durchsage der Polizei gegeben, wonach ein Transparent um eine Stange geknotet worden sei. Dies müsse herausgegeben werden, bevor der Zug fortgesetzt werden könnte – verstehe das, wer will! Auch hier ging es dann nach geschätzten 45 Minuten in extrem langsamem Tempo weiter, ohne dass klar wurde, warum das jetzt auf einmal möglich war. Wir befanden uns in dieser Situation unmittelbar vor der Gruppe, für die sich die Polizei besonders interessierte.

Auf der Rheinuferstraße angelangt, kam der Zug nach kurzem Marsch wieder zum Stehen. Wir wussten nicht, warum wir erneut angehalten wurden. Auch hier standen wir wieder ungefähr eine halbe Stunde herum, während die Polizisten uns und insbesondere die jungen Leute hinter uns aufmerksam beäugten. In dieser Situation stiegen aus dieser Gruppe drei Rauchsäulen in den Farben der palästinensischen Flagge auf. Nach unserer Beobachtung wurden keine Pyroraketen gezündet, sondern lediglich Rauchtöpfe. Dies nahm die Polizei zum Anlass, der betreffenden Gruppe vollends auf die Pelle zu rücken. Dass eine Einkesselung bevorstand, war absehbar. Ebenso, dass die Demo damit ihr Ende haben würde. Und so verließen wir gegen 17.30 Uhr das Geschehen, weil uns nach über drei Stunden des Stehens und langsamen Gehens zudem der Rücken weh tat.

Fazit: Längst vor der Rauchtopfaktion war deutlich geworden, dass Bewaffnung und Betragen der Polizei die Demonstration nicht lediglich behindern sollten, sondern von dem Willen getragen waren, sie zu verhindern. Ohne die Störungen durch die Einsatzkräfte hätte eine Antikriegsdemonstration stattgefunden, nichts weiter. Offenbar sollen aber Inhalte, die sich gegen Krieg und Kriegsvorbereitungen aller Art – Aufrüstung, Militarisierung der Gesellschaft, Wehrpflicht – richten, marginalisiert werden.


August

Dem Antikriegsprotest die Spitze nehmen

Seitdem es in der BRD wieder ein Militär gibt, laden Verbände, seit den späten 1970ern vor allem Gewerkschaften, zum Antikriegstag ein. Dazu ein Hinweis der IVA-Redaktion.

IVA hat bereits auf den neuen Aufruf des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) zum Antikriegstag am 1. September 2025 aufmerksam gemacht und auch auf die zweifelhafte gewerkschaftliche Tradition, die damit in der BRD verbunden ist. Dabei wurde speziell an die Leistung der deutschen Gewerkschaftsführung erinnert, mit einer Mischung aus Abmildern und Abwürgen dem Protest gegen die Wiederbewaffnung in den 1950er Jahre die Spitze zu nehmen. Vorgestellt wurde dabei vor allem die Kritik, wie sie aus der gewerkschaftlichen Basisinitiative „Sagt NEIN!“ gekommen ist.

DGB weiter auf Kriegskurs - Wir sagen: NEIN! Nicht in unserem Namen!

Nur zur Erinnerung: Nachdem im Juli 1956 – ohne nennenswerten Widerstand der Gewerkschaften, wofür die DGB-Führung gesorgt hatte – die allgemeine Wehrpflicht beschlossen worden war und am 1.4.1957 die ersten Wehrpflichtigen in die Kasernen der Bundeswehr zogen, riefen Jugendverbände aus der Tradition der Arbeiterbewegung zum ersten Antikriegstag auf. Die Einzelheiten kann man auf der Website der Bonner Friedenskooperative nachlesen, z.B. zu den Windungen und Wendungen, die die Teilnahme des DGB betrafen: „Die Bildung der SPD-FDP Regierung 1969 entzog dem Antikriegstag nach Ansicht von SPD- und DGB-Vertetern seine Existenznotwendigkeit, denn zur Friedenspolitik von Willy Brandt gäbe es ‚keine Alternative‘ - so die Begründung. Viele gewerkschaftliche Gruppen nahmen nur noch am Volkstrauertag teil.“

Das änderte sich dann erst, als 1979 mit dem „Nachrüstungs“-Votum von SPD-Kanzler Helmut Schmidt die Entspannungsära – aufbauend auf den bisherigen „Containment“-Erfolgen – konsequenterweise in eine neue Spannungsphase überführt wurde. Zum Antikriegstag am 1.9.1979 rief der DGB bundesweit unter dem Motto „Nie wieder Krieg! Abrüstung - Gewinn für uns!“ auf. Ein Jahr später wurde dann der Antikriegstag am 1. September offiziell vom DGB-Bundesvorstand zum „Tag für friedenspolitische Aktionen der Gewerkschaften“ deklariert. An diesem Datum wird seitdem, obwohl es nicht mehr zu besonderer Mobilisierung der Mitgliederschaft kommt, festgehalten.

Hochzuhalten gibt es an dieser Tradition nicht viel, wie jetzt wieder „Sagt NEIN!“ betont hat. Eine wirkliche Antikriegsposition sei in dem Aufruf nicht zu finden. Im Ton leise, im Inhalt „robust“ stimme die nationale Arbeitervertretung in den Chor derjenigen ein, die für die Herstellung einer neuen deutschen Großmachtrolle das Grundgesetz passend machen, Rüstungsanstrengungen in Billionenhöhe beschließen und dies im Rahmen des neuen Leitbildes „Kriegstüchtigkeit“ als unabweisbare Notwendigkeit propagieren. Kernsatz aus dem diesjährigen Aufruf: „Auch der DGB sieht die Notwendigkeit, die gemeinsame Verteidigungsfähigkeit Europas zu stärken.“ Der Wortlaut des „Sagt NEIN!“-Statements ist jetzt im Netz abrufbar. Weitere Informationen zur Auseinandersetzung mit der Gewerkschaftsführung finden sich auf der Website der Initiative.

Seit der „Zeitenwende“ vom Februar 2022 ist der DGB ja wieder in seinem Element, sich in einen Protest einzuklinken, paradigmatisch als Friedenskraft aufzutreten und die Sorgen der Mitglieder in eine verantwortungsbewusst gestaltete, die Aufrechterhaltung des sozialen Friedens und die Leistungskraft des Kapitalstandorts berücksichtigende Strategie einzubringen. 2022 kam er gleich mit dem Aufruf „Für Solidarität und Zusammenhalt jetzt!“, was von „Sagt NEIN!“ in seinen realpolitischen Klartext übersetzt wurde: „An der Heimatfront – die Reihen fest geschlossen!“ Die Basisinitiative setzt dagegen: Wir fordern vom DGB und seinen Mitgliedsgewerkschaften einen Bruch mit dem derzeit eingeschlagenen Burgfriedenskurs. Es sei hohe Zeit, endlich wieder unzweideutig, mit klarer antimilitaristischer Haltung auf der Seite der Friedensbewegung zu stehen, nicht auf Seiten der Strategen, Rüstungslobbyisten und Militärseelsorger. – Arbeiter schießen nicht auf Arbeiter! Das fordert „Sagt NEIN!“ gegen alle nationale Tradition.


Wir sagen Nein

Kriegsmüdigkeit darf nicht aufkommen, so die Ansage der Regierenden. Es gibt aber immer noch Stimmen im Lande, die – mehr oder weniger entschieden – Nein sagen. Dazu einige Hinweise der IVA-Redaktion.

Zum Spätsommer und Herbst ist eine Reihe von Protestaktionen gegen den deutschen Kurs der Aufrüstung und Kriegsvorbereitung angekündigt. IVA unterstützt die gewerkschaftliche Basisinitiative „Sagt NEIN! Gewerkschafter:innen gegen Krieg, Militarismus und Burgfrieden“, die sich an den Aktionen beteiligt und ihre eigenen Vorstellungen in den Protest der Friedensbewegung einbringt. Die Initiative entstand 2023 im Rahmen der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Sie wandte sich an alle Gewerkschaftsmitglieder mit der Aufforderung, eine Opposition gegen die Führung der deutschen Arbeitervertretung zu bilden. Denn, so der Aufruf:

„Nachdem der DGB-Bundeskongress 2022 auf Betreiben des DGB-Bundesvorstandes und unter Bruch unserer Satzungen und Beschlüsse das ‚Ja! zu Waffenlieferungen und Aufrüstung‘ beschlossen hat, soll dies nun auf Initiative des ver.di-Vorstandes mit Zustimmung des Gewerkschaftsrates auch auf dem ver.di-Bundeskongress nachvollzogen werden: Ja! zu einer Kriegslogik, die unter dem Deckmantel eines sogenannten ‚umfassenden Sicherheitsbegriffs‘ ausdrücklich ‚militärische Sicherheit‘, indirekt ‚Auf- und Hochrüstung‘ und Kriegseinsätze auch deutscher Soldat:innen befürwortet –‚ was zur Erfüllung ihrer Aufgaben in der Landes- und Bündnisverteidigung erforderlich ist‘.“ Die (mittlerweile über 25.000) Unterzeichner des Aufrufs, Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter von ver.di, aber auch von IG Metall und anderen DGB-Gewerkschaften, wandten sich deswegen an die Delegierten des ver.di-Bundeskongresses und konnten dort immerhin eine beachtliche Minderheit für den Einspruch gegen den offiziell angesagten „Burgfrieden“ gewinnen.

„Rheinmetall entwaffnen“ – Protestcamp in Köln

Vom 26. bis 31. August findet in der Kölner Innenstadt (sofern die Polizei nicht, wie schon angekündigt, mit Verboten einschreitet) das Protestcamp „Rheinmetall entwaffnen“ statt. Die Veranstalter wollen die Kriegstreiber heimsuchen und die herrschenden Konventionen durchbrechen: „Wir sind das Gegenteil dessen, was sich Regierung und Rüstungsindustrie von ihren Bürger*innen wünschen. Wir lassen uns nicht einspannen in die Rekrutierung der Gesellschaft. Wir stellen uns gegen die kapitalistische Logik, gegen die Umverteilung von unten nach oben, wonach unendlich viel Geld für Kanonen da ist, während es unsereins an Nötigem fehlt.“

Die Initiative „Sagt NEIN!“ wird auf dem Camp vertreten sein und bietet dort am 27. August den Workshop „Wer entwaffnet Rheinmetall…?! Von der Analyse zur Meuterei – Sagt NEIN!“ an, der die anspruchsvolle Entwaffnungs-Losung mit einigen Anfragen versieht. (Die näheren Informationen zu Ort und Zeit finden sich bei IVA unter Termine. Das gesamte Programm ist auf der Website des Camps einsehbar. Dort finden sich auch Informationen zu der für den 30. August geplanten Demonstration in Köln.) Der Workshop, der von Andreas Buderus und Renate Dillmann geleitet wird, geht von folgender Feststellung aus: Rheinmetall steht als Symbol für die deutsche Rüstungsindustrie – doch wer füttert das Monster? In diesem Sinne soll ein kritischer Blick auf das Zusammenspiel von Rüstungsindustrie, Staat und Gewerkschaften gerichtet werden. Warum richtet sich so viel Kritik nur gegen „die Konzerne“, wenn doch der Staat der eigentliche Auftraggeber ist – und weite Teile der Gesellschaft, darunter die Gewerkschaften, die Aufrüstung mittragen?

Gemeinsam soll bei der Veranstaltung geklärt werden:

  • Was bedeuten der deutsche Großmachtanspruch und die Militarisierung nach innen und außen?
  • Was ist die Rolle der Gewerkschaften im „Burgfrieden“ (so der berühmte Begriff von 1914) mit Staat und Kapital?
  • Gibt es historische und aktuelle Beispiele gewerkschaftlicher Verweigerung
  • und konkrete Ideen für zivile Meuterei und antimilitaristische Praxis?

Antikriegstag am 1. September

Traditionellerweise laden die Gewerkschaften am 1. September zu einem Antikriegstag ein, wobei in diesem Jahr nicht klar ist, ob sich daraus als Protest erkennbare Aktionen ergeben werden. Der aktuelle DGB-Aufruf „Für eine Politik der Friedensfähigkeit! Nie wieder Krieg – in Deutschland, Europa und weltweit!“ findet sich im Gewerkschaftsforum. Dort ist auch schon kurz nach der Veröffentlichung der DGB-Erklärung die Kritik „DGB zum Antikriegstag: Zu den Waffen Kolleg*innen!“ erschienen, verfasst von Suitbert Cechura, der die „Sagt NEIN!“-Initiative unterstützt. Diese Kritik wird auch Thema beim Workshop des Rheincamps sein.

Sie erinnert eingangs noch einmal an die fatale Gewerkschaftstradition in der BRD: „Aus ihrer Haltung zum Aufrüstungsprogramm der Bundesregierung haben die DGB-Gewerkschaften nie einen Hehl gemacht und es in der Sache rückhaltlos unterstützt – bis hin zum Pakt der IG Metall mit der Rüstungsindustrie. Anlässlich des diesjährigen Antikriegstags am 1. September ist die DGB-Führung nun offenbar bestrebt, auch Mitglieder, die gegen diesen Kurs Bedenken geäußert haben, auf Linie zu bringen. Das geht natürlich nicht ohne einige Verrenkungen.“ Den Verrenkungen dabei, die Zustimmung zum Rüstungskurs mit einigen Bedenken hinsichtlich seines Gelingens zu versehen und dies als friedensbewegten Einspruch zu verkaufen, geht der Text im Einzelnen nach. Sein Fazit unter der Überschrift „(K)ein Bündnispartner!“ lautet:

„Der DGB will sich offenkundig in die Reihen derjenigen einreihen, die gegen die Aufrüstungspolitik demonstrieren oder ihre Verunsicherung angesichts der aktuellen Weltlage bekunden. Die Argumente im Aufruf sind aber ein einziges Dementi seiner Gegnerschaft zum staatlichen Aufrüstungsprogramm. Wer also meint, mit der Teilnahme des DGB an Antikriegsprotesten oder -tagen würde der Gegnerschaft gegen die Militarisierung der Gesellschaft ein größeres Gewicht verliehen, müsste durch den neuen Aufruf eines Besseren belehrt werden. Stellt sich der Verein doch hinter die Regierungslinie und bemüht sich, gerade auch mit Blick auf die sozialdemokratische Gewerkschaftstradition, Kritiker des Aufrüstungskurses zu vereinnahmen.“

Bundesweite Demo am 3. Oktober

„Nie wieder kriegstüchtig! Stehen wir auf für Frieden!“ Unter dieser Losung wird zur bundesweiten Demonstration am 3. Oktober in Berlin und Stuttgart aufgerufen. Der Bündnisaufruf wurde bei einer Online-Aktionsberatung am 25. Juli 2025 vorgestellt. Erarbeitet wurde er im Rahmen eines Bündnisses, dem die Initiative „Nie wieder Krieg – Die Waffen nieder!“, aber auch ICAN, die DFG-VK, die IPPNW, das Netzwerk Friedenskooperative, Ohne Rüstung Leben und Pax Christi angehören. Den Wortlaut des Aufrufs sowie weitere Erklärungen aus der Friedensbewegung findet man ebenfalls auf der Website des Gewerkschaftsforums. Die Initiative „Sagt NEIN!“ hat dazu erklärt, dass sie diesen Protest mitträgt:

„Wir sagen Nein zu allen Kriegen und lehnen die gefährliche Hochrüstung ab.“ So beginnt der Aufruf zur Friedensdemo am 3.10. Als gewerkschaftliche Basisinitiative „Sagt NEIN!“ können wir dazu nur JA sagen, möchten das aber gleich mit Nachfragen verbinden, vor allem: a) wem sagt man b) damit was? Eine solche Klärung ist besonders dringlich angesichts des breiten Forderungskatalogs von „Dialogfähigkeit“, „Abrüstung für Soziales, Klima und Entwicklung“, „Entspannungspolitik für Europa“ etc.

a) Adressiert man damit die regierenden Kriegstreiber? Erwartet man von ihnen ernsthaft, dass sie auf die Sorgen in der Bevölkerung eingehen? Sind denen der ungeheure Kostenaufwand und die verheerenden Konsequenzen einer Kriegsvorbereitung unbekannt? Soll hier eine Vertrauensbildung für abweichende Positionen im Regierungslager (siehe das Manifest der SPD-Dissidenten) stattfinden? Oder das Vertrauen in die UN-Charta, die bei den Gewaltaffären der Staatenlenker Erlaubtes von Verbotenem trennt, als Wertehimmel der heutigen Weltkriegslage gestärkt werden? Wie ist die Forderung nach „Verteidigung der Demokratie“ zu verstehen? So wie sie in Deutschland und der EU derzeit definiert wird? …

b) Kündigt man hier wirklich einen Konsens auf, z.B. den sozialen Frieden, der die Grundlage für das deutsche Hochrüstungsprojekt darstellt? Was soll man unter der Forderung nach einer neuen „Entspannungspolitik für Europa“ verstehen, „die die Friedens- und Sicherheitsinteressen aller Beteiligten berücksichtigt“? Wird hier einer Sicherheitspolitik, die sich als Verteidigung vorstellig macht, der Segen erteilt? Ist die werdende Großmacht Europa mit ihrer Führungsmacht Deutschland ein Hoffnungsschimmer? Ist der Ausschluss von „demokratiefeindlichen Kräften“ aus der Protestbewegung so gemeint, dass das Extremismuskonzept des deutschen Staatsschutzes übernommen wird? …


Juli

Noch mal: SPD-Manifest

Im Juni stößt ein Manifest von SPD-„Friedenskreisen“ bei Leitmeiden und Politikern auf heftigsten, ja giftigsten Widerspruch, bis dann, nach dem kurz darauf folgenden SPD-Parteitag, wieder Ruhe einkehrt. Dazu ein Kommentar von Johannes Schillo.

„War da nicht was? Ein heißer Konflikt, bevor die sommerliche Hitzeperiode begann? Ach ja, Anfang Juni erblickt ein ‚Manifest' das Licht der Welt, das ein paar Tage lang für größte Aufregung sorgt. Unerhört, leibhaftige SPD-Mitglieder fangen an, mit der Friedensbewegung zu liebäugeln!“ So beginnt der Kommentar „Sozis in der Dissidenz“, der in der aktuellen Ausgabe von Konkret (Nr. 8/25) erscheint. Er resümiert vor allem die Kritik, die im Juni von der gewerkschaftlichen Basisinitiative „Sagt nein!“ vorgetragen wurde. IVA hat den Vorgang bereits mit zwei Beiträgen gewürdigt (siehe hier und hier) und dem Manifest das Fehlen einer oppositionellen Linie bescheinigt. Schon in dessen Überschrift „Friedenssicherung in Europa durch Verteidigungsfähigkeit, Rüstungskontrolle und Verständigung“ kommt ja die Kompatibilität mit dem schwarzroten Aufrüstungskurs zum Ausdruck, dem dann im Sinne eines ‚Ja, aber‘ entgegengetreten wird.

Die SPD beruhigt sich wieder

„Als hätte Putin es mitgeschrieben“ – so lautete dagegen der Tenor der Reaktionen in den Mainstreammedien. Bestleistungen in Sachen Hetze vollbrachten dabei wieder Bild und FAZ. Der Hauptvorwurf an die Adresse der Träumer mit ihren Entspannungsidealen von gestern [1] hieß dann „Realitätsverweigerung“. Das Stichwort machte sich auch die SPD-Spitze zu eigen und stellte auf dem kurz darauf folgenden Parteitag klar, dass es nur einen realistischen Kurs gibt, nämlich den, den die SPD gemeinsam mit CDU/CSU eingeschlagen hat. Dagegen gab es keine wirkliche Opposition, so auch die Feststellung von Manifest-Autor und SPD-MdB Ralf Stegner. Ein anderer prominenter Autor, der ehemalige Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Rolf Mützenich, war dem Parteitag gleich ferngeblieben.

Von der Presse wurde statt lebendiger Streitkultur auf der Berliner Zusammenkunft „eine gewisse Wurstigkeit“ der Delegierten (FR, 30.6.) entdeckt. Andere Kommentare sprachen von der Feigheit der Dissidenten; denn keiner von ihnen habe den Mut gefunden, „auf offener Bühne auch nur ein kritisches Wort gegenüber ihrem Parteivorsitzenden zu äußern“ (FAZ, 30.6.). Stegner nahm zwar für sich in Anspruch, einen Beitrag dazu geleistet zu haben, beklagte aber rückblickend vor allem die hinterfotzige Art, mit der der Parteivorsitzende Lars Klingbeil bei den Vorstandswahlen abgestraft wurde. Was Stegner auf dem Parteitag vorbrachte, hatte zudem kaum kritische Substanz. Laut NTV begann er seine Rede mit der Feststellung, dass die SPD „Friedenspartei“ sei, wegen ihrer Haltung in dieser Frage aber Stimmen an die Rechtsradikalen und die Linkspopulisten verloren habe. „Zugleich betonte er, die Unterzeichner des Manifests seien der Meinung, dass die Ukraine unterstützt werden müsse. Ohne Luftabwehr auch aus Deutschland würden dort noch mehr Menschen sterben.“ [2]

Eine Debatte über den Wehrdienst gab es auf dem Parteitag nicht. Stattdessen wurde im Hinterzimmer mit den Jusos, die pflichtgemäß gestichelt hatten, ein Kompromiss ausgehandelt, der ganz auf der offiziellen Linie liegt (siehe „Volk ans Gewehr“). Die wurde ja mittlerweile durch den von Pistorius vorgelegten Gesetzesentwurf bestätigt. Es soll demnach zunächst keine Wehrpflicht geben, sondern erst dann, wenn man sie braucht und die Kapazitäten zu ihrer Implementierung zur Verfügung stehen. Und auch ein paar Bedenken, ob die Aufrüstung mit der 5 %-Marke solide eingefädelt ist, durften bei einem Antrag zur sicherheitspolitischen Linie der Parteiführung bzw. der Regierung laut werden, fanden allerdings keine Mehrheit. Im Grunde ging es hierbei ebenfalls um ganz konstruktive Bedenken, die auch in Militär- oder Expertenkreisen geteilt und von Bundeskanzler Merz noch im Mai 2025 geäußert wurden: Helfen uns bei der Herstellung von „Kriegstüchtigkeit“ abstrakte Kennziffern weiter? Muss es nicht darum gehen, die „Fähigkeitsziele“, wie sie die Nato definiert hat, sicherzustellen? Ist das, was derzeit die Koalition macht, nicht unsolide Haushaltspolitik, die zudem verpasst, die Bürger über den Ernst der Lage ins Bild zu setzen und sie „mitzunehmen“? Das sind ja auch Bedenken, wie sie die AfD kennt und etwa bei der Schaffung des Sondervermögens 2022 zur Sprache brachte. In der Tat, es wäre ja eine ernsthafte Kalamität für den Standort, wenn das internationale Finanzkapital an der Kreditwürdigkeit der BRD zu zweifeln begänne…

Verteidigungsfähigkeit und Rüstungskontrolle

Die ersten beiden Punkte des Manifests geben, wie die kritischen Randglossen von „Sagt nein“ dargelegt haben, recht ungeschminkt den Standpunkt staatlicher Kriegsvorbereitung wieder, der natürlich stets mit der Vermeidung eines Angriffs aufs eigene Land begründet wird. Kein Staatenlenker in der heutigen regelbasierten Weltordnung – es sei denn deren derzeitiger Hüter im Weißen Haus, der schon einmal mit einem Eroberungsfeldzug gegen Panama, Kanada oder Grönland droht – bekennt sich dazu, ein anderes Land zwecks Einverleibung materieller oder menschlicher Ressourcen überfallen zu wollen. Immer ist es der „böse Nachbar“, der verhindert, dass der „Frömmste nicht in Frieden leben“ kann, oder wie die Spruchweisheiten seit Jahrhunderten lauten. Besagter Nachbar zwingt dazu, das behaupten reihum alle Staaten bei ihren Rüstungsbemühungen, sich gegen einschlägige Versuche von außen zu wappnen. Das Manifest bekräftigt explizit diesen herrschenden Standpunkt und übernimmt auch die offizielle Feindschaftserklärung gegen Russland wegen der Völkerrechtswidrigkeit seines Angriffskriegs. Daher sind die Unterzeichner auch der Meinung, dass die Ukraine unterstützt, also der Krieg verlängert werden muss, wie es Europa unter Absetzung von der neuen US-Linie praktiziert.

Nun hat der Zwölf-Tage-Krieg, den Israel und die USA im Juni gegen den Iran geführt haben, ein „Lehrstück in Sachen Verteidigungsbereitschaft“ geliefert, wie es im Gewerkschaftsforum hieß. Der Fall ist klar, die Völkerrechtler sind sich im Prinzip einig, es war ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg auf ein Land, bei dem Hunderte Zivilpersonen ums Leben kamen, auch durch gezielte Angriffe auf Wissenschaftler oder auf ein Gefängnis. Man kann also festhalten, dass sich die Militärschläge hier in derselben Dimension bewegten wie bei den Hamas-Massakern vom 7. Oktober 2023, die für einen weltweiten Aufschrei sorgten.

Doch im Fall des Iran blieb ein solcher Aufschrei, zumindest in der Öffentlichkeit der „wertebasierten“ Weltordnung, aus. Gerade auch in der Parteinahme Deutschlands für die Initiatoren dieses Angriffskriegs – Israel macht ja laut Kanzler Merz die „Drecksarbeit“ für „uns“ und die Kriegsbereitschaft der USA ist sowieso über rechtliche Einwände erhaben – wurde somit eine definitive Klarstellung zum Programm „Verteidigungsfähigkeit“ geleistet. Sie schließt einen militärischen Angriff auf ein fremdes Land nicht aus, sondern ein. Im Fall des Falles ist eben Angriff die beste Verteidigung. Der geht es ja darum, das militärische Potenzial des Gegners auszuschalten. Da liegt natürlich die Option nahe, einer machtvollen Offensive des Gegners, bevor sie ins Werk gesetzt wird, mit einem eigenen Angriff zuvorzukommen.

Es hängt also ganz an der vorgängigen Parteinahme, ob ein Land ein ins moralische Abseits zu rückender Aggressor ist, wie es in einschlägigen Fällen sonst heißt, oder ob es sich damit gegen einen bedrohlichen Feind verteidigt. Im Fall Israels wurde dazu auf die Achse des Widerstands verwiesen. Diese habe unter Führung des „Mullah-Regimes“ Israel bedroht, so dass Netanjahu das Land verteidigen musste, um einem Angriff zuvorzukommen. Der entscheidender Beleg dafür war – zumindest in Deutschland und den USA –, dass die israelische Regierung seit Jahrzehnten bekundet, sich vom Iran bedroht zu fühlen. Dies ist eine Logik, die sonst natürlich nicht gilt, wie der Text im Gewerkschaftsforum ausgeführt hat: „Wenn die NATO eine Achse der Bedrohung vom Schwarzen Meer bis zum Baltikum gegenüber Russland schafft, darf sich in Moskau keiner mit Bedrohungsgefühlen zu Wort melden, geschweige denn versuchen, die Einkreisung durch das mächtigste und aggressivste Militärbündnis der Welt mit einem Angriff auf die Ukraine zu kontern. Dass Russland das als militärische Verteidigung seiner Interessen versteht, findet man im Westen einfach nur absurd.“

Nur noch eine Anmerkung zum zweiten Programmpunkt der SPD-Dissidenten, zur Rüstungskontrolle. Der Fall Iran hat wieder einmal schlagend den Nutzen der Rüstungskontrolldiplomatie fürs Kriegführen gezeigt: Man weiß aus den Verhandlungen genau über die Bestände des Gegners Bescheid, darüber, wo sie lagern und wie sie geschützt werden, und kann sie dann mit gezielten Schlägen angreifen. Beide Punkte gehören eben zusammen, wie das Agieren der USA in diesem Fall deutlich machte. Trump führte mit dem Iran die Verhandlungen über ein Atomabkommen, unterbrach sie dann mit einem Bombardement, um anschließend die Iraner zur Rückkehr an den Verhandlungstisch (den sie gar nicht verlassen hatten) aufzufordern.

Das Elend der Manifest-Kritik

Auch der dritte Punkt der Manifest-Losung ordnet sich in die normale Kriegslogik ein. Die von den Autoren genannte Notwendigkeit, sich mit dem russischen Kriegsgegner zu verständigen, ist eine Banalität, die freilich in der militaristisch aufgeheizten Öffentlichkeit der BRD für einen Aufschrei gesorgt hat. Dabei dürfte klar sein: Auf irgendeinen Vertrag muss der Krieg ja hinauslaufen, benützbar soll „unsere“ östliche Einflusssphäre schließlich wieder werden. Wozu sonst der ganze militärische Aufwand? Solche abschließenden Gespräche liegen zwar noch etwas in der Ferne, und zwar deshalb, weil die Europäer den Krieg noch nicht abbrechen wollen. Doch die Diplomatie – siehe den Fall Iran mit seinen Atomverhandlungen – muss deshalb nicht unterbleiben. Im Gegenteil, der Nato-Chef im Weißen Haus führt seit seinem Amtsantritt entsprechende Gespräche mit Putin und sondiert Geschäftsgelegenheiten.

Die ganze öffentliche Hetze gegen das Manifest speist sich also aus dem Verdacht, hier würde sich Kriegsmüdigkeit breit machen. Das darf in der Republik auf keinen Fall stattfinden! Die wenigen Verteidiger des Manifest stammen aus der linken Gegenöffentlichkeit, die sich – wie gezeigt – über den antimilitaristischen Gehalt dieses Papiers täuscht bzw. aus bündnispolitischer Perspektive täuschen will. Die Unterstützung der SPD-Dissidenten erfolgt in linken Kreisen allerdings auch nicht konsequent, wie man etwa in der Zeitschrift Sozialismus Nr. 7/8, 25 nachlesen kann. Der ehemalige Gewerkschaftssekretär Klaus Lang schießt dort im Eröffnungsbeitrag zu diesem Thema eine Breitseite aufs Manifest ab, ganz im Sinne des Vorwurfs „Realitätsverweigerung“ von Pistorius. Joachim Bischoff, Mitherausgeber der Zeitschrift, nimmt dann mit einigen zurückhaltenden Bemerkungen die SPD-Dissidenten in Schutz, findet dabei jedoch folgenden Gesichtspunkt besonders wichtig: „Ralf Stegner, einer der Erstunterzeichner*innen des ‚Manifestes‘, macht auf die wahlpolitische Dimension aufmerksam, die bei vielen aufgeregten Debattenbeiträgen ausgeblendet würde: Wenn die SPD nicht Richtung 10% rutschen wolle, müsse die Partei darüber diskutieren, wie sie sich für Frieden und Abrüstung einsetzt.“ (S. 15)

In der Tat, das ist die erste und hauptsächliche Sorge des Manifests. Es geht ihm darum, dem Niedergang der Partei entgegenzutreten. Man will gegen den Profil-, Wähler- und Mitgliederschwund etwas unternehmen, indem man „die Partei darüber diskutieren“ lässt, wie eine erfolgreiche Strategie gegen den russischen Feind zu fahren wäre. Immerhin, so kommt man in die Öffentlichkeit. Und dann kann man vielleicht eine erkleckliche Anzahl Bürger, die verunsichert sind, „mitnehmen“. Das Sozialismus-Heft zitiert dazu zustimmend Herfried Münkler: „Die westlichen Regierungen müssen sich mit den Anliegen ihrer eigenen Bürger auseinandersetzen, von denen viele keine teure, endlose Auseinandersetzung mit Russland wollen.“ (S. 16) Das kommentieren die Herausgeber so: „Es geht darum, den Mangel einer kohärenten, langfristigen Strategie der westlichen Führungen in Bezug auf Russland aufzuheben“ (ebd.). Eben! Es geht darum, den Krieg gegen Russland zu einem erfolgreichen Ende zu führen und gleichzeitig die SPD als kluge, das Wahlvolk ansprechende nationale Alternative zu präsentieren. Mehr nicht.

Anmerkungen

[1] In den kritischen Randglossen hieß es zu dem erwähnten und von vielen Kritikern als weltfremd angeprangerten Rekurs auf die alte sozialdemokratische bzw. sozialliberale Ostpolitik („Schrittweise Rückkehr zur Entspannung“ lautete die Manifest-Forderung): Die SPD-Dissidenten ignorieren einfach, dass damals „die Entspannungsära zielstrebig durch eine Spannungsphase abgelöst wurde – da der eingeleitete ‚Wandel durch Annäherung‘ seine zersetzende Wirkung entfaltet hatte und folglich wieder härtere Bandagen am Platz waren… Dass also Entspannung ein Modus war, die Systemgegnerschaft gegen den ‚totalitären‘ Osten nicht allein mit militärischen Mitteln auszutragen, sondern – notgedrungen, siehe das ‚atomare Patt‘ – durch Rüstungsdiplomatie etc. zu ergänzen, soll natürlich keiner wissen“. Dankenswerterweise hat J. Bischoff diesen Punkt in seinem Beitrag aufgegriffen und – im Prinzip zustimmend – daran erinnert, dass sich Pistorius in seiner Gegenrede ebenfalls auf den früheren Bundeskanzler Brandt stützen konnte. Brandt habe sich nämlich, so der deutsche „Verteidigungs“-Minister, „seinerzeit zu hohen Verteidigungsausgaben bekannt, weil er wusste, ‚dass man mit der sowjetischen Seite nur aus einer Position der Stärke heraus überhaupt verhandeln kann‘.“ (Sozialismus, S. 14) Als „Politik der Stärke“ firmierte die alte Adenauer-Linie in der ersten Phase des Kalten Kriegs, als noch ein „Roll back“ ins Auge gefasst wurde. Die wurde dann angeblich unter Kennedy in einen ganz anders gearteten Entspannungszustand überführt, den Brandt, Genscher und Co. weiter ausbauten. Bischoff bzw. Pistorius haben hier aber recht: Der offensive Standpunkt gegenüber einem Systemrivalen, der auf „friedliche Koexistenz“ plädierte, wurde im Westen nie aufgegeben, sondern nur wegen der beachtlichen Nachrüstungserfolge des Ostens in eine Strategie des „Containment“ überführt und um Interventionen auf wirtschafts- oder kulturpolitischer Ebene ergänzt. Die Aggressivität gegenüber einer östlichen Großmacht blieb im Westen immer erhalten – von der Gründung der NATO über alle Umbrüche hinweg bis auf den heutigen Tag, wo die Endlösung der Russlandfrage in greifbare Nähe gerückt ist.

[2] Bei der Dritten Gewerkschaftskonferenz für den Frieden in Salzgitter (11./12.25) durfte Stegner dann auf dem Podium auftreten. Eine bemerkenswerte Inszenierung als betroffener Privatmann, die Andreas Buderus kürzlich im Gewerkschaftsforum aufgespießt hat, die aber in der Jungen Welt auf wohlwollendes Verständnis stieß. Angeblich „widersprach Stegner erneut aktuellen Aufrüstungslogiken“ (JW, 15.7.25), dabei bekräftigte er – im Gegenteil – die Position des Manifests, in dem ja die neue „eigenständige“ europäische Aufrüstungslogik gutgeheißen wird. Positiv fand die JW auch, dass Stegner den Palästinensern das „gleiche Recht auf Humanität“ zugestand. Man höre und staune, auch die Elendsbevölkerung dort unten, wo Israel „für uns“ gerade die „Drecksarbeit“ erledigt, hat Rechte! Und das wurde vom Publikum sogar noch beklatscht…


Juni

Wer hat uns beraten? Sozialdemokraten!

Anfang Juni treten SPD-Friedenskreise, die sich als Beratungsgremium der Partei verstehen, mit einem Friedens-Manifest an die Öffentlichkeit und ernten dort zumeist heftigsten Widerspruch. Dazu ein Kommentar von Johannes Schillo.

Auf das Manifest, das den Titel „Friedenssicherung in Europa durch Verteidigungsfähigkeit, Rüstungskontrolle und Verständigung“ trägt, ist IVA bereits im Juni eingegangen, hat auch die ausführliche Kritik vorgestellt, die die oppositionelle Verdi-Initiative „Sagt nein!“ zum Erscheinen des Papiers vorgelegt hatte. In diesen kritischen Randglossen, die vor dem öffentlichen Eklat abgefasst wurden, konnte auf die neue militante Einheitsfront von Medien, herrschender Politik und Politikberatung gegen jede noch so kleine Abweichung im öffentlichen Diskurs natürlich nicht eingegangen werden. Sie war in der Form auch nicht abzusehen, überraschte selbst die Initiatoren.

Denn an dem SPD-Friedenspapier ist eigentlich „nichts Skandalöses“, wie Ole Nymoen im „Jacobin“-Magazin schrieb: „Eine grundsätzliche Absage an die Kriegstüchtigkeit Deutschlands und Europas ist das nicht. Sondern lediglich eine Warnung vor einer Aufrüstungsspirale, die zukünftige Konflikte eher wahrscheinlicher macht, als sie zu verhindern. Historisch betrachtet ist diese Warnung berechtigt.“ Woher dann die Aufregung? Dazu hier einige Überlegungen.

Für Verteidigungsfähigkeit und Rüstungskontrolle!

„Als hätte Putin mitgeschrieben“ – so lautet der Tenor der Reaktionen in den Mainstreammedien, Bestleistungen in Sachen Hetze vollbrachten dabei wieder „Bild“ und „FAZ“. Natürlich rangierte hier der Vorwurf „Realitätsverweigerung“, der auch aus der SPD-Führung kam, ganz oben. Die Weltfremdheit des Manifests sei „atemberaubend“, man müsse die Autoren als „Sicherheitsrisiko für Deutschland und Europa“ einstufen, als „Tauben am Tor zur Hölle“, wie der Spruch von Kanzler Scholz, Pazifisten seien „Engel aus der Hölle“, zeitgemäß abgewandelt wird (FAZ, 12.6.25). Gemäßigtere Stimmen lauteten etwa so: „Der Führungskreis um Klingbeil sollte sich jetzt sehr geschlossen um den Parteichef scharen… Alle, die die Partei erneuern und zu Erfolgen führen wollen, sollten klar machen: Diese Debatte hat die SPD bereits hinter sich.“ (Bonner General Anzeiger, 13.6.25)

Auf die Frage, was denn so skandalös an diesem Papier ist, antwortet Nymoen: „Eigentlich gar nichts. Und das nicht nur aus einer linken oder friedensbewegten Perspektive. Sondern auch von einem bürgerlichen Standpunkt aus. Das sogenannte Manifest ist kein pazifistisches Schreiben, das militärische Gewaltmittel ablehnt, wie schon der Titel andeutet“. Mit den ersten beiden Dritteln seiner Losung – „Für Verteidigungsfähigkeit und Rüstungskontrolle“ – liegt es ja ganz auf Linie der hiesigen Regierungspolitik. Und gerade am Fall Iran, wo die Israelis laut Bundeskanzler Merz für uns zur Zeit die „Drecksarbeit“ erledigen, zeigt sich wieder einmal der Nutzen der Rüstungskontrolle fürs Kriegführen: Man weiß genau über die Bestände des Gegners Bescheid, darüber, wo sie lagern und wie sie geschützt werden, und kann dann mit gezielter Wucht zuschlagen.

Björn Hendrig ist bei Telepolis auf die Übereinstimmung des Friedenspapiers mit dem Kurs der schwarzroten Koalition näher eingegangen. Deren Bekenntnis zur Herstellung von „Verteidigungsfähigkeit“, von Merz in seiner Regierungserklärung bekräftigt, ist Konsens im Manifest, nur gegen ein Übermaß spricht es sich aus. „Wie genau allerdings die ‚notwendige Verteidigungsfähigkeit‘ beschaffen sein muss“, schreibt Hendrig, „lässt das Manifest im Unklaren. ‚Eigenständig‘ müsse sie aber sein, und zwar gemeinsam mit den anderen europäischen Staaten, und ‚unabhängig von den USA‘. Genauso sieht das aktuelle Aufrüstungsprogramm in Europa aus – wo ist da der Dissens? Zu lesen im nächsten Halbsatz: ‚Stopp eines Rüstungswettlaufs‘. Man befürwortet mithin eine enorm vergrößerte europäische Streitmacht, die auf eigenen Beinen ohne die USA bestehen kann. Und warnt gleichzeitig vor einem Rüstungswettlauf? Wie bitte soll es ohne riesige Aufrüstung zu schaffen sein, auf Augenhöhe mit dem einstigen ‚großen Bruder‘ jenseits des Atlantiks zu kommen? Ein Widerspruch erster Güte.“

Das fiel sogar dem „General-Anzeiger“ (13.6.25) auf, der der Parteiführung sonst zur Seite sprang. Im Interview sprach er SPD-MdB Mützenich, einen der prominenten Unterstützer des Manifests, darauf an, dass das Papier „vor einer Aufrüstungsspirale warnt, zugleich befürworten Sie darin Investitionen in die Verteidigungsfähigkeit. Das ist doch ein Widerspruch!“. Die Antwort: „Nein, ist es nicht. Das möchte ich gern erklären, denn das wird vielleicht im Manifest nicht deutlich genug. Wir wollen auf jeden Fall, dass Deutschland verteidigungsfähiger wird und in entsprechende Rüstungsgüter investiert. Dabei ist aber wichtig, dass es nicht jedes Land blind tut, sondern man in Europa und der Nato die Kräfte bündelt. Denn gemessen an den hohen Investitionen aus der Ampel-Vergangenheit sind die konkreten Ergebnisse bei der Wehrhaftigkeit aus meiner Sicht eher bescheiden. Das darf jetzt mit den nahezu ungedeckelten Verteidigungsausgaben nicht weiter passieren…“ Eine Koordinierung der Rüstungsanstrengungen im Rahmen von NATO und EU – also genau das, was Merz und von der Leyen zur Zeit betreiben – ist mithin das Ideal der Rüstungsbegrenzung, die das Manifest propagiert!

Ansonsten bleibt es im Manifest bei der negativen Bestimmung, dass die Erhöhung des Verteidigungshaushalts auf 3,5 bis 5 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) „irrational“ sei. Ein sehr konstruktives Bedenken, das z.B. auch von den grünen (Ex-)Kriegstreibern kommt. Selbst unser flexibler Bundeskanzler hatte jüngst im Mai, vor seinem ‚gut gelungenen‘ Trump-Besuch, noch Ähnliches verlauten lassen. „In der Diskussion über die deutschen Militärausgaben hat sich auch Bundeskanzler Merz gegen einer Festlegung auf ein bestimmtes Prozente-Ziel ausgesprochen. Im ZDF sagte Merz, statt über Prozentzahlen des Bruttoinlandsprodukts zu diskutieren, sollte es mehr um konkrete militärische Fähigkeiten gehen.“ Pistorius erklärte übrigens in dem Kontext, „entscheidender als die Prozentzahl sei, dass die NATO-Fähigkeitsziele erfüllt würden“. Fast genau so formulierte es Mützenich in dem Interview.

Ein bisschen Abweichung…

Hendrigs Fazit lautete daher: „Die Empörung ist groß, dass da rund 100 Politiker einer Regierungspartei sich erdreisten, für Diplomatie mit Russland zu plädieren und das Maß der Aufrüstung anzuzweifeln. Viel Lärm um allerdings herzlich wenig. Schließlich kündigt das Manifest nicht die nationale Gefolgschaft auf. Sondern formuliert die Sorge, dass Deutschland sich übernimmt und unnötige Feindschaften pflegt. Doch selbst diese sehr konstruktive Kritik trifft auf harte Ablehnung. Eine deutliche Auskunft darüber, welche Kriegsstimmung derzeit in Deutschland herrscht.“ Die letzte Bemerkung trifft den entscheidenden Punkt. Das Feindbild Russland bzw. Putin steht felsenfest und gilt als Eintrittskarte für alle, die sich an der öffentlichen Diskussion beteiligen wollen. Und hier wird selbst minimale Abweichung bestraft, sogar eine, die die Ziele im Groben teilt und die sich der westlichen Feindschaftserklärung anschließt (das Recht ist ja laut Manifest auf der Seite der Ukraine wg. völkerrechtswidrigem Angriffskrieg Russlands).

Nebenbei: Wenn Israel einen völkerrechtswidrigen Angriff auf den Iran startet, hebt der SPD-Außenpolitiker Mützenich als Erstes hervor: „Israel war immer bedroht und hat das Recht, auf Angriffe zu reagieren.“ Dann kommt eine leichte Relativierung, die aber keinesfalls die Parteilichkeit für die israelische Seite aufkündigen will: Das Selbstverteidigungsrecht für Länder sei gebunden an eine „unmittelbar bevorstehende Gefahr einer existentiellen Bedrohung“. Es lägen keine öffentlich verfügbaren Informationen vor, dass der Iran Israel angreifen würde. Das wird im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Thema sein.

Sehr differenziert auch, wie Manifest-Unterzeichner Stegner auf das Statement von Merz zu Israels Angriffskrieg reagierte. Er äußerte Bedenken hinsichtlich der Formulierung von Merz in Sachen „Drecksarbeit“: „Mit einer solchen Diktion suggeriert Herr Merz selbst, dass die militärische Attacke Netanjahus gegen den Iran mutmaßlich völkerrechtswidrig war … Da ist für einen Vertreter Deutschlands jedwede öffentlich geäußerte Erleichterung völlig unangebracht. Das gilt erst recht, wenn man die fraglos erheblichen Eskalationsgefahren mit einbezieht.“ Beide SPD-Dissidenten erteilen dem Publikum also eine Lektion, wie das Programm „Verteidigungsfähigkeit“, das sie unterstützen, zu verstehen ist. Im Fall des Falles, wenn man es also mit einem besonders bösartigen Gegner zu tun hat, ist Angriff eben die beste Verteidigung.

Natürlich müssen „wir“ Israels Bedrohungsgefühle ernst nehmen, heißt heute das Fazit der deutschen Erinnerungskultur: 6 Millionen tote Juden mahnen uns zu bedingungsloser Solidarität mit einem Staat, der von sich behauptet, er sei die Heimstatt aller Juden (was empirisch allerdings nicht zu halten ist). 27 Millionen tote Sowjetmenschen, die aufs Konto des „Unternehmen Barbarossa“ gehen, also beim deutschen Vernichtungskrieg gegen die slawischen Untermenschen anfielen, mahnen uns zu gar nichts. Und dass in Russland angesichts der deutschen Aufrüstung Bedrohungsgefühle aufkommen, ist völlig unerklärlich. Man darf gespannt sein, mit welchen drastischen Worten am 22.6., dem einschlägigen Gedenktag, Bundespräsident Steinmeier Putin wieder davor warnen wird, die damalige genozidale Untat Deutschlands für den russischen Nationalismus zu instrumentalisieren. So etwas darf nämlich nur Netanjahu (und dürfen natürlich „wir“ – die Weltmeister der nationalen Läuterung).

Ein bisschen Frieden…

In der deutschen Gegenöffentlichkeit stieß das Manifest, wie IVA berichtete, an vielen Stellen (NachDenkSeiten, Telepolis…) auf wohlwollende Aufnahme. Besonders gelungen ein Kommentar bei Overton („Kann die SPD ihren selbstzerstörerischen Niedergang noch aufhalten?“), der gleich mit der Überschrift die primäre Sorge der Manifest-Autoren erkennen ließ: Es geht vor allem um das Erscheinungsbild der Partei, die sich im Niedergang sieht, um Probleme von Mitglieder- und Profilschwund – wie das Fazit der „Kritischen Randglossen“ aus der „Sagt Nein!“-Initiative hieß. Bei Overton durfte dann Peter Brandt, der Sohn des ehemaligen SPD-Kanzlers, ein paar Tage später nachlegen und seine Zustimmung zum Anliegen der Manifest-Autoren äußern. Auch hier wurde deutlich, dass es dem Manifest weniger darum geht, den Frieden, und mehr darum, die SPD zu retten. Denn, so Brandts alarmierendes Fazit: „Eine Schrumpfung der SPD bis zur Bedeutungslosigkeit ist nicht auszuschließen; es gibt Beispiele aus anderen Ländern. Das wäre ein Unglück. Europa braucht eine starke Sozialdemokratie.“

Explizit in diesem Sinne, als Wiederbelebung einer maroden Partei, soll man die Manifest-Kritik verstehen, so Mützenich. Er betonte – als Antwort auf die massive Zurechtweisung durch Pistorius –, „das Manifest sei als innerparteilicher Debattenbeitrag gedacht, und forderte ‚einen respektvollen Umgang mit den Unterzeichnern‘. Er nenne ‚Befürworter von massiver Aufrüstung auch nicht Kriegstreiber‘. Sein Ziel sei es nicht, ‚ein Stachel im Fleisch der SPD oder der Koalition zu sein‘. Er wolle aber die Standpunkte, für die er bereits sein ganzes Leben ringe, ‚weiterhin einbringen‘.“ (Junge Welt, 14./15.6.25). Ins selber Horn stieß Manifest-Kollege Stegner. Er „forderte eine Debatte dazu auf dem Parteitag. ‚Wenn wir als SPD nicht Richtung zehn Prozent rutschen wollen, müssen wir darüber diskutieren, wie wir uns für Frieden und Abrüstung einsetzen‘, sagte er. (JW)

Gerade angesichts dieser konstruktiven Haltung stellen die Reaktionen aus SPD-Führung und Regierungslager auf die SPD-Dissidenten einen Fall beispielloser Hetze dar. Sie sind, wie gesagt, nur erklärlich aus dem bedingungslosen Schulterschluss, der der Nation bei der Kriegsvorbereitung gegen Russland abverlangt wird und der gegenüber einem traditionellen Friedensidealismus, wie er etwa auch in den Gewerkschaften zuhause ist, durchgesetzt werden muss. Die NachDenkSeiten haben dazu eine Blütenlese gebracht, die einen das Gruseln lehrt.

Tobias Riegel hat bei den NachDenkSeiten zudem einen Kommentar veröffentlicht, der vor allem den Vorwurf der „Realitätsverweigerung“ kontert. Er weist darauf hin, wie das Nato-Narrativ mittlerweile regelrecht verbietet, die Realitäten zur Kenntnis zu nehmen, die zum Ukrainekrieg geführt haben. Und heute, so sein Fazit, „haben die momentan parteiübergreifend so dominanten Militaristen in Medien und Politik nichts Konstruktives anzubieten für die Zeit nach dem Ukrainekrieg. Und je offener ihr Mangel an belastbaren Argumenten und an Bezug zur selber beschworenen ‚Realität‘ zutage tritt, umso gehässiger werden ihre Reaktionen gegenüber Andersdenkenden, die die komfortable propagandistische Eindeutigkeit infrage stellen.“

Man könnte noch hinzufügen, dass das Manifest vor allem Wertorientierungen, staatsmännische Ideale und Handlungsmaßstäbe zur Sprache bringen will, die für die Politik zu gelten haben. Es beansprucht gar nicht (zumindest nicht in erster Linie), eine Analyse des derzeitigen Konfliktgeschehens vorzulegen, erinnert die Partei vielmehr an ihre Grundwerte, also an Positionsbestimmungen, die gegen eine schlechte Realität gesetzt werden und die Hoffnung auf eine bessere, sozialdemokratisch angeleitete Zukunft machen sollen.

Die Junge Welt hat die Kritik von „Sagt nein!“ unter dem Titel „Ein bisschen Frieden“ veröffentlicht, also in polemischer Anspielung auf den berühmten Song von Nicole (die Älteren erinnern sich), mit dem Deutschland einmal – in der „Nachrüstungs“-Ära – den Platz 1 beim Grand Prix belegte. „Ein bisschen Frieden, ein bisschen Träumen und dass die Menschen nicht so oft weinen“. Tja, dass SPD-Genossen einmal auf Ihresgleichen losgehen, weil die es wagen, von einer besseren Welt zu träumen; dass der fromme Wunsch einer Nicole einmal den massiven Protest der Staatsgewalt hervorruft und den Medienbetrieb wie gleichgeschaltet erscheinen lässt – wer hätte das gedacht. Aber so ist heute die Lage, wo ja auch eine Ulrike Guérot mit ihrem Essay übers „Endspiel Europa“, der uns lehren will, wie wir wieder von Europa „träumen können“, aus der Wissenschaftler-Gemeinde ausgeschlossen wird. Heutzutage sind nur martialische Ideale angesagt. Der Traum von einer besseren Welt geht nur (siehe die Ansagen vom ersten Veteranentag) mit viel Respekt vor der Soldateska.

Vor nun gut 100 Jahren gab es von enttäuschten SPD-Anhängern, von USPD und KPD, die Parole: „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!“ Es war die Zeit, als die Arbeiterbewegung aus der Oppositionsrolle im imperialistischen Staat heraustrat und zu ihrer nationalen Bestimmung fand. Damit begann ihre moderne Erfolgsgeschichte. Mit der unter Anleitung der SPD durchgesetzten gewerkschaftlichen Burgfriedenspolitik entstanden z.B. die Vorläufer der Betriebsräte – die Arbeiterausschüsse. Sie waren eine Konzession der Unternehmen und wurden im Ersten Weltkrieg in allen kriegsrelevanten Unternehmen eingeführt.

Overton hat dazu jüngst einige Informationen beigesteuert: „Das erste Betriebsrätegesetz gab es 1920, nachdem nach Kriegsende und der demokratischen Revolution die SPD-Regierung alle Räte, die auf eine Änderung der Eigentumsordnung aus waren, durch die Reichswehr hatte zusammenschießen lassen.“ Diese Erfolgsgeschichte soll jetzt, siehe die Warnung von Brandt jr. und den Manifest-Autoren, an ihr Ende kommen? Ein Deutschland ohne diese Partei? Nicht auszudenken!


Ob heißer oder kalter Krieg – Die SPD bleibt stets Friedenspartei

Im Juni sorgt ein „Manifest“ aus „SPD-Friedenskreisen“ für Aufsehen. Aus der oppositionellen Verdi-Initiative „Sagt NEIN!“ kommt Kritik an dem Papier. Dazu hier einige Hinweise.

Seit Anfang Juni kursiert in Teilen der SPD und in DGB-Gewerkschaften ein „Manifest“, verfasst von „SPD-Friedenskreisen“. Diese verstehen sich als Beratungsgremium, „das in regelmäßigen Abständen zusammenkommt, um über Fragen der SPD-Friedenspolitik zu beraten“. Am 10. Juni bringt dann der „Stern“ das Papier mit einer gewissen Alarmrhetorik in die Öffentlichkeit, was für die passende Aufregung sorgt. Angeblich stellen sich hier „etliche prominente Genossen… frontal gegen die Pläne von Regierung und SPD-Spitze.“ (Stern)

Die „Frankfurter Rundschau“ (12.6.25) bringt das groß als Aufmacher. „Kampfansage mit Abrüstungsaufruf“ heißt die Überschrift. Zitiert wird natürlich gleich Verteidigungsminister Pistorius, der feststellt: „Dieses Papier ist Realitätsverweigerung“. Das sieht der Leitartikel so ähnlich, wenn er die Forderung zitiert, „wieder ins Gespräch mit Russland zu kommen, auch über eine von allen getragene und von allen respektierte Friedens- und Sicherheitsordnung für Europa“. Dazu heißt es dann abschließend: „Dass der russische Präsident Putin bisher kein Interesse an einem solchen Waffenstillstand zeigt, wird nicht erwähnt.“ (FR) Der Kommentar der „Frankfurter Allgemeinen“ weiß es natürlich sofort: „Realitätsverweigerung“ (FAZ, 12.6.25) Die Autoren des Manifests seien als „Sicherheitsrisiko für Deutschland und Europa“ einzustufen, als „Tauben am Tor zur Hölle“, wie der Spruch von Kanzler Scholz, Pazifisten seinen „Engel aus der Hölle“, zeitgemäß abgewandelt wird.

Zeter und Mordio kommt von der Bildzeitung. Im Kommentar heißt es: „Als hätte es Putin mitgeschrieben“. Was die SPD-Friedenskreise „hier fabriziert haben, liest sich wie ein Strategiepapier aus dem Kreml selbst. Ziel: den Westen schwächen und Russlands aggressive und expansive Außenpolitik rechtfertigen.“ Auch der „Spiegel“ sieht hier einen Affront gegenüber der Regierungslinie und posaunt groß ins Land: „Prominente SPD-Politiker stellen sich gegen Außenpolitik der Bundesregierung“, während andere Medien als besonderes Novum vermelden, dass SPD-Politiker „Gespräche mit Russland“ fordern.

Wenn also der kleinere Koalitionspartner will – oder genau so der größere –, kann man damit einen – kleineren oder größeren – Koalitionsstreit inszenieren, der die Öffentlichkeit dann mit Fragen der nationalen Interessenabwägung beschäftigt. Momentan sieht es freilich nicht so aus, als wollte die SPD-Führung daraus einen Skandal machen. Geteilt wird das Aufwärmen alter friedenspolitischer Ideale natürlich nicht. Aber dass in der Partei diskutiert wird, sei nicht zu beanstanden, hört man z.B. von maßgeblichen Leuten. Und demnächst ist SPD-Parteitag, da passt es doch ganz gut, dass das Profil der SPD in der Öffentlichkeit zum Thema wird.

Einspruch von „Sagt nein!“

In der Gegenöffentlichkeit, die es in Deutschland ja auch noch gibt, stieß das Manifest an vielen Stellen (NachDenkSeiten, Telepolis…) auf wohlwollende Aufnahme. Besonders gelungen der Kommentar bei Overton: „Kann die SPD ihren selbstzerstörerischen Niedergang noch aufhalten?“ So hieß dort die Überschrift und ließ die primäre Sorge der Manifest-Autoren erkennen: Es geht vor allem um das Erscheinungsbild der Partei, die sich im Niedergang sieht, um Probleme von Mitglieder- und Profilschwund.

Auf Mobilisierung von Protest ist das Manifest nicht berechnet, „sondern von Wählerstimmen“, hieß es dazu in kritischen Randglossen, die das Gewerkschaftsforum veröffentlicht hat. Es handle sich um denselben „Fall wie bei der grünen Jugend, wozu Ole Nymoen jüngst bei Jacobin seinen Kommentar ‚Nein, die Grünen haben nicht plötzlich ihr Gewissen wiederentdeckt‘ veröffentlichte. SPD-Miglieder entdecken Notwendigkeiten des Stimmenfangs. Ist man abgewählt oder – wie die SPD – eine Partei im Niedergang, muss man sich eben wieder um neue Wählerschichten oder verloren gegangene Stammwähler kümmern, mal alte Ideale aufwärmen, sich bei mal ‚progressiven‘ Jungwählern interessant machen, überhaupt eigene Duftmarken setzen. Für dieses trostlose Geschäft kann man dann auch abgehalfterte oder abgemeldete Parteipolitiker brauchen. Und davon soll man sich angesprochen fühlen? Das sollen oppositionelle Stimmen in Gewerkschaftskreisen unterstützen?“

So das Resümee der besagten Randglossen, die aus der antimilitaristischen gewerkschaftlichen Basisinitiative „Sagt NEIN!“ bei Verdi stammen an. Siehe dazu den Aufruf dieser oppositionellen Initiative, den bereits 25.000 Menschen unterzeichnet haben. IVA hat mehrfach auf die Initiative hingewiesen, zuletzt etwa unter „Antikriegsprotest von Gewerkschaften und Linken“. Die Randglossen gehen die Argumentation des Manifests im Einzelnen durch und weisen nach, dass es sich hier keinesfalls um eine Opposition gegen den gegenwärtigen deutscheuropäischen Kurs der Kriegsvorbereitung handelt, sondern um einen Versuch – das Bekenntnis zu Verteidigungsfähigkeit und Rüstungskontrolle steht ja an erster Stelle –, die gegenwärtige Regierungslinie mit einigen handelsüblichen Friedensidealen (bzw. Reminiszenzen an die gute alte Zeit) anzureichern.

P.S. Schon traurig, dass in der hiesigen Gegenöffentlichkeit eine solche Pseudoopposition Anklang findet. Doch kommen auch hier noch kritische Stimmen zu Wort. Overton z.B. nimmt einen Tag später in einem Kommentar die Ansage von „Vorkriegszeiten“ aufs Korn. „Die Regierung will in den nächsten vier Jahren Kriegstüchtigkeit erreichen“, heißt es da. Aufgeblättert wird das gigantische deutscheuropäische Aufrüstungsvorhaben und somit gerät die offizielle Regierungslinie ins Visier, mit der die SPD ungerührt von Stimmungen in der Bevölkerung oder an der Parteibasis die Konfrontation mit Russland vorantreibt. Und da wird ein Klartext geredet, den man in dem SPD-Manifest vermisst. Was Gegenbewegungen in Gewerkschaften betrifft, sieht es auch nicht ganz trostlos aus – zumindest wenn man sich kritische Stimmen aus anderen europäischen Ländern anhört. Aus Arbeiterorganisationen und Linksparteien, inklusive Sozialisten aus Frankreich oder England, kommt jetzt z.B. das Statement „Europäische Gewerkschafter und Politiker sprechen sich gegen Krieg, Aufrüstung und Kahlschlag aus.“ So lautet ein aktueller Aufruf, der sich „explizit an die Arbeiterklasse“ wendet und der kein Blatt vor den Mund nimmt.


Jugend ans Gewehr!

Im Juni-Heft von Konkret erschien ein Beitrag von Johannes Schillo über die gegenwärtige Wehrdienst-Debatte. Dazu hier einige Nachträge.

Die Wehrpflicht kommt wieder, so der Einstieg eines aktuellen Kommentars zur Wehrdienst-Debatte, der in der Monatszeitschrift Konkret erschienen ist. Das Juni-Heft (Nr. 6/25) geht auch auf sonstige Maßnahmen zur „Militarisierung der Herzen“ und auf den Aufbruch der „Verantwortungs“-Koalition (z.B. deren „Nähe zur AfD“) ein.

Seit der „Zeitenwende“ wird ja die Notwendigkeit eines Wehrdienstes, der junge Menschen an die Bundeswehr heranführt, allenthalben betont, wobei eigentlich nur noch der Zeitpunkt der (Wieder-)Einführung offen ist. Zustimmung gibt es von rechts bis links. Sie reicht von der AfD ( Weidel: „Anstatt Waffen an die Ukraine zu liefern … eine zweijährige Wehrpflicht“) und der neuen Koalition, wie von Merz in seiner Regierungserklärung noch einmal bekräftigt, über die „Freiheitsdienst“-Idee der Grünen bis hin zu Bodo Ramelow, der schon im März 2022 für eine allgemeine Wehrpflicht votierte, während sich der Generalinspekteur der Bundeswehr dagegen aussprach. FDP-Lindner hatte seinerzeit auch widersprochen, doch mittlerweile können Liberale dem Pflicht-Gedanken ebenfalls einiges abgewinnen.

Seit dem Beginn des Ukrainekriegs sind dabei unterschiedliche Modelle, in Regierungskreisen mit Vorliebe nach Art des schwedischen Auswahlverfahrens, in der Diskussion. Im CDU/CSU-Wahlprogramm wurde eine „aufwachsende Wehrpflicht“ gefordert, während das Verteidigungsministerium, auch wenn seinem Kanzler das Vertrauen fehlte, schon mal am Aufwuchs zu arbeiten begann. Pistorius jedenfalls wies noch Ende 2024 seine Behörde an, „die Parameter zur Einführung eines neuen Wehrdienstes weiter auszuplanen und gemeinsam mit der Umsetzung zu beginnen“.

Am besten: Nur willige Helfer

Der Koalitionsvertrag hat jetzt – „zunächst“, wie es der Kompromiss der Koalitionäre formuliert – Klarheit geschaffen, auch wenn gleich aus CDU oder CSU Einspruch gegen die SPD-Auslegung des Vertragstextes kam. Dort heißt die einschlägige Passage: „Wir schaffen einen neuen attraktiven Wehrdienst, der zunächst auf Freiwilligkeit basiert.“ Die Freiwilligkeit gilt demnach nur vorläufig. Geschuldet ist das der Tatsache, dass, wie die Militärs vermelden, die notwendigen bürokratischen Strukturen, die Kasernen und Ausbilder fehlen – von Fragen der Arbeitsmarktsituation oder der Geschlechtergerechtigkeit ganz abgesehen.

Vielleicht geht aber alles auch viel schneller. Unionsfraktionsvize Röttgen z.B. will die Regierungspläne für die Rekrutierungsoffensive nachschärfen, wie er nach der Regierungserklärung in der Welt unter dem Aufmacher „Es ist eine Revolution nötig“ mitteilte: „Sollte Freiwilligkeit nicht ausreichen, müsse schon jetzt eine Wehrpflicht im Gesetz verankert werden. ‚Die Instrumente, auf die wir zurückgreifen, wenn der Versuch der Freiwilligkeit nicht zum Erfolg führen sollte, müssen jetzt schon geschaffen werden‘… Es müsse ‚im neuen Wehrdienstgesetz bereits ausformuliert werden, dass, sollte der Weg der Freiwilligkeit keinen Erfolg bringen, andernfalls eine Pflicht greift. Denn wir haben jetzt nicht die Zeit, es zwei Jahre zu versuchen und erst danach die Alternative vorzubereiten‘.“ (Junge Welt, 26.5.25)

Klar ist somit, dass die Wehrpflicht kommt, erneuert, erweitert, verbessert, wie auch immer. Der Koalitionsvertrag formuliert: „Wir werden noch in diesem Jahr die Voraussetzungen für eine Wehrerfassung und Wehrüberwachung schaffen.“ Zur Zeit ist erst einmal der Versand eines Fragebogens an die junge Generation vorgesehen: Beantwortung für Männer obligatorisch, für Frauen freiwillig! Gefragt wird, wie es mit Einstellung und Fähigkeiten in puncto Wehrwillen aussieht. Auf dieser Basis will die Bundeswehr dann entscheiden, wen sie nimmt – natürlich nur die Besten der Besten und die Willigen.

Eine Militarisierung der Zivilgesellschaft ist das so oder so, wie immer die Regelungen im Einzelnen aussehen. Ein umfassendes Bild der betreffenden Generation und ihrer Stellung zum neuen Leitbild Kriegstüchtigkeit wird verfügbar. Vielleicht braucht dann gar keine eigene Wehrerfassungs-Bürokratie mehr installiert zu werden; wie bei der Grundsteuerreform müssen die Betroffenen selber dafür sorgen, dass dem Staat alle Daten vorliegen. Entscheidend aber ist: So sind alle Jugendlichen – auch diejenigen, die von der Bundeswehrwerbung innerhalb und außerhalb der Schule noch nicht erreicht wurden – auf Stand gebracht, wissen also, dass militärische Resilienz, auch wenn sie noch individuelle Wahlmöglichkeiten zulässt, unabdingbar ist.

Und trostloser Weise reicht der Konsens, dass man fürs Vaterland einzustehen hat, bis in die Friedensbewegung. Deren Zeitschrift FriedensForum, die ihr KDV-Schwerpunktheft Nr. 2/25 mit dem kontrafaktischen Slogan „Kriegsdienstverweigerung ist Menschenrecht – immer und überall“ aufmachte, stellte als „das beste Buch zur Wehrpflicht“ die Erinnerungen eines Totalverweigerers vor (FF 2/25, S. 32). Der blickt auf seine Jugendideale zurück, mit denen er sich damals gegen die „vom Staat geforderte Pflicht“ wandte, „am Irrsinn der wechselseitigen Vernichtungsdrohung mitzuwirken“. Heute ist der Mann geläutert: Pazifismus sei passé, da die Welt „kriegerischer“ geworden sei und man sich nicht dem Imperialismus Putins unterwerfen dürfe; deshalb sei die „militärische Verteidigungsfähigkeit der BRD“ unverzichtbar samt Maßnahmen zu einem nationalen Schulterschluss. Nur eine Einschränkung macht der Ex-Pazifist: „Eine Wehrpflicht darf nicht zu diesen Maßnahmen zählen.“

Im Allgemeinen ist somit Konsens: Wenn das Vaterland ruft, muss man antworten. Und zur Propagierung des neuen militaristischen Leitbildes tut die Bundeswehr auch einiges. So wird am 15. Juni zum ersten Mal in der BRD der neu geschaffene nationale „Veteranentag“ begangen. Ab jetzt sollen, wie die Zuständigen mitteilen, jedes Jahr „die Veteraninnen und Veteranen der Bundeswehr geehrt und ihnen somit mehr Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit verschafft werden“. Ende des Monats folgt dann der Aktionstag der Bundeswehr 2025. Dazu vermeldet das Ministerium: „Die Bundeswehr steht ganz im Dienst der Bürgerinnen und Bürger Deutschlands. Als Armee der Demokratie ist sie in der Gesellschaft verwurzelt. Doch viele Menschen kommen nur selten mit dem Militär in Kontakt. Einmal im Jahr lässt sich das ändern: Am Tag der Bundeswehr öffnen die Streitkräfte ihre Tore für alle Interessierten.“

Der Werbung für die Bundeswehr ist also bei Jugendlichen Tür und Tor geöffnet, ob mit oder ohne Jugendoffizier. Der Dienst an der Waffe ist geboten und außerdem eine geile Sache. Denn bei uns – wir leben ja in einer freiheitlichen Marktwirtschaft – hat man die freie Auswahl, jedenfalls zur Zeit noch und in einem gewissen Rahmen. Da darf sogar ein Ole Nymoen mit seinem Buch „Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde“ in TV-Talkshows auftreten, um den Schein einer Wahlmöglichkeit in Sachen Vaterlandsliebe bzw. mögliche Verirrungen im Jungvolk zu illustrieren. Als junger Mensch soll man eben „sein Ding“ finden und den Bund auch mal als einen attraktiven Arbeitgeber betrachten, bei dem man als Halbwüchsiger mit einem Sold von 2.700 Euro einsteigt. So liebevoll nachgezeichnet im Bildzeitungs-Porträt eines „Vorzeigejungen“ (der bei Overton gewürdigt wurde): „Ich bin 16 und will zum Bund. Meine Eltern sind entsetzt“ (BamS, 6.4.25). Das passt zum Koalitionsvertrag, in dem es heißt: „Für die neue Ausgestaltung dieses Dienstes sind die Kriterien Attraktivität, Sinnhaftigkeit und Beitrag zur Aufwuchsfähigkeit leitend. Wertschätzung durch anspruchsvollen Dienst, verbunden mit Qualifikationsmöglichkeiten, werden die Bereitschaft zum Wehrdienst dauerhaft steigern.“

Gleichgültig übrigens dagegen, dass Jugendliche, wenn man sich ans Völkerrecht hielte, hier nichts verloren haben. Laut UN-Kinderrechtskonvention müssen Kinder – zu denen alle Minderjährigen unter 18 zählen – eigentlich vorm Militärdienst geschützt werden. Eine Konvention aus dem Jahr 1959, die die BRD 1992 nur mit Einschränkungen ratifizierte (was etwa die geringeren Rechte minderjähriger Flüchtlinge betraf) und bei der sie in puncto Wehrdienst jetzt wieder Ausnahmeregelungen in Anspruch nimmt. „Was viele nicht wissen“, meldete jüngst der Sender RBB: „Bereits mit 17 darf man Zeitsoldat werden – vorausgesetzt, die Eltern stimmen zu. Laut eigenen Angaben stellte die Bundeswehr im vergangenen Jahr 2.203 Soldatinnen und Soldaten im Alter von 17 Jahren ein. Sie machten damit rund zehn Prozent der Neueinstellungen aus.“

Für solche Ausnahmen, die mit dem besonderen Charakter dieses Minderjährigen-Dienstes begründet werden, rügte der zuständige UN-Ausschuss die Bundesregierung mehrfach Junge Welt, 29.1.25). Hierzulande stört das aber kaum jemand, auch nicht die RBB-Redakteure. Denn Aufregung über Kindersoldaten findet ihr Material doch nicht bei uns! Sondern in Afrika oder sonstwo im Busch. Da wird dann schon mal ein kongolesischer Milizenchef vom Internationalen Strafgerichtshof wegen der „Rekrutierung von Kindersoldaten“ verurteilt – „ein Meilenstein in der internationalen Rechtsprechung“, wie Amnesty International den Schuldspruch aus dem Jahr 2012 lobte…

Vaterland verpflichtet

Die Pflicht steht sowieso felsenfest und im Kriegsfall der Zwang, der nicht darauf wartet, bis sich die Nationalhelden melden. Die ganze Zivilgesellschaft wird auf diesen Fall hin jetzt durchgemustert. Greift in ihr an allen denkbaren Stellen – vom (Daten-)Verkehr über Wirtschaft, Bildung, Gesundheitswesen, Medien bis hin zur Seelsorge – die militärische Logik, ist also, wie es heißt, Resilienz gegeben? Dazu gibt es seit 2025 den neuen „Operationsplan Deutschland“ (OPLAN DEU). Dessen Ziel ist ein Gesamtverteidigungskonzept für die „Drehscheibe Deutschland“, bei dem es um den „Heimatschutz“ als Bestandteil neuer Rahmenrichtlinien für die Gesamtverteidigung geht. Der Plan versteht sich als Instrument der Herbeiführung einer gesamtgesellschaftlichen Kultur, in der Krieg akzeptiert und als Teil des gesellschaftlichen Lebens aktiv (mit-)gestaltet wird. Es gehe darum, zu begreifen, „dass militärische Gewalt überhaupt zum Wohle der Welt und zur Förderung legitimer nationaler Interessen Deutschlands eingesetzt werden sollte“, so Militärexperte Franz-Stefan Gady (zum einschlägigen Expertentum siehe auch die Übersicht im FriedensForum, Nr. 3/25).

Insofern läuft alles nach einer Übergangsphase auf die Allgemeine Wehrpflicht hinaus, wie das FriedensForum konstatiert: „Die Ausdehnung der Wehrpflicht auf Frauen ist ebenfalls zu befürchten. Auch das KDV-Anerkennunsverfahren könnte dann wieder für alle Verweigerer gelten“ – mit all den „Hürden und Beschränkungen“, die der Gesetzgeber im Adenauer-Staat vorausschauend eingebaut hat und die schon mal Ablehnungsquoten von 40 % ermöglichten. Hinzu kommen heute weitere Klarstellungen im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg: Schon im Vorkriegsfall – wenn geschossen wird, erst recht – ist alles unter einen militärischen Vorbehalt gestellt. Was das für praktische Konsequenzen hat, machen etwa die Asyl-Anträge russischer Kriegsdienstverweigerer beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) deutlich, die reihenweise abgelehnt werden. Ähnliche Signale gab es Anfang 2025 im Kontext eines Beschlusses zur Abschiebung eines ukrainischen Kriegsdienstverweigerers (siehe Nachdenkseiten vom 26.2.25). Der Bundesgerichtshof hielt dessen Abschiebung in ein Kriegsgebiet für rechtens – ein Beschluss mit „politischer Handschrift“, wie Kritiker monierten. Der BGH hält es „auch nach deutschem Verfassungsrecht nicht von vornherein (für) undenkbar, dass Wehrpflichtige in außerordentlicher Lage zusätzlichen Einschränkungen unterliegen und in letzter Konsequenz sogar gehindert sein könnten, den Kriegsdienst an der Waffe aus Gewissensgründen zu verweigern.“

Im Not-, also Kriegsfall, wird alles zur Front und wann dieser Fall eintritt, entscheidet die Obrigkeit. Die wird auch dafür sorgen, dass juristische Querelen, wie sie sich am BGH-Entscheid festmachen, die Kriegführung nicht stören. Die von der Friedensbewegung geäußerte Hoffnung, mit der Wiedereinführung der Wehrpflicht gäbe es auch wieder die Chance, „erneut für das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung ohne jegliche Einschränkung zu streiten“, täuscht sich also über die Möglichkeiten erlaubter Kriegsgegnerschaft. Erlaubt ist die nämlich gerade nicht, sondern nur die persönliche Ausnahme von einer anerkannten und anzuerkennenden Notwendigkeit. Zugelassen ist allein die gewissensmäßige Haltung zum staatlichen Zwang, wie sie in klassischer Form der genannte Totalverweigerer vorführt: Mitmachen beim Einsatz für Deutschland ist selbstverständlich, jetzt auch beim „Irrsinn“ der Vernichtung, aber wo der Einzelne seinen Platz findet und ob er eine Waffe oder Verbandszeug in der Hand hält, da darf er mitreden!

Verweigerung erlaubt, aber…

Verweigerung bleibt eine Möglichkeit, Sand ins Getriebe zu werfen. Das kann man zugestehen, jedenfalls gilt das für Friedenszeiten und für die Länder, in denen das Recht existiert. Im Kriegsfall sieht es anders aus. Die Menschenrechtsbeauftragte der Vereinten Nationen (OHCHR) hat z.B. Ende 2024 auf den Tatbestand verwiesen, „dass die Möglichkeit, den Kriegsdienst zu verweigern, in der Ukraine nicht besteht“. Theoretisch gibt es sie laut Verfassung (ähnlich wie in Russland, wo ein KDV-Antrag bis zur Einberufung gestellt werden kann), aber faktisch werde sie vom Kiewer Regime weitgehend außer Kraft gesetzt, sei nur als Ausnahmefall bei einem speziellen religiösen Bekenntnis möglich. Doch welche nennenswerte Religionsgemeinschaft verbietet ihren Mitgliedern schon den Dienst an der Waffe? Für Gewissensprobleme ist doch im Kriegsfall die Militärseelsorge zuständig. Und die christlichen Kirchen haben in zwei Weltkriegen eine veritable Kriegstheologie entwickelt, die dem Militärdienst treu zur Seite steht.

IVA hatte schon Anfang des Jahres darauf hingewiesen, was die Erlaubnis, den Dienst an der Waffe „aus Gewissensgründen“ zu verweigern, faktisch bedeutet. Verlangt ist eben ein Treuebekenntnis zum Dienst am Vaterland, das mit einer persönlichen Ausnahme, aber nicht mit einer Absage an eine kriegsträchtige Politik verbunden werden darf. Die Notwendigkeiten der Vaterlandsverteidigung dürfen dadurch nicht beeinträchtigt werden, wie noch einmal der oben genannte BGH-Beschluss klargestellt hat. Martin Singe von der Friedenskooperative hat die damit verbundenen juristischen Fragen jüngst aufgegriffen und gegen diese Auslegung, die sich auch auf einen Entscheid des Bundesverfassungsgerichts beruft, Stellung bezogen.

Der Autor aus der Friedensbewegung muss allerdings konzedieren, „dass die eine Einberufung aufschiebende Wirkung von KDV-Antragstellungen nach herrschender Gesetzeslage im Kriegsfall nicht mehr gilt“. Es treffe auch zu, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem einschlägigen Entscheid offen gelassen hat, ob nicht im Kriegsfall andere Regeln für das KDV-Anerkennungsverfahren zu erlassen wären. Aber die Konsequenz, die der BGH daraus zieht, sei nicht haltbar, so die Kritik. Hier werde ein Verfassungsbruch ins Auge gefasst. Moniert wird die Feststellung des BGH: „Angesichts dessen erachtet es der Senat für – jedenfalls prinzipiell – nicht undenkbar, dass ungeachtet des besonders hohen Rangs der in Art. 4 GG verbürgten Gewissensfreiheit auch die deutsche verfassungsrechtliche Ordnung es gestatten oder sogar erfordern könnte, den Schutz des Kriegsdienstverweigerungsrechts in außerordentlicher Lage gegenüber anderen hochrangigen Verfassungswerten zurücktreten zu lassen.“

Die Kritik an dieser Position beruft sich auf abweichende staatsrechtliche Meinungen, wie sie etwa die Verfassungsrechtlerin Kathrin Groh – ihres Zeichens Professorin an der Bundeswehrhochschule München – in einem Kommentar zu dem BGH-Beschluss dargelegt hat. Eine direkte Außerkraftsetzung des KDV-Rechts im Notstandsfall hält die Expertin für nicht vertretbar. Aber – dann kommt die große Einschränkung: Verfassungsrechtlich sei schon klar, dass der Schutz des Vaterlandes ein höchstrangiger Wert ist. Insofern liege der BGH nicht ganz falsch. Groh: „Es ist richtig, dass die Bürger eines Staates dessen geborene Verteidiger sind. Die Annahme dahinter ist, dass das Volk in Waffen für seinen Staat zuverlässig kämpfen wird, da es mit ihm zugleich auch den Schutz seiner eigenen Freiheiten und Werte gegen äußere Angreifer verteidigt.“ Das betreffende Rechtsbewusstsein gehe dann bei der konkreten Auslegung solcher Grundsätze mit der Zeit und müsste heute – eigentlich – mehr Respekt vor dem Grundrechte-Katalog im Grundgesetz zeigen, meint Groh.

Entscheidend ist aber, wie die Bundeswehrprofessorin mitteilt, dass das Prüfungsverfahren für die Verweigerer im KDV-Gesetz als Verwaltungsverfahren „ausgestaltet ist“. Es soll nicht nur sicherstellen, dass allein „diejenigen als Kriegsdienstverweigerer anerkannt werden, bei denen mit hinreichender Sicherheit die Ernsthaftigkeit ihrer Gewissensentscheidung festgestellt werden kann“, sondern bietet zugleich die verfassungskonforme „Stellschraube“, mit „der Einschränkungen des Grundrechts“ zu bewirken sind. Der „Strengegrad der Gewissenserforschung“ ist eben Sache der Behörden, die hier recht frei mit Ablehnung der Anträge bzw. Abschreckung der Kandidaten operieren können. „Um die kollidierenden Verfassungsgüter der effektiven Landesverteidigung und der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr zu schützen, durften früher inquisitorische Befragungen der Verweigerer durchgeführt werden.“ (Groh)

Und wenn die Militarisierung der Gesellschaft fortschreitet, ist es eine einfache Übung, auf dem Verwaltungswege an der Stellschraube zu drehen und Personal für die Prüfungsausschüsse zu finden bzw. einzuweisen, das im Verweigerer sofort den „Lumpenpazifisten“ (Spiegel) oder den „Engel aus der Hölle“ (Scholz) erkennt. Dass dieser Zeitgeist Platz greift, dass moderne Experten eine regelrechte Militärethik etablieren, die die „Dämonisierung des Krieges“ überwindet und damit pazifistische Gewissensregungen per se dubios erscheinen lässt, hat Norbert Wohlfahrt jüngst in seinem Beitrag „Geistige Verrohung ‒ ein Streifzug durch die aktuelle Kriegsliteratur“ (Z – Zeitschrift für marxistische Erneuerung, Nr. 142, 2025) dargelegt. Und dieser Zeitgeist dürfte sich dann auch in neuen Entscheidungen der Justiz, beim BGH oder Verfassungsgericht niederschlagen.


Mai

Ein Nachtrag zum Gedenktag 8. Mai

„Der 8. Mai in Deutschland“ lautet ein aktueller Kommentar von Renate Dillmann zur deutschen Erinnerungskultur. Dazu hier ein Nachtrag.

Unter dem Motto „Geschichtsvergessen? Von wegen!“ kritisiert Renate Dillmann im Overton-Magazin die diesjährigen Verrenkungen der deutschen Politik, das Ende des Zweiten Weltkriegs mit einem würdevollen Gedenken zu besülzen und das gleichzeitig ins erneuerte antirussische Feindbild einzubauen. In dem Kommentar gibt es auch zahlreiche Links zu früheren Beiträgen im Overton-Magazin, die sich mit dem Thema befassten. Von dort kann man dann weiter surfen, z.B. auf Beiträge, die bei Telepolis, dem Vorläufer von Overton, erschienen waren.

Das heißt, man kann das, sofern die Beiträge noch greifbar sind. Denn der neue Tp-Redakteur Neuber hat, wie er erklärte, Zehntausende ältere Texte mit einer Sperre aus dem Verkehr gezogen, um sie anhand der neuen redaktionellen Qualitätsmaßstäbe zu überprüfen. Ein Vorgang, der einige Mutmaßungen im Hinblick auf die Zensur in den sozialen Medien auslöste. Sogar die FAZ (27.3.25) zeigte sich von dieser „Qualitätsoffensive“ irritiert und hielt fest: „Welche Texte wieder veröffentlicht werden, bleibt unklar.“ Ein Kommentar aus der IVA-Redaktion zu diesem ungewöhnlichen redaktionellen Vorgang erschien unter dem Titel „Zensur auf dem Vormarsch. Auch bei Telepolis?“ im Overton-Magazin.

Wenn man von Dillmanns aktueller Wortmeldung ausgehend weitersurft, stößt man in den älteren Texten auch auf einen Fall, wo ein Link zu Telepolis, so wie es zur Zeit aussieht, nicht weiter führt, der betreffende Text also nicht mehr greifbar ist. Es handelt sich um „Kulturkampf von rechts“? von Johannes Schillo, erschienen im Februar 2020. Unter dem Motto „Bedenkliches Gedenken im heutigen Deutschland, jetzt auch angesichts der deutschen Opfer – der Fall Dresden“ wurde dort die Entwicklung der legendären deutschen Erinnerungskultur kommentiert, die mittlerweile weiter fortgeschritten ist und heute nur so vor Selbstgerechtigkeit strotzt. IVA macht hier diesen Text aus dem Jahr 2020 wieder zugänglich.

Kulturkampf von rechts?

Die deutsche „Erinnerungskultur“ lobt sich über den grünen Klee. Beim Auschwitz-Gedenktag 2020 [1] wurde es regelrecht peinlich, als Bundespräsident Steinmeier im Deutschen Bundestag das „Wunder der Versöhnung“ beschwor und diese Selbstbeweihräucherung allseits – die AfD eingeschlossen – unwidersprochen durchging. Steinmeier hatte bereits bei seinem Auftritt in Israel auf dem World Holocaust Forum das Leitmotiv geliefert. Demnach war damals „das Böse“ für die Ermordung der europäischen Juden verantwortlich; es wurde zwar 1945, als das Gute siegte, weitgehend ausgerottet, aber irgendwo fanden die „bösen Geister der Vergangenheit“ Unterschlupf und machen sich heute wieder bemerkbar.

Apropos „Gepriesen sei der Herr“, wie Steinmeier seine Rede in Yad Vashem begann. Mal von Mensch zu Mensch gefragt: Wer würde damit an einem Ort antreten, wo der Ermordung von Millionen Menschen gedacht wird? Statt Trauer, Erschütterung, Zerknirschung an erster Stelle Lobpreisung! Und wenn man sich schon auf einen Urheber und Lenker aller menschlichen Geschicke beziehen (und dies bei einem Staatsakt zur Sprache bringen) will, wie wär‘s mit: Herr, wo warst du? Herr, wie konntest du das zulassen? Herr, warum schweigst du? Herr, was bist du für einer – derselbe vor, während und nach Auschwitz, per saecula saeculorum? Selbst Jesus soll am Kreuz gerufen haben: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Herrgott noch mal, tausend Fragen oder Stoßseufzer würden einem einfallen, aber doch nicht ein Preis des Herrn!

Israels Staatspräsident Rivlin stellte Deutschland bei der Feierstunde im Bundestag ein wohlwollendes Zeugnis aus, das schon arg nach Lobhudelei roch: „Leuchtturm“ freiheitlicher Werte in Europa und international, Merkel „die Führerin der freien Welt“, Verantwortung für alles Gute, namentlich beim Schutz freiheitlicher Werte, beim Klimaschutz oder bei der Sorge um Geflüchtete. Letzteres war natürlich eine Provokation in Richtung AfD-Bundestagsfraktion, die aber bei allem brav mitklatschte – und die sich am Schluss sogar, als Rivlin Differenzen zur deutschen Regierung in der Iranfrage ansprach, bestätigt sehen konnte. Dass mehr Schutz für Israel, also im Klartext mehr Hass und Gewalt gegen das iranische Regime nötig sei, hatte sie ja vorher schon verlautbart. So führte sich die AfD dann im Bundestag ganz manierlich auf, ließ alles über sich ergehen und saß die Feierstunde einfach ab. Wenn die Erinnerungskultur zu national aufbauenden Ergebnissen führt, kann anscheinend auch die AfD Positives an ihr entdecken? Dann muss vielleicht nicht die von Höcke angekündigte 180-Grad-Wende erfolgen, dann reichen ein paar neue Akzentsetzungen?

Gestörtes Gedenken

Für das rechte Lager, für die AfD, aber auch für die rechtsintellektuelle Szene, die sich parteiübergreifend bemerkbar macht, für militantere Gruppierungen wie die NPD oder die Identitären, bleibt aber die von Höcke und Co. als „Schuldkult“ angegriffene Vergangenheitsbewältigung weiterhin eine Herausforderung – der sie sich stellen und die sie nicht einfach wie bei den Gedenkveranstaltungen im Januar 2020 übergehen wollen. Deutlich wurde dies zuletzt noch einmal, als die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin [2] am 6. Februar 2020 Alarm schlug. Sie legte eine Handreichung „Zum Umgang mit dem Kulturkampf von rechts in Gedenkstätten und Museen“ vor, die sich den zahlreichen Angriffen auf die etablierte historisch-politische Bildung in Sachen NS widmet und Praxisanregungen für den Umgang mit rechtsextremen oder rechtspopulistischen Störversuchen bei Führungen gibt, Reaktionsweisen auf öffentliche Provokationen vorschlägt sowie auf parlamentarische Initiativen der AfD, die „disruptiv“ in bestehende Förderstrukturen eingreifen.

Der rechte Angriff – das ist wohl der wichtigste Punkt der neueren Entwicklung – erschöpft sich heute nicht mehr in schlichter Holocaustleugnung. Als vor mehr als 40 Jahren das Adolf-Grimme-Institut Pädagogen und Pädagoginnen, Vertreter des Bundesjugendrings, der Erwachsenenbildung etc. einlud, um über Interventionsmaßnahmen der Bildungsarbeit angesichts rechtsradikaler Umtriebe bei der Ausstrahlung der US-amerikanischen TV-Serie „Holocaust“ zu diskutieren, stand die Klarstellung der Faktenlage im Vordergrund: Gegen die pure Leugnung der Judenvernichtung, gegen die Behauptung von der (in Hollywood produzierten) Propagandalüge sollten Zeitzeugen, Filme, Fotos und andere Dokumente aufgeboten werden. Heute ist die Lage anders – und das nicht nur, weil Holocaustleugnung inzwischen unter Strafe steht. Heute stellen Schüler und andere Besucher „gezielt geschichtsrevisionistische Fragen“, wollen die Mitarbeiter der Gedenkstätten „provozieren und aufs Glatteis führen“, sind mehr an „Relativierungen“ interessiert, leugnen z.B. nicht die Zahl der Toten, sondern führen fallweise als „hauptsächlichen Grund dafür die Bombardierung der Verkehrswege durch die Alliierten an – das hätte zu einer Lebensmittelkrise geführt, sodass die SS die Häftlinge gar nicht habe retten können“. Das führte ein Verantwortlicher der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten als Beispiel für aktuelle Zwischenfälle an (vgl. Der Spiegel, Nr. 3, 2020).

Die MBR-Veröffentlichung bestätigt diese Einschätzung. Immer wieder würden in Gedenkstätten rechtsextreme oder -populistische Besucher „die nationalsozialistischen Verbrechen verharmlosen oder sogar leugnen oder die heutige BRD mit der DDR gleichsetzen“; sie würden zudem Gedenkveranstaltungen stören oder instrumentalisieren, wobei „zentraler Akteur in diesem ‚Kampf um die Geschichte‘ gegenwärtig vor allem die AfD“ sei. Das Fazit von MBR lautet: „Der Kulturkampf ist in vollem Gange, und mit ihm der massive Angriff auf die kritische Geschichtskultur“. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Gedenkstätten wollen natürlich nicht aufgeben, sie wollen ihre Anstrengungen verstärken; sie wollen „Haltung“ (auch so ein Modewort der neueren Debatte) zeigen. Der niedersächsische Experte konkretisierte das im „Spiegel“: Die historisch-politische Bildung müsste sich umstellen; das „würdigende Gedenken“ sei zwar die Hauptsache, doch müssten jetzt auch weitere Fragen – „Wie konnten diese Verbrechen eigentlich geschehen? Wie funktionierte die Gesellschaft im Nationalsozialismus?“ – hinzukommen.

Wie geht historische Bildung?

Diese Beschwerden und Aufforderungen haben allerdings etwas Merkwürdiges an sich. Erstens stellt sich gleich die Frage: Was soll denn eine Gedenkstätte Anderes vermitteln als die Aufklärung darüber, woher das politische Programm der nationalsozialistischen Judenvernichtung stammte und wie es gesellschaftlich umgesetzt wurde? Der ganze Sinn und Zweck einer vernünftigen Erinnerungskultur (im Unterschied zur Trauer der Angehörigen oder zum Totenkult religiöser Gemeinschaften) besteht doch darin, Aufschluss über die Schrecken der Vergangenheit zu gewinnen, damit die Triebkräfte von Krieg und Massenmord dingfest gemacht und von den heute Lebenden – falls solche Kräfte weiter eine Rolle spielen – aus der Welt geschafft werden können. Das ist anscheinend in der deutschen Erinnerungskultur nicht selbstverständlich. Das diesjährige Auschwitz-Gedenken hat ja, siehe oben, gezeigt, dass eher an Mystifikationen von der Macht des „Bösen“ gearbeitet wird – jedenfalls von den Auftraggebern, die die betreffenden Aktivitäten institutionalisieren und mit Leitlinien versehen.

Bei denjenigen, die historisch-politische Bildung betreiben, sind da schon seit längerem Zweifel laut geworden [3], ob z.B. die deutsche „Vergangenheitsbewältigung“, wie sie in der alten Bundesrepublik hieß, das dicke Lob, das ihr von oben gespendet wird, überhaupt verdient. Ist der Erinnerungsbetrieb wirklich – wie er von sich behauptet – frei von geschichtspolitischen Instrumentalisierungen ist? Zeigt nicht die Art und Weise, wie die Politiker sich seiner bedienen, dass es vor allem um den Nutzen für die Selbstdarstellung des heutigen Deutschland geht?

Zweitens – und damit kommt man zu einem brandaktuellen Thema des hiesigen Gedenkens, das am kommenden Wochenende Dresden anlässlich des 75. Jahrestags der Bombardierung durch die Alliierten beschäftigen wird – ist das pädagogische Problem, das aus der niedersächsischen Gedenkstätte mitgeteilt wurde, verräterisch: Wie geht man mit der Tatsache um, dass die Alliierten gezielt die deutsche Zivilbevölkerung (plus Infrastruktur) bombardierten? Also das Verbrechen begingen, das heute immer Völkermördern wie Assad als das prinzipiell Böse vorgehalten wird und das sie als „Schurkenstaaten“ aus der Gemeinde der Good Governance exkommuniziert: Zivilisten töten, mit Massenvernichtungsmitteln Wohnviertel und Infrastruktur zerstören und dies fortführen, bis alles in Schutt und Asche liegt.

Für einen historisch bewanderten Menschen müsste die erste Antwort auf die oben genannte Schüler-Provokation eine leichte Übung sein: Es gab damals das NS-Programm der Endlösung der Judenfrage und der Ausmerzung sonstigen unwerten Lebens, dafür und für die Beseitigung jedes Widerstandes wurden KZ‘s eingerichtet – und nicht um Menschen zu versorgen. Die Anti-Hitler-Koalition kämpfte dieses Regime – wegen seines großenteils schon realisierten imperialistischen Anspruchs – nieder, und da bis zuletzt kein nennenswerte Widerstand in Deutschland aufkam, setzte sie alle Kriegsmittel wie gehabt ein. Aber da beginnt das Problem.

Der Fall Dresden

Der „Spiegel“ (Nr. 7, 2020) benennt es im Vorfeld des Dresdener Gedenkens. Der Bundespräsident muss ja wieder auftreten, aber „in Berlin heißt es, er tue sich schwer, den richtigen Ton zu finden: deutsche Opfer, deutsche Schuld. Der Kampf um die Deutungshoheit über das Gedenken an Dresden – er geht in die nächste Runde“. Mit diesem Kampf ist der Streit mit den Rechten und mit deren Ansinnen gemeint, Dresden und die deutsche Bevölkerung als Opfer eines alliierten „Bombenholocausts“ in Szene zu setzen. Interessanter Weise informiert der „Spiegel“ aber als Erstes darüber – ist das die neue Ehrlichkeit nach Relotius? –, dass er selber maßgeblich daran beteiligt war, eine solche Inszenierung auf den Weg zu bringen; 1963 schrieb er unter Angabe falscher Zahlen (bis zu 200.000 Todesopfer sollten es gewesen sein) von einem „sinnlosen Terrorakt“; ein Jahr später sprach die „Zeit“ vom „wahrscheinlich größten Massenmord der gesamten Menschheitsgeschichte“. Neben solchen Anschuldigungen nehmen sich die heutigen Rechtspopulisten, die auf die Anerkennung deutscher Not pochen, eher wie brave Bürger aus!

Die Zahlen sind mittlerweile korrigiert. Auch wenn letzte Sicherheit wohl nicht herzustellen ist, soll nach der sechsjährigen Arbeit einer Historikerkommission, die von Dresdens Oberbürgermeister berufen wurde, die Opferzahl – wie auch in den ersten, internen NS-Meldungen weitergegeben – bei rund 25.000 liegen. Insofern wäre alles geklärt, für den „Spiegel“ aber nicht, denn „Trauer bemisst sich nicht an Zahlen, Trauer ist Trauer.“ Das Problem steckt nämlich gar nicht in den Zahlen, sondern in einer anderen Gefahr: „Mit Dresden konnte man den Eindruck erwecken, die Sieger des Krieges seien auch nicht besser als die Verlierer.“ In der Tat, man kann das nicht nur. Aus der Kenntnisnahme des militärischen Vorgehens der Alliierten ergibt sich vielmehr die banale Tatsache, dass sie genau dieselben Kriegsmittel einsetzten wie die Gegenseite.

Das „Moral Bombing“ der deutschen Städte durch RAF und USAAF war ein Mittel im totalen Krieg. In ihm werden Staaten als Feinde definiert und damit ihr gesamtes Potenzial, ihr Land und ihre Leute, zum Abschuss freigegeben. Dabei gibt es, seitdem der Krieg total geworden ist, noch das Kuriosum eines Kriegsvölkerrechts, das nur die auf militärische Notwendigkeiten, also den Erfolg, bezogenen Maßnahmen für zulässig erklärt, was hin und wieder (nachträglich) zu Kriegsverbrecherprozessen führt. Im Flächenbombardement der Alliierten wurde genau die übliche Kriegslogik exekutiert, als Notwendigkeit einer erfolgreiche Durchsetzung: Man greift das Volk als Basis der Herrschaft an, setzt auf maximale Zerstörung, die sich an keinem humanitären Gesichtspunkt relativiert.

Über diese Kriegskalkulationen können Geschichtslehrer und -lehrerinnen natürlich ohne Weiteres Auskunft geben. Was bei solchen Auskünften aber unterbleibt, ist die Moralisierung, wie sie jetzt wieder beim Auschwitz-Gedenken zur Hochform auflief. Mit dem Bild vom „absolut Bösen“ soll ja gleich das Gegenbild von der Güte der Demokratie erzeugt werden – also einer politischen Herrschaft, die nur so von Werten und Humanität strotzt. Wenn man historisch korrekt die Kriegskalkulationen der damaligen Mächte nachverfolgt, geht diese Mystifizierung als Kampf der Guten gegen die Bösen verloren. Dann stößt man auf die Machenschaften konkurrierender Großmächte, auf die Rivalitäten imperialistischer Weltordnungsansprüche, auf Störenfriede, die vom Standpunkt der etablierten Mächte als „revisionistisch“ (d.h. um Revisionen der bestehenden Staatenhierarchie bemüht) einzustufen waren etc. Dass die Rote Armee das KZ Auschwitz befreite und die Anti-Hitler-Koalition die deutsche Bevölkerung den Klauen eines rassistischen Regimes entriss, war dabei sicher nicht das Kriegsziel. (Diese Dinge zählten zu den Wirkungen, über die man als Nachgeborener natürlich erleichtert sein dürfte.)

Die Abwendung vom üblichen Moralismus durch sachliche Aufklärung hat aber noch eine andere Seite. Der Publizist Eric Schlosser, allem Anschein nach ein braver amerikanischer Patriot, hat 2013 eine aufwändige Studie über die amerikanische Atomrüstung seit dem Zweiten Weltkrieg vorgelegt, in der er – vor allem zur Aufklärung jüngerer Leser – die Verdienste der „ordinary man and women“ würdigen will, „who helped to avert the nuclear holocaust“, indem sie ständig am Rande des Kriegsausbruchs lavierend die Interkontinentalraketen beaufsichtigten, warteten, reparierten etc. Im ersten Kapitel zeigt Schlosser, wie aus den Auseinandersetzungen um das „area bombing“, aus den Erfahrungen der „Feuerstürme“ beim (konventionellen) Bombardement Hamburgs, Dresdens oder Tokios, die amerikanische Atomstrategie hervorging, die immer auf eins berechnet war: auf maximale Zerstörungs- und Tötungskraft.

Davon ist übrigens nichts veraltet. Wenn man sich die offiziellen US-Dokumente wie die National Security Strategy (2017), die National Defense Strategy (2018), die Nuclear Posture Review (2018) oder die Missile Defense Review (2019) ansieht, dann ist die Massenvernichtung weiter im atomaren US-Programm, ergänzt um eine Kriegsführungsoption, die die Abschreckung der anderen Seite – das ist heute vor allem wieder Russland – um die Sicherheit ergänzen will, dass man selber vom Einsatz der ultimativen Waffe nicht abgeschreckt wird. An solche aktuellen Vorgänge zu erinnern – die zur Zeit im einem gigantischen, gegen Osten gerichteten Manöver der NATO [5] als Übung anstehen – und so den Krieg als aktuelles Problem namhaft zu machen, wäre natürlich unanständig in einer Erinnerungskultur, die die Guten von den Bösen trennen will.

Nachweise

[1] Siehe: „Das Böse“ – Teil der deutschen Identität, Migazin, 2.2.2020, https://www.migazin.de/2020/01/30/auschwitz-gedenken-das-boese-teil/)

[2] MBR – Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin, Nur Schnee von gestern? Zum Umgang mit dem Kulturkampf von rechts in Gedenkstätten und Museen. Berlin 2019 (Zitate: S. 1, S. 45), online: mbr-berlin.de, die Broschüre ist als Download erhältlich.

[3] Siehe: Alles bewältigt? Eine „Erinnerungskultur“, die Deutschland dient, Auswege-Magazin, 27.11.2019, https://www.magazin-auswege.de/2019/11/eine-erinnerungskultur-die-deutschland-dient/; Pädagogik gegen rechts, ächz, IVA, Juni 2017, https://www.i-v-a.net/doku.php?id=texts17#paedagogik_gegen_rechts_aechz.

[4] Eric Schlosser, Command and Control – Nuclear weapons, the Damascus Accident and the illusion of safety (deutsche Ausgabe bei C.H.Beck), New York 2013 (Zitate: S. XIV, S. 45). Siehe vor allem den Abschnitt „Megadeath“ (S. 119ff) über die Atomkriegsplanung der USA und den Experten Fred Charles Iklé, der die Bombardierung von deutschen Wohngebieten im Zweiten Weltkrieg untersuchte und die Mängel einer bloßen „Dehousing“-Strategie herausstellte, da sie immer noch einen gewissen Prozentsatz an Überlebenden zuließ; diese Überlebenschance galt es in einer auf Totalvernichtung ausgelegten Nuklearstrategie möglichst zu beseitigen.

[5] Es handelte sich um das Manöver „Defender Europe 2020“, das von westlicher Seite die neueste Zuspitzung in Osteuropa mit vorbereitete.


Ein Diskussionsvorschlag in Sachen Rüstungs-„Wahnsinn“

Zur Diskussion um den Aufruf „Den Wahnsinn stoppen!“ aus der Gewerkschaftsopposition gab es zuletzt einen Beitrag von der „Sagt-nein!“-Initiative. Hier ein Vorschlag zur Fortsetzung der Diskussion von Johannes Schillo.

Den Aufruf „Den Wahnsinn stoppen!“, der sich gegen den Kurs der Aufrüstung und Kriegsvorbereitung in Deutschland wendet, veröffentlichte IVA samt einigen kritischen Anmerkungen im März 2025. Dem schlossen sich im April weitere Debattenbeiträge an, zuletzt eine Stellungnahme von Andreas B., Mitinitiator von „Sagt Nein!“, anknüpfend an die Replik von IVA auf Fritz H. Hier ein Vorschlag zur Fortsetzung der Diskussion, der versucht, Konsens- und Dissens-Punkte zu benennen.

Faschistische Gefahr nicht verharmlosen!

Andreas B. stimmt einerseits der Kritik von IVA zu, die davor warnte, sich gerade in der gegenwärtigen Lage der Kriegsplanung gegen Russland an die Regierenden – d.h. zuletzt die Ampel, mittlerweile die neue große Koalition – zu wenden und ein Verbot aller faschistischen Organisationen zu fordern. Eine derartige überparteiliche Initiative, bezogen auf die AfD, gab es ja im alten Bundestag und gibt es jetzt auch im neu gewählten, forciert von einem CDU-Politiker. Dabei wird eine entsprechende Antragstellung zur Zeit von einem Gutachten des Verfassungsschutzes abhängig gemacht und bedarf wohl auch noch der Abstimmung mit dem neuen Innenminister. An diese „politisch Verantwortlichen“, also u.a. an einen CSU-Politiker Dobrindt (Verfasser des „Konservativen Manifests“, das seinerzeit mit seiner Bezugnahme auf die „Konservative Revolution“ der AfD den Rang ablaufen wollte), zu appellieren und von ihnen ein solches Verbot zu fordern, hält auch Andreas B. für einen Fehler.

Andererseits kann er der Forderung – „taktisch“ gesehen – dann doch etwas abgewinnen, wenn sie „im Rahmen einer zu formulierenden antiautoritären, antimilitaristischen und emanzipatorischen Gesamtstrategie“ stattfände; und er wendet sich ebenfalls gegen die von IVA zur Charakterisierung der AfD gewählten Begriffe „rechtspopulistische Querschläger“, „Störenfriede“ oder „Vertreter eines dissidenten Standpunkts“, da diese der „verharmlosenden bürgerlichen Propaganda entsprechen und damit desorientierend wirken“. Frage: Ist damit wirklich eine sachlich begründete Differenz zur IVA-Kritik ausgedrückt?

  • Der Aufruf fordert ein staatliches Verbot, also eine Aktion des Rechtsstaates, so wie wir sie in der BRD mit der in der Verfassung vorgesehenen Möglichkeit eines Parteienverbots (praktiziert bei SRP, KPD) kennen. Käme dieses Verbot, würde es mit Sicherheit ins Extremismuskonzept des Staatsschutzes eingebaut, wäre also eine weitere Maßnahme, mit der (wie Andreas B. an anderer Stelle beklagt) „die Gesellschaft autoritär formiert wird“. Also wäre die Linke davon doch erstens genauso betroffen? Und wenn zweitens aus der Arbeiter- oder Gewerkschaftsbewegung eine antifaschistische Aktion entstehenden würde, müsste diese doch einen ganz anderen Charakter haben? Dann wäre doch nicht ein repressiver Akt des Staates angezeigt, sondern eine überzeugende Ansprache der Bevölkerung, sich gegen Nationalismus in Wort und Tat zur Wehr zu setzen?
  • Die IVA-Rede von den „rechtspopulistische Störenfrieden“ ist nicht als abschließende Analyse des deutschen Rechtsradikalismus Anno Domini 2025 gemeint, sondern soll das aufspießen, was den offiziell angesagten „Kampf gegen rechts“ motiviert: Bei den politischen Inhalten gibt es zwischen den etablierten Parteien und der AfD kaum einen Unterschied, die legendäre Brandmauer ist „halluziniert“ (Andreas B.); sie ist eine Simulation, wie IVA zuletzt in Beiträgen zur Bundestagswahl ausgeführt hat. Bekämpfung der „irregulären Migration“ war ja das einigende Band aller Parteien (bis auf die Linke) im Bundestagswahlkampf. Was „die Etablierten“ also stört, ist die Tatsache einer nationalen Opposition, die eine gewisse Breitenwirkung erzielt und die die AfD parlamentarisch zu vereinnahmen versucht. Bei Andreas B. wird das unter Nr. 2, 7 und 8 auch angesprochen: Ein „allgemeines Unwohlsein“ stellt sich der forcierten Aufrüstung zwar nicht direkt in den Weg, weiß aber eine nationale Alternative anzugeben (kurz gesagt: mit Russland verhandeln und von dort wieder billige Energie beziehen statt teure aus den USA), was sowohl der offiziell angesagten antirussischen Feindschaft wie dem betreffenden Feindbild in die Quere kommt. Also wird so etwas, genau wie Andreas B. formuliert, „vom Verfassungsschutz entsprechend direkt als ‚demokratiegefährdend‘ identifiziert“. Und in diesen Streit um nationale Erfolgswege soll man sich konstruktiv, für eine Seite parteiergreifend einmischen? Sind die schwarz-rot-grünen Kriegsplaner harmloser, für den Aufwuchs einer antikapitalistischen Bewegung besser als eine Herrschaft von Weidel und Co.?

Streitpunkt „Mörderische Marktwirtschaft“

Wahrscheinlich von größerem theoretischen Kaliber ist die Differenz, die bei der Erklärung der Kriegsgründe vorliegt. Genauer gesagt: bei der Antwort auf die Frage, warum im Kapitalismus, ob er jetzt auto- oder demokratisch regiert wird, Krieg permanent auf der Tagesordnung steht; also jeder Staat Aufrüstung betreibt, weil er virtuell von aggressiven Nachbarn bzw. global anspruchsvollen Rivalen/Hegemonen bedroht ist, sich daher vorbeugend gegen sie verteidigungsfähig machen muss, Eskalation bis zum nuklearer Holocaust inbegriffen – sofern die Waffen verfügbar sind und sei es auch nur auf dem Wege „nuklearer Teilhabe“ wie in der BRD. Dass dieses Bedrohungsszenario, das immer den andern (dem „bösen Nachbarn“) die Schuld gibt, eine Ideologie ist, kann man wohl als Konsens unter den Unterzeichnern und Unterzeichnerinnen des Aufrufs festhalten. Das Faktum dieser Kriegsträchtigkeit selber ist ja auch fast eine Trivialität; also die Tatsache, die der französische Sozialist Jean Jaurès vor dem Ersten Weltkrieg so gefasst hat: „Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.“ Selbst ein klerikal bornierter Mensch wie Papst Franziskus wusste: „Diese Wirtschaft tötet“ (was übrigens nicht, wie IVA in mehreren Beiträgen dargelegt hat, siehe zuletzt hier, mit Antikapitalismus zu verwechseln ist).

IVA hatte sich aber in dem Zusammenhang entschieden gegen die Rede von den „Kriegen des Kapitals“ gewandt und festgehalten: Kapitalisten sind geil auf Profit, nicht auf Krieg (selbst die Rüstungsindustrie wäre damit zufriedengestellt, wenn Waffen endlos angehäuft und moralischem oder reellem Verschleiß ausgesetzt wären); der Staat agiert dabei als „ideeller Gesamtkapitalist“ und macht sich in dieser Funktion seine ökonomische Grundlage, deren kapitalistische Haltbarkeit er hinten und vorne bedient, zur Verfügungsmasse, die er inklusive des zugehörigen Menschenmaterials und der natürlichen Lebensgrundlagen aufs Brutalste verheizt und verschleißt. Insofern ist die Montage „Kriege und Leichen – Die letzte Hoffnung der Reichen“ von John Heartfield (der mit seinem Bruder Wieland in der Weimarer Republik die moderne Kunst zur kommunistischen Agitation veredelte) zwar beeindruckend, politisch aber falsch. Die Montage findet man übrigens im Netz hier: Auf ihr schleicht die Bourgeoisie als Hyäne mit Zylinder und dem Orden „Pour le mérite“ übers leichenübersäte Schlachtfeld und sucht nach Beute. Der „Pour le mérite“ war übrigens, wie die betreffende Website anmerkt, der höchste preußische Kriegsorden. „Heartfield macht ihn zum ‚Pour le profit‘.“ Die Montage war ein Cover der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung (AIZ), die Ausgabe wurde 1932 beschlagnahmt „und erst auf Protest namhafter Schriftsteller und Künstler wieder freigegeben.“

In dieser Frage des Verhältnisses von Politik und Ökonomie gibt es Konsens mit Andreas B. und gleich wieder Dissens. Ja, der Staat ist der ideelle Gesamtkapitalist, wie die berühmte Formulierung von Friedrich Engels lautet; aber das sei dann, vor allem unter Krisenbedingungen, wieder zu präzisieren: „Im faulenden Stadium des Imperialismus“ werde der Krieg „systemisch“; im „Krisen- und Kriegsimperialismus“ übernehme der Staat „die zentrale Rolle zur Stimulierung, Dirigierung und teilweise auch Substituierung der Kapitalinvestitionen“, so dass er im Grunde zum reellen Gesamtkapitalisten wird. So heißt es dann nachher auch ganz konkret im Blick auf den Ukrainekrieg, das gegenseitige Abschlachten der Völker finde „auf Geheiß des Kapitals“ (Nr. 4) statt.

Nun könnte man hier in die Diskussion einsteigen und etwa danach fragen, ob sich denn das deutsche Kapital, das ja gerade von billigen russischen Energielieferungen profitierte, diesen Krieg bestellt hat? Konnten denn daran, wie es gleich weiter unter Nr. 4 heißt, „Energiekonzerne sowie die finanzierenden Banken und Investementfonds‘ Milliarden verdienen“? Mussten nicht einige Branchen enorme Verluste einstecken, die„uns“ jetzt zum Ärgernis aller guten Deutschen im dritten Jahr eine „Rezession“ bescheren? Und ist es nicht überhaupt so, dass das Kapital keine einheitliche Größe darstellt, vielmehr eine Einheit feindlicher Brüder ist, deren Gesamtinteresse vom Staat auch gegen einzelne durchgesetzt wird? Was Rheinmetall nützt, schadet eventuell VW etc. Dass Kapitalisten das gleiche Interesse – nach Profit – gegen die Arbeit vertreten, stiftet doch keine Identität in dem Sinne, dass sie ansonsten auch einen einheitlichen Standpunkt vertreten?

Das sollen aber nur einige Andeutungen sein, was sich an den bisherigen Diskussionsstand anschließen würde. Der Einfachheit halber hier bloß ein Vorschlag zum weiteren Vorgehen. Beim Videopodcast „99zu1“ haben Ole Nymoen und Fabian Lehr eine Diskussion geführt, die sich – im Schwerpunkt – genau mit diesen Fragen befasste ( Episode 503). Es ging darum: Wie sieht das Verhältnis der kapitalistischen Ökonomie zu einem Staat aus, dessen Räson darin besteht, genau dieser Ökonomie zu dienen? Wie kommt es hier zum ständigen bzw. ständig in Rechnung gestellten Übergang vom mehr oder weniger friedlichem Handel & Wandel zum Einsatz der Waffen?

Moderiert hat das Gespräch Arian Schiffer-Nasserie, der eingangs an das oben benannte Faktum der Kriegsträchtigkeit erinnert – aber auch an die frühbürgerliche Hoffnung, es werde mit Warenproduktion, -tausch und grenzüberschreitendem -handel eine Ära der allgemeinen Friedfertigkeit anbrechen. Wie gesagt, dass das eine Illusion ist, weiß heute im Grunde jeder. Antikapitalisten wissen zudem, wo die allgemeine Triebkraft für diesen monströsen Weltzustand zu finden ist. Aber was das konkret heißt – das zeigt die Debatte über den Aufruf gegen den Rüstungswahnsinn wie das Gespräch bei „99zu1“ – ist dann gar nicht so einfach zu bestimmen. Im betreffenden Videopodcast trat ein ähnliches Gemenge von Differenz und Übereinstimmung zu Tage wie in der hier angesprochenen Diskussion. Deshalb der Vorschlag an alle Interessenten: Schaut Euch den Beitrag bei „99zu1“ an. Dort werden wahrscheinlich weitere Sendungen folgen. Und IVA wird auch die Diskussion fortsetzen. Vorschläge oder Statements dazu sind willkommen.

P.S. Zum „Rüstungswahnsinn“

Ich weiß, wie die Rede vom „Wahnsinn“ der Rüstung gemeint ist: Der Aufruf appelliert an die arbeitende Menschheit, sich einmal im Blick auf die eigenen Interessen zu überlegen, zu welch ungeheuerlichem Unternehmen die Herrschenden sie abkommandieren wollen; für das Fußvolk, sagen wir, gibt es keinen vernünftigen Grund, bei Krieg und Kriegsvorbereitung mitzumachen. Die Rede vom Wahnsinn ist aber leider nahe bei dem erzbürgerlichen Topos von der „Sinnlosigkeit“ des Kriegs (mit dessen Kritik übrigens Ole Nymoen in seiner neuen Streitschrift einsteigt). Diese Klage hat ja sogar in Kriegszeiten Konjunktur: Immer sind es „Irre“ (Millossowitsch, Gaddafi, Saddam, Putin…), die grundlos Kriege vom Zaun brechen, so dass die auf eine regel- bzw. wertebasierte Ordnung eingeschworenen Staatenlenker Friedenseinsätze befehligen müssen, um diesem Wahnsinn Einhalt zu gebieten. Das wäre etwa – zusammen mit anderen Punkten – zu berücksichtigen, wenn weitere Initiativen zum Aufbau einer antikapitalistischen Antikriegsfront anstehen.


April

„Den Wahnsinn stoppen“ – Eine Debatte unter Kriegsgegnern

Gegen den atemberaubenden Aufrüstungskurs formiert sich Protest in deutschen Gewerkschaften. IVA hat den Aufruf „Den Wahnsinn stoppen!“ unterstützt, gleichzeitig aber Kritik angemeldet, was zu einer Korrespondenz geführt hat. Die wird hier mit einem Statement von Andreas B. aus der „Sagt-nein!“-Initiative fortgesetzt.

Kritische Gewerkschaftsinitiativen wie „Sagt nein!“ aus Verdi haben jüngst gemeinsam mit anderen oppositionellen Stimmen, vorwiegend aus dem antikapitalistischen Lager, den Aufruf „Gegen Krieg, Hochrüstung und Kriegswirtschaft!“ veröffentlicht. IVA hat diesen Aufruf unterstützt, aber auch Kritik angemeldet und diese unter „Den Wahnsinn stoppen!“ veröffentlicht. Daraufhin kamen Einwände von Fritz H., die zusammen mit einer Stellungnahme von IVA im April unter „Korrespondenz“ veröffentlicht wurden. Dazu gibt es jetzt eine weiteres Statement von Andreas B., Mitinitiator von „SAGT NEIN!“, das im Folgenden veröffentlicht wird. IVA wird diese Diskussion demnächst fortsetzen.

Liebe Genoss*innen,

„Den Wahnsinn stoppen!“ ist, wie sowohl Fritz als auch die Genoss*innen von IVA zu Recht feststellen, ausdrücklich ein Versuch, Gräben in der aktuellen Mobilisierung gegen die Kriegsunterstützung und die aktiven Kriegsvorbereitungen des EU- und BRD-Imperialismus zu überwinden und auf mögliche „gemeinsame“ Positionen zuzuspitzen. Dabei ist es dann nun einmal erfahrungsgemäß genau so, wie ihr schreibt, dass ein solcher Aufruf notwendigerweise Kompromisscharakter trägt und zugleich das Angebot beinhaltet, die weiter bestehenden Kontroversen auszutragen. Die bisherige Diskussion zeigt wichtige Differenzen im Verständnis des Verhältnisses von Staat, Kapital und Krieg – und verdient deshalb eine präzise, zugespitzte Antwort.

1. Die sogenannte „Zeitenwende“ ist kein zufälliger oder gar vermeidbarer Kurswechsel in der Politik, sondern der spezifisch „deutsche“ Ausdruck der strukturellen Transformation des Kapitalismus imperialistischen Stadiums im Krisenmodus der Auflösung der bipolaren in eine – wie auch immer geartete – multipolare globale (Un-)Ordnung, also des Übergangs vom libertären Neoliberalismus zur offenen Kriegswirtschaft. Dabei teile ich mit IVA die Einschätzung, dass der bürgerliche Staat nicht „einfach eine Marionette einzelner Kapitalisten“ ist, sondern als „ideeller Gesamtkapitalist“ agiert/agieren muss – doch der entscheidende Unterschied liegt in der Bewertung dieser Rolle: Die Rolle und Funktion des „ideellen Gesamtkapitalisten“ ist eben nicht nur abstrakter und systemimmanenter Sachzwang, sondern auch konkreter Ausdruck bürgerlicher Klassenherrschaft, deren Krise sich heute auch in den bisher davon eher wenig getroffenen Metropolen in zunehmender kriegerischer Eskalation, aggressiver weiterer Kriegsvorbereitung, Aufrüstung, sozialer und politischer Repression und fortschreitender gesellschaftlicher Faschisierung (da sind die AfD, FdI, RN, PiS & Co. nur die Spitze des Eisbergs) zuspitzt und entlädt.

2. Die Rolle des Staates wird mit der Zunahme der Krise und der innerimperialistischen Konkurrenz immer zentraler, um eine Wirtschaftsentwicklung im „nationalen Interesse“ zu garantieren. Und er bekommt auch wieder ein ideologisches Programm:

  • Statt des neoliberalen Selbstlaufes wurde (beginnend) in der „Coronapandemie“ der Staat zum autoritären Zuchtmeister zur „Sicherung des kollektiven (Über-)Lebens“ und des Schutzes plötzlich entdeckter „vulnerabler Gruppen“ – wie zynisch angesichts der millionenfach weltweit in Kriegen, vor Hunger und Durst und auf der Flucht Verreckenden!!
  • Von der letzten Bundesregierung wurde die „Einheit von Wirtschaft und Klimaschutz“ propagiert.
  • Heute sind es nackt die Anforderungen der Kriegsfähigkeit, gemäß denen die Gesellschaft autoritär formiert wird.

3. Genauso wie der patriarchale Kapitalist im Imperialismus zum funktionalen Agenten des Finanzkapitals geworden ist, übernimmt der kapitalistische Staat im Krisen- und Kriegskapitalismus die zentrale Rolle zur Stimulierung, Dirigierung und teilweise auch Substituierung der Kapitalinvestitionen, um die imperialistische Entwicklung zu garantieren. Die Kriegswirtschaft ist dabei der Keynesianismus der ökonomisch und militärisch schwachen Staaten (wie ehedem Nazideutschlands, um sich kriegsfähig zu machen, während die USA den New Deal hatten). Heute sind die USA militärisch (noch) dominierend und nutzen ihre Stellung, um ihre ökonomische Basis auf Kosten der Konkurrenz zu verbessern; seit MAGA auch ganz unmaskiert innerhalb der innerimperialistischen Konkurrenz mit der EU, was die so genannten Transatlantiker gerade noch erkennbar „verunsichert“… Der Plan Deutschlands und der EU namens „Green New Deal“ ist nicht zuletzt am chinesischen Vorsprung (Solaranlagen, Elektroautos…) gescheitert, so dass die EU/BRD jetzt auf den Panzer gekommen ist, während China seine Autoindustrie subventioniert…

4. IVA bleibt – bei aller ökonomiekritischen Klarheit – letztlich analytisch und politisch defensiv. Ihr beschreibt das Arrangement von Staat und Kapital, stellt bezüglich der zunehmenden globalen militärischen Eskalation und der Rolle der Regierenden als „mögliche Adressaten politischer Forderungen“ richtige Fragen, aber Ihr stellt dem keine für mich erkennbare Idee oder gar ein Konzept einer möglichen eigenständigen Klassenpolitik oder zumindest Orientierung entgegen. Genau das halte ich aber für dringend erforderlich. So, wie es 1916 auch Rosa Luxemburg mit ihrer „Juniusbroschüre“ versuchte, deren Aktualität heute unübersehbar ist. Aus ihrer Analyse folgt: „Die bloße Beendigung eines Krieges“ – sei sie durch Diplomatie, Waffenstillstand oder Sieg einer Seite erreicht – führt unter kapitalistischen Bedingungen zwangsläufig in die nächste militärische Eskalation. Denn der Militarismus ist kein Betriebsunfall, sondern ein notwendiges Produkt des kapitalistischen Klassenstaates. Das gilt umso mehr, je länger er sich historisch im faulenden Stadium des Imperialismus befindet. Die Forderung nach Abrüstung unter diesen Bedingungen erklärt Luxemburg daher zu Recht für „völlig utopisch“.

Was bedeutet das für unsere Debatte? Es reicht m.E. nicht, präzise zu analysieren, wie die imperialistischen Staaten – also die jeweiligen nationalen „ideellen Gesamtkapitalisten“ – jeweils die „nationalen“ wirtschaftlichen Interessen durchsetzen. Wir müssen begreifen, dass der imperialistische Krieg spätestens in der jetzt begonnenen historischen Phase selbst systemisch ist. Der Kapitalismus imperialistischen Stadiums hat eben nicht „versagt“, im Gegenteil: Er funktioniert gerade in der aktuellen Eskalation genauso, wie er funktionieren muss – in der Krise eben fast ausschließlich noch über Umweltvernutzung bis hin zu Klimakollaps, Aufrüstung, Eskalation, ideologischer Mobilmachung und in letzter Konsequenz: permanenter globaler Krieg; ohne dabei selbst die atomare Eskalation zu scheuen; sie im Gegenteil zunehmend technisch umsetzbar und damit politisch realisierbarer zu machen. Die Orientierung auf die staatlich induzierte Rüstungsproduktion kann zwar die Wirtschaft temporär ankurbeln und über den Waffenexport auch Profit generieren, die vorerst in den Kasernen verbleibenden Panzer können ihren Wert allerdings erst im Krieg zur Eroberung neuer Märkte oder der vernichtenden Vorbereitung des Wiederaufbaus realisieren. Insofern ist der Kriegskeynesianismus auch die direkte Vorstufe der kriegerischen Krisenlösung des Kapitals. Und gerade deshalb halte ich auch die von IVA kritisierte Heartfield-Zuspitzung „Krieg und Leichen, die Hoffnung der Reichen!“ ebenso wie Fritz nicht nur für sprachlich und politisch, sondern auch analytisch am Ende für präzise. Und eben darin offenbart sich die tödliche Konsequenz für die Arbeiter*innenklasse. Luxemburg schreibt: Der Krieg ist „nicht bloß ein grandioser Mord, sondern auch Selbstmord der europäischen Arbeiterklasse“. Auch heute sterben junge Menschen (überwiegend immer noch Männer) – Ukrainer*innen, Russen*innen und, eher früher als später, genau so wieder Deutsche – auf Geheiß des Kapitals, mit Nationalfahnen im Rucksack und Freiheitsparolen im Ohr, während Rüstungs- und Energiekonzerne sowie die finanzierenden Banken und Investmentfonds Milliarden verdienen.

5. Hierzulande wird der Ukrainekrieg zur „Verteidigung der Demokratie“, der „westlichen Werte“ oder gar „unserer Kultur“ verklärt – doch was wirklich verteidigt wird, ist ein ökonomisches und geopolitisches Herrschaftssystem in der Überlebenskrise. Die bürgerliche Demokratie ist der politische Ausdruck der bürgerlichen Warengesellschaft und nicht der sozialen Emanzipation. Schon 1844 schrieb Friedrich Engels: „Die demokratische Gleichheit ist eine Chimäre, der Kampf der Armen gegen die Reichen kann nicht auf dem Boden der Demokratie oder der Politik ausgekämpft werden.“ Vor diesem Hintergrund teile ich die berechtigten Zweifel von IVA an den Überlegungen von Fritz über die mögliche Bedeutung von „mehr oder weniger Demokratie“ als denkbarem Möglichkeitsraum für die Emanzipation der Arbeiter*innenklasse.

6. Die zunehmenden Kriegsherde weltweit sind die sich formierenden Fronten des dritten imperialistischen Weltverteilungskrieges. Auf den jeweils spezifisch geprägten Konfliktfeldern wirkt eine Gemengelage durchaus auch divergierender imperialistischer Interessen großer und kleiner Akteure, die sich – der im Kapitalismus zwangsläufigen Dynamik von Konkurrenz und Konzentration folgend – um die beiden dominierenden Machtblöcke (USA/NATO und ihre Verbündeten sowie China/Russland und ihre Verbündeten) gruppieren. In den ideologischen Argumentationslinien der Kriegsparteien gefangen, die tieferen ökonomischen Hintergründe des sich ausbreitenden Weltgemetzels ignorierend und vor allem bar jeder materialistischen Klassenanalyse dilettiert demgegenüber die sogenannte „Linke“ als ein Möchtergerndiplomat auf dem – im wahrsten Sinne des Wortes – in hellen Flammen stehenden weltgeschichtlichen Parkett. Sich daran zu beteiligen, führte nicht nur in die falsche Richtung, sondern direkt in den Sumpf der imperialistischen Diplomatie und des imperialistischen Krieges!

7. Gegen das sich immer offener und ungenierter selbst entlarvende kapitalistische Krisenregime der totalen warenförmigen Zurichtung und Hinrichtung wird zunehmend, auch in den Gewerkschaften und sogar auf den Straßen ein allgemeines, nationales Unwohlsein sicht- und hörbar; und vom so genannten Verfassungsschutz entsprechend direkt als „demokratiegefährdend“ identifiziert. Dieses bisher weitestgehend unorganisierte „Unwohlsein“ und „Aufmucken“ ist politisch ambivalent und reicht vom empörten Reflex gegen die aktuellen Verbrechen der verschiedenen Kriegsparteien bis zum Wunsch nach der Rückkehr in die „gute alte Zeit“ (zu Willy Brandt oder Erich Honecker oder gar noch weiter zurück, je nach den verwirrten Projektionen der Protagonist*innen). Abstrahiert von den beschriebenen ökonomischen Entwicklungsgesetzen des Kapitalismus und den tatsächlichen sozialen Klasseninteressen wird dabei meistens auf „Volksbewegungen“ orientiert oder die Nation als politischer Referenzrahmen konstruiert (gegen atomare Erstschlagswaffen auf DEUTSCHEM Boden, weil dadurch Deutschland zum Kriegsschauplatz würde; für die NATIONALE Befreiung Palästinas oder Kurdistans etc.). Hier mischen sich dann nicht selten die so klassischen wie „klassenlosen“ politischen Vorstellungen von „links und „rechts“.

8. Die tonangebenden Kapitalfraktionen des Militärisch-Industriellen-Digitalen-Komplexes in EU/Deutschland nutzen über ihre Einpeitscher*innen in der EU-Kommission, der Bundesregierung und insbesondere auch den Regierungen Polens und der baltischen Staaten die Ukraine als Frontstaat, nicht um das Völkerrecht zu schützen, sondern um geopolitisch verlorenes Terrain gegenüber Russland und China und mittlerweile auch ganz offen den USA zurückzuerobern – mit allen Mitteln, auch auf Kosten der eigenen Bevölkerung. Während Reallöhne sinken, Heizkosten explodieren und Sozialsysteme ausbluten, steigt der Aktienkurs von Rheinmetall & Co. um mehr als tausend Prozent, während die Gewerkschaften sich trotz zunehmenden Widerstandes in den eigenen Reihen mit ihrer kapitulantenhaften Burgfriedenspolitik erneut im vorauseilenden Gehorsam ihrer jeweils nationalen Bourgeoisien unterwerfen. Es gilt heute wie zur Zeit Luxemburgs: „Die Dividenden steigen, und die Proletarier fallen.“

9. Luxemburgs zentrale Erkenntnis bleibt unverzichtbar: Die Arbeiter*innenklasse darf „weder schweigen noch sich unterordnen“. Sie darf sich nicht von „Friedensappellen“ der Herrschenden einlullen lassen, denn „auch ein Waffenstillstand im Kapitalismus bedeutet bloß: Atempause vor der nächsten Aufrüstung“ (Luxemburg). Und sie darf sich nicht auf „diplomatische Rezepte“ einlassen, wie sich der Imperialismus „zähmen“ lasse. Deswegen bin ich persönlich zusammen mit IVA auch politisch inhaltlich anders als Fritz gegen jedwede Forderungen an die nationalen „politisch Verantwortlichen“. Aus den unter Nr. 6 genannten Gründen betrifft das insbesondere Forderungen nach „mehr Diplomatie“, „Abrüstung“ oder auch nach der „Durchsetzung des Völkerrechts“. Ebenso betrifft es aber die an den bürgerlichen Staat gestellte Forderung nach einem „Verbot der AfD“ – ganz jenseits der Tatsache, dass ich (wie Fritz) die von IVA in Bezug auf die AfD gewählten Begriffe „rechtspopulistische Querschläger“, „Störenfriede“ oder „Vertreter eines dissidenten Standpunkts“ irritierend finde, weil sie der verharmlosenden bürgerlichen Propaganda entsprechen und damit desorientierend wirken. Das schließt für mich bezüglich der „AfD-Verbotsforderung“ allerdings nicht aus, diese „taktisch“ im Rahmen einer zu formulierenden antiautoritären, antimilitaristischen und emanzipatorischen Gesamtstrategie und Generalkampflinie und ausschließlich zum Zwecke einer möglichen breiteren Mobilisierung wegen erwarteter „Anknüpfungsfähigkeit an das Alltagsbewusstsein“ in Erwägung zu ziehen; insofern komme ich nach wie vor mit dieser Forderung im Aufruf klar… Die von Seiten der Regierung und des „demokratischem Parteienkanons“ unter Verwässerung und Umdrehung des Schwurs von Buchenwald orchestrierten „Nie wieder ist jetzt!“-Demos im Vorfeld der Bundestagswahlen – bei gleichzeitigem finalen Abräumen der sowieso immer nur halluzinierten „Brandmauer gegen rechts“ am 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz im Deutschen Bundestag – lassen für mich jedoch auch die unverkennbaren Grenzen solchen „taktischen Verständnisses“ erkennen. Da bin ich dann wieder sehr bei IVA.

10. Internationale Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung scheiterten 1914 daran, den Krieg vom Klassenstandpunkt aus und mit dem „Blickwinkel des Proletariats“ zu kritisieren – und sie scheitern heute erneut. Statt sich dem bürgerlichen „Kampf für (mehr) Demokratie“ anzuschließen, muss eine emanzipatorische Linke endlich „den eigenen Klassenstandpunkt“ geltend machen. Sie muss aufhören, der Zeitenwende hinterherzurennen. Sie muss ihr etwas entgegensetzen – nicht taktisch, sondern grundsätzlich. Nicht reformistisch, sondern konkret revolutionär.

11. Solange die Arbeiter*innenklasse gespalten bleibt – national, ethnisch, ideologisch – wird sie zwischen den Fronten der imperialistischen Blöcke zerrieben. Was es braucht, ist nicht ein Appell für „mehr Diplomatie statt Aufrüstung“, nicht ein Verbot von AfD, FdI, RN, PiS & Co. oder ein „besseres Krisenmanagement“ durch „sozialere Politik“, sondern eine klassenbewusste, internationalistische Kraft, die sich allen Kriegsparteien entgegenstellt.

Krieg dem Kriege! Für die Überwindung der Verhältnisse, die ihn hervorbringen. Die Schlussworte aus der Juniusbroschüre bleiben daher das politisch Notwendige wie das moralisch Unverzichtbare: „Der Wahnwitz wird erst aufhören, und der blutige Spuk der Hölle wird verschwinden, wenn die Arbeiter in Deutschland und Frankreich, in England und Russland endlich aus ihrem Rausch erwachen, einander brüderlich die Hand reichen und den bestialischen Chorus der imperialistischen Kriegshetzer […] überdonnern: Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“


Antikriegsprotest von Gewerkschaften und Linken

Ende März gab es die Antikriegsdemo in Wiesbaden, jetzt stehen die Ostermärsche an und für den 1. Mai sind weitere Aktionen zu erwarten. Dazu ein Mitteilung der IVA-Redaktion.

Die neue Ansage der „Kriegsertüchtigung“ mit ihrer Konsequenz der Militarisierung „durchdringt alle zivilen Einrichtungen. Begleitet wird diese Drohkulisse von einer Verächtlichmachung angedachter Konzepte einer erneuerten europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung. Das erfüllt viele Menschen mit Sorgen und Ängsten. Diese Sorgen und Ängste finden in den Ostermärschen ein politisches Ventil.“ Das schreibt das Gewerkschaftsforum kurz vor den diesjährigen Ostermärschen. Es listet zudem alle einschlägigen Termine auf und betont die Notwendigkeit, sich an den Protesten zu beteiligen – auch wenn hier unterschiedliche Positionen zusammenkommen, die man nicht unbedingt teilt.

IVA sieht das ähnlich und hatte letztens anlässlich der Demo in Wiesbaden den Aufruf „Den Wahnsinn stoppen“ unterstützt und gleichzeitig Kritikpunkte benannt, was mittlerweile zu einer Diskussion geführt hat. Wichtig ist eben, dass die Differenzen, die beim Protest zu Tage treten, als Chance genutzt werden. Nämlich dazu, die betreffenden Kontroversen auszutragen. Und das sowohl im Kreis derjenigen, die eine antiimperialistische Kriegskritik befördern wollen, sowie in der Auseinandersetzung mit anderen friedensbewegten Positionen, die an die „eigentlich“ vorhandene Friedensfähigkeit und -willigkeit der Politik appellieren. Dazu hier einige Hinweise.

Droht ein Rüstungswettlauf?

Dass die Sorgen der Menschen im Protest, wie es heißt, „ein politisches Ventil“ finden, benennt gerade ein Problem der derzeitigen Friedensbewegung: Ja, man kann beim Aufmarschieren etwas Dampf ablassen und danach mit dem Gefühl nach Hause gehen, dass man seine Sorgen den Regierenden zu Gehör gebracht hat. Das ist dann quasi eine vertrauensbildende Maßnahme. Der Aufruf von Verdi Hamburg zum diesjährigen Ostermarsch lässt z.B. einen solchen Vertrauensvorschuss erkennen; er betont, dass es „gerade jetzt dringend intensiver Bemühungen Deutschlands und der internationalen Staatengemeinschaft um allgemeine und weltweite kontrollierte Abrüstung“ bedarf. Dort, wo gerade entschieden aufgerüstet wird, soll man also die Adresse finden, der man die Abrüstungsaufgabe zutraut? Müsste man nicht vielmehr Misstrauen in die Obrigkeit säen angesichts der Entschiedenheit, zu der die Macher (und nicht zu vergessen Macherinnen) der Kriegsvorbereitung übergegangen sind?

Bei dem Verdi-Aufruf wird natürlich auch die Zweideutigkeit gewerkschaftlicher Unterstützung für friedensbewegte Aktionen deutlich (sofern es sie überhaupt noch gibt, im neuen Senioren-Rundbrief von Verdi z.B. kommen zwar allerlei Aktivitäten aus dem Monat April vor, aber keine Ostermärsche). Im Hamburger Aufruf heißt es: „In diesen Zeiten globaler Umbrüche und zunehmender internationaler Spannungen ist es wichtiger denn je, dass wir als Gewerkschaften unsere Stimme für den Frieden erheben. Wir stehen fest zu unserer Überzeugung: Dauerhafter Frieden kann letztlich nur ohne Waffen geschaffen werden. Gleichzeitig erkennen wir an, dass Europa in der aktuellen Weltlage die Fähigkeit zur Selbstverteidigung stärken muss, ohne sich auf externe Bündnispartner verlassen zu können.“

Mit einem solchen glasklaren Bekenntnis zu den gegenwärtigen Aufrüstungsbeschlüssen in Deutschland und Europa kann man sich also in den friedensbewegten Protest einreihen! Gleichzeitig wird hier der Aufwuchs zu einer europäischen Großmacht befürwortet, also die Weltmachtkonkurrenz, aus der seit über 100 Jahren die modernen Kriege hervorgehen, als das Feld der Politik benannt, das gewerkschaftliche Unterstützung verdient. Für Frieden setzt man sich so ein, dass man die Bemühungen der eigenen Nation „anerkennt“, mit einer gigantischen Aufrüstung eine Politik der Stärke zu realisieren. Die Tarifabschlüsse, die Verdi angesichts der neuen Leitlinie „Kanonen statt Butter“ zustandebringt, sehen dann auch entsprechend aus. Man denke nur an den Abschluss im öffentlichen Dienst – ein einziges „Armutszeugnis“!

Kritische Stimmen aus den Gewerkschaften gibt es aber noch – oder wieder – in der Republik. IVA hat schon mehrfach auf die Verdi-Opposition hingewiesen, die sich unter dem Aufruf „Sagt nein!“ zusammengefunden hat. Das Forum Gewerkschaftliche Linke Berlin vernetzt ebenfalls einen solchen Antikriegsprotest und lässt Einsprüche gegen den Kurs der Kriegsvorbereitung zu Wort kommen. Dort ist etwa im April die zweiteilige Reihe „Deutschland und Europa – Sieg ist möglich“ von Manfred Henle erschienen ( Teil 1: „Die frohe Botschaft- Russland ist besiegbar“, Teil 2: „Die Empfehlungen der Koalition der Freiheitsverteidiger“; Text auch bei Overton).

Henle macht darauf aufmerksam, dass die EU-Kommission jetzt unter dem ideologischen Propaganda-Schlagwort „RearmEurope“ (inzwischen abgeändert zu „Readiness 2030“) mit einer Wiederaufrüstung kommt – „als hätten Deutschland und Europa unter US-Führung jahrzehntelang etwas anderes gemacht als die konsequente militär- und geostrategische Vorwärts-Einkreisung der Sowjetunion und Russlands“. „Russia is not invincible… we also need to prepare for war… (and) we must prepare for the worst“, heißt es jetzt von der zuständigen Militär-Kommissarin der EU, Kallas, während man in Deutschland von CDU-Kiesewetter hört: „Russland ist besiegbar“. Und die Großsprecherei des Bundeskanzlers in spe, Merz, ist ja bekannt: „Angesichts der Bedrohungen unserer Freiheit und des Friedens auf unserem Kontinent muss jetzt auch für unsere Verteidigung gelten: whatever it takes.“

Koste es, was es wolle. Hier darf es keine Hindernisse geben. Jetzt zählt der Triumph des Willens. Und die Experten stimmen diesem Programm zu, wie Henle anhand eines aktuellen Positionspapiers der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) darlegt: „Die planmäßige Herbeiführung der ‚extremsten militärischen Eventualitäten‘ seitens Europas und seines notfalls auch ohne US-Führerschaft weltweit ausgreifenden NATO-Expansionismus eröffnet für die Entscheidungsbefugten über Krieg und Frieden in Gestalt der ‚Freiheitsverteidiger‘ die zwar nicht ganz neue, aber dennoch rhetorisch gestellte heiße Frage: ‚Abhängigkeit oder Selbstbehauptung: Deutschlands und Europas Rolle im 21. Jahrhundert entscheidet sich jetzt‘ (DGAP)“.

Was Henle herausarbeitet ist der traditionsreiche Wille der NATO, einen Systemrivalen auszuschalten. Das findet heute unter veränderten weltpolitischen Bedingungen seine Fortsetzung sowie seine planmäßige Vorbereitung. In den Klagen über eine „grenzenlose Aufrüstungsspirale“ (Verdi HH) wird dieser harte politische Gegensatz zum Selbstlauf von Rüstungsprozessen verfremdet, die dann als ein Aufgabenfeld für Abrüstungsmaßnahmen der eigenen Obrigkeit erscheinen. Eine solche Warnung vor einem allgemeinen Trend der „Militarisierung“, der irgendwie über die Menschheit und die Staatenwelt gekommen ist – etwa in Folge der „multiplen Krisenlage“, die den Globus beherrscht –, findet man aber auch in linken Aufrufen. So die Kritik des Zimmerwald-Komitees an einer Stellungnahme der Interventionistischen Linken, die kürzlich im Untergrund-Blättle ( „Nationalstaaten auffällig unbesprochen“, 15. April 2025) erschienen ist.

Die eingangs zitierte Erkenntnis „Militarisierung durchdringt alle zivilen Einrichtungen“ kann man nicht bestreiten. Fatal wird es aber, wenn dies wie zu den legendären Zeiten des Ost-West-Gegensatzes als die Fehlentwicklung eines Rüstungswettlaufs beklagt wird, den die Politik doch bitte wieder in den Griff bekommen sollte.


Neues von Red & Black Books

Hermann Lueer betreibt in Hamburg den Verlag Red & Black Books. Hier eine Information zu den Neuerscheinungen.

Publikationen von Red & Black Books wurden bei IVA zuletzt im April 2024 vorgestellt (siehe Texte2024). Es ging dort vor allem um die Streitschrift „Klassenkampf und Nation“ des Rätekommunisten Anton Pannekoek aus dem Jahr 1912. Sie wurde im Gewerkschaftsforum als ein Blick zurück auf die Wende des Jahres 1914 vorgestellt, als sich die Arbeiterbewegung auf den Weg ins Zeitalter der Weltkriege begab. Die Neuausgabe der Streitschrift, so hieß es bei der Vorstellung, rufe eine historische Zeitenwende in Erinnerung, nämlich die Zäsur, als die Arbeiterbewegung ihre Kapitalismuskritik beendete und aus ihrer internationalistischen Programmatik heraus den Weg zur Bejahung der Nation fand, somit das „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) möglich machte.

Die Editionen zu Anton Pannekoek hat der Verlag in 2024 fortgesetzt, und zwar mit der dreibändigen Reihe „Die Grundlagen der sozialen Revolution“. Band 1 thematisierte „Die Arbeiterräte“, Band 2 „Das falsche Bewusstsein“. Band 3 folgte 2025: „Der Dritte Weltkrieg“ (siehe die Vorstellung unter Bücher). Pannekoek, der 1960 verstarb, hielt als eine Art Einzelkämpfer die Tradition des Rätekommunismus aufrecht. Zu den einschlägigen Veröffentlichungen aus dieser – nicht-leninistischen – Strömung des Marxismus gibt es auch die Website Rätekommunismus. Dort finden sich zahlreiche Neueditionen, z.B. Texte aus der alten „Rätekorrespondenz“.

Die Neuauflage der „Großen Depression“

Lueer hat 2016 das Buch „Das Gespenst der Deflation geht um“ veröffentlicht, in dem die strukturellen Widersprüche kapitalistischer Produktionsverhältnisse und deren Krisendynamik analysiert wurden. Das Buch liegt seit 2024 in einer Neuausgabe vor: „Große Depression 2.0 – Argumente gegen den Kapitalismus“ (ISBN 978-3-9823797-7-7, 147 Seiten, 10 Euro). Der Autor schreibt zu dieser Neuausgabe: Die Analyse der großen Wirtschaftskrisen – von der Weltwirtschaftskrise 1929 über die Ölkrisen der 1970er Jahre und die Finanzkrise 2008 bis hin zu den aktuellen Entwicklungen – verdeutlicht, dass kapitalistische Wirtschaftskrisen keine isolierten Ereignisse sind, sondern Ausdruck eines sich entwickelnden Widerspruchs der kapitalistischen Produktionsweise.

Klassische nachfrage- oder angebotsorientierte wirtschaftspolitische Maßnahmen – das will die Neuausgabe an verschiedenen Experten-Statements zeigen – können diesen Widerspruch nicht überwinden. Die Weltfinanzkrise von 2008 habe hier einen wirtschaftspolitischen Wendepunkt markiert, der das kapitalistische Dilemma immer deutlicher werden lasse: Trotz massiver staatlicher Rettungspakete und eines Paradigmenwechsels in der Geldpolitik (Null- und Negativzinsen, massive Anleihekäufe der Zentralbanken) konnte keine nachhaltige wirtschaftliche Erholung erreicht werden. Vielmehr führten diese Maßnahmen zu einem weiteren Anstieg der Staatsverschuldung im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung und zum Entstehen neuer Spekulationsblasen.

Lueer zitiert dazu die Aussagen von Marx und Engels aus dem Kommunistischen Manifest: „Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktionskräften; andererseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung der alten Märkte. Wodurch also? Dadurch, dass sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.“ Angesichts dieses Dilemmas kapitalistischer Produktion will „Die große Depression 2.0“ zwei mögliche Entwicklungspfade aufzeigen: eine zunehmend autoritäre Steuerung der Wirtschaft durch den Staat oder die Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse.

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Die Red & Black Books können über die Website https://redblackbooks.de/ direkt beim Verlag bestellt werden.


„Den Wahnsinn stoppen“ – Korrespondenz

Gegen den atemberaubenden Aufrüstungskurs formiert sich Protest in deutschen Gewerkschaften. IVA hat den Aufruf „Den Wahnsinn stoppen!“ unterstützt, gleichzeitig aber Kritik angemeldet. Das hat zu einer Korrespondenz unter Kriegsgegnern geführt, die IVA hier dokumentiert.

Kritische Gewerkschaftsinitiativen wie „Sagt nein!“ aus der Verdi-Opposition haben jüngst gemeinsam mit anderen oppositionellen Stimmen, vorwiegend aus dem antikapitalistischen Lager, den Aufruf „Gegen Krieg, Hochrüstung und Kriegswirtschaft!“ veröffentlicht. IVA hat diesen Aufruf unterstützt, aber auch Kritik angemeldet und diese im März unter „Den Wahnsinn stoppen!“ veröffentlicht. (Dort findet sich außerdem der eigene Aufruf von IVA „Gegen Kriegstüchtigkeit“, der Medien- und Kulturschaffende, Lehrkräfte, Seelsorger und sonstige Volkserzieher bzw. -betreuer dazu aufruft, dem neuen Leitbild der Kriegstüchtigkeit eine Absage zu erteilen.) Daraufhin gab es Einwände, die wir hier zusammen mit einer Stellungnahme von IVA veröffentlichen.

Post von F.H.

Liebe Genossinnen und Genossen, als einer der Initiatoren des Aufrufs „Den Wahnsinn stoppen!“ möchte ich auf eure kritischen Anmerkungen antworten. Der Aufruf versteht sich ausdrücklich als ein Beitrag, um Gräben zu überwinden. Und es ist genau so, wie ihr schreibt, dass ein solcher Aufruf notwendiger Weise ein Kompromiss ist und zugleich das Angebot beinhaltet, die weiter bestehenden Kontroversen auszutragen.

Ist das Kapital nicht an Krieg interessiert?

Ihr seht hier – pointiert ausgedrückt - einen Interessengegensatz zwischen Staaten und Kapitalisten. Wenn die Kapitalisten die herrschende Klasse sind und sich heute den Staat nicht nur untergeordnet haben, sondern auch mit ihm verschmolzen sind, dann gibt es einen solchen grundlegenden Unterschied nicht. Wenn der Blackrock-Manager Friedrich Merz Bundeskanzler wird, dann streift er seine Mission als Vertreter des Finanzkapitals nicht ab, sondern vertritt sie in einer neuen Rolle weiter. Dem liegt die Gesetzmäßigkeit des Imperialismus zu Grunde, dass Kapital expandieren muss und dass die Welt unter den Monopolen und Staaten bereits aufgeteilt ist. Wenn sich die Stärke der verschieden imperialistischen Gruppen verändert, dann wird die Aufteilung der Welt notwendigerweise in Frage gestellt. Heute ist es so, dass Maximalprofit nur mit einer weltmarktbeherrschenden Position erzielt werden kann. Die Neuaufteilung wird verfolgt mit wirtschaftlichen, diplomatischen und schließlich unweigerlich mit militärischen Mitteln. Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Wenn also das Kapital als herrschende Klasse die Politik dirigiert, dann gibt es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Profitinteressen und Krieg. Das war zur Zeit Heartfields bereits richtig – die führenden Monopole wollten den Krieg gegen die Sowjetunion – und ist es heute noch mehr.

Faschisten verbieten?

Ich stimme eurer Ausgangsthese vollkommen zu, dass bürgerliche Demokratie und Faschismus zwei Formen bürgerlicher Herrschaft sind. Es entspricht dieser Tatsache, dass heute auch bürgerliche Demokraten mehr und mehr faschistoide und faschistische Elemente in ihrer Politik verfolgen. Man kann das Rechtswende nennen oder auch Faschisierung des Staatsapparats. Ihr fragt nun, an wen sich die Forderung des Verbots faschistischer Parteien richtet. An den Staat natürlich, konkret an die Regierung. An wen soll sich eine politische Forderung sonst richten? Wenn man es ablehnt, vom Staat demokratische Rechte und Freiheiten zu fordern, dann begeht man genau den Fehler, den Lenin so vehement kritisiert: Man verzichtet darauf, um die Möglichkeit offener politischer Betätigung der Arbeiterklasse zu kämpfen. Es ist eben für die Arbeiterklasse nicht egal, ob bürgerliche Demokratie oder Faschismus herrscht, ob man sich legal versammeln und organisieren kann, denn ein solcher politischer Reformkampf ist eine Schule des gesellschaftsverändernden Kampfes und zielt auf Bedingungen für diese Schule ab.

Ich bin für das Verbot faschistischer Parteien auf der Grundlage des Potsdamer Abkommens, welches die NSDAP und alle Nachfolgeorganisationen verbietet. Diese Bestimmungen sind Bestandteil des Grundgesetzes geworden und können von der Regierung ohne ein Verfahren beim Bundesverfassungsgericht umgesetzt werden.

Eure Begrifflichkeiten zur AfD als „rechtspopulistische Querschläger“, „Störenfriede“ oder „Vertreter eines dissidenten Standpunkts“ finde ich irritierend, weil genau so eine verharmlosende Begrifflichkeit heute von der verharmlosenden bürgerlichen Propaganda geprägt werden. Wenn ihr der Ansicht seid, dass die AfD keine faschistische, sondern eine „rechtspopulistische“ Partei sei, dann würde sich die Forderung nach einem Verbot erübrigen. Dem ist aber nicht so.

Eine Antwort von IVA

Hallo F.H., danke für Deine Anmerkungen zu unserer Kritik am Flugblatt „Den Wahnsinn stoppen“. Du gehst auf zwei Aspekte ein, die Dir bei den Ausführungen nicht einleuchten. Dazu einige Überlegungen.

Zum ersten Punkt: „Ist das Kapital nicht an Krieg interessiert?“

Der Interessengegensatz zwischen Staaten und Kapitalisten ergibt sich aus den jeweils unterschiedlichen Zwecken, die sie verfolgen. Jeder Kapitalist strebt nach größtmöglichem Profit – gegen seine Konkurrenten im In- und Ausland. Entsprechend haben Unternehmen nur ihre Bilanzen im Blick und sind daran interessiert, dass ihnen dafür die besten Bedingungen geschaffen werden. Und zwar im Inland vom Staat mit dem Schutz des Eigentums, der Scheidung von Besitzern von Produktionsmitteln und Besitzlosen, die nur ihre Arbeitskraft haben, und mit der Herstellung materieller Bedingungen (siehe weiter unten). Gegenüber dem Ausland soll der Staat beste Bedingungen für Im- und Export herstellen, für die Nutzung von Arbeitskräften im Ausland, für Investitionen, für den Abtransport von benötigten Rohstoffen usw. Dabei stößt jeder Staat natürlich auf das ähnlich gelagerte Interesse der restlichen Staatenwelt, wo es immer darum geht, dass das eigene Kapital sich möglichst viele Vorteile aus den auswärtigen Geschäftsbeziehungen verschafft. Am Ende entscheiden die ökonomische und die sie flankierende militärische Gewalt, wer den Kürzeren zieht. Deutschland z.B. ist nicht „Exportweltmeister“ geworden, weil hierzulande so nette, disziplinierte und schlaue Menschen leben… Aber wem sagen wir das.

Soweit das grundsätzliche Interesse des Kapitals. Die Geschäfte sollen laufen, Störungen jeglicher Art sind nicht erwünscht. So sieht das auch der jeweilige Staat, der seine Kapitalisten tatkräftig dabei unterstützt. Damit erschöpft sich aber der Job der herrschenden Politik nicht. Diese will und muss die Bedingungen dafür schaffen, dass die gesamte Akkumulation funktioniert, die Wirtschaft kontinuierlich wächst. Um elementare Dinge wie Gesundheitsversorgung, Infrastruktur (der gegenwärtige Schlager neben Rüstung), Energie, Bildung und Forschung, die dafür notwendig sind, kümmert sich der einzelne Kapitalist nicht. Und auf so Sachen wie Arbeits- oder Umweltschutz und vor allem Sozialleistungen kommt ein Unternehmer ohne Druck der Politik schon mal gar nicht. Der Staat handelt hier im Sinne des Kapitals im Allgemeinen, denn er erhält damit den Unternehmen die Masse an Arbeitskräften, die sie für eine dauerhaft erfolgreiche Ausbeutung brauchen. Allerdings muss er eben dafür diesen Unternehmen Auflagen erteilen, damit sie dem Folge leisten. Weil sie aus ihrem Geschäftsinteresse heraus die damit verbundenen Kosten freiwillig nie aufbringen würden.

Der Staat zwingt also mit Gesetzen und Verordnungen sein Kapital, dem in seinem Sinne übergeordneten Interesse an den Bedingungen der Akkumulation Rechnung zu tragen. Der Staat fungiert als „ideeller Gesamtkapitalist“. Und insofern setzt er sich mit diesem übergeordneten Standpunkt gegen Einzelinteressen von Unternehmern durch. Regelmäßig abzulesen an den Klagen der Wirtschaftsverbände über zu hohe Belastungen durch Steuern und Abgaben, zu viele Vorschriften und überhaupt eine „verfehlte Wirtschaftspolitik“ – ganz gleich, wer gerade in der Regierung am Ruder ist, der Ruf nach Bürokratieabbau passt immer.

Auch ein ehemaliger Blackrock-Aufsichtsrat Friedrich Merz wird als Bundeskanzler diese Perspektive des „ideellen Gesamtkapitalisten“ einnehmen. Das geht auch gar nicht anders: Dafür sorgen Grundgesetz und alle sonstigen rechtlichen und administrativen Grundlagen des deutschen Staates. Die Kapitalisten ordnen sich nicht den Staat unter. Sie sind vielmehr die Lieblingsbürger, weil sie für den Reichtum und damit die Macht der herrschenden Politiker sorgen. Entsprechend werden sie hofiert, dürfen auch um besondere Berücksichtigung ihrer Einzelinteressen konkurrieren ( Lobbyismus) – aber werden auch dort in ihre Schranken gewiesen, wo sie den staatlichen Interessen, siehe oben, im Wege stehen.

Das kann dazu führen, dass gedeihliche Wirtschaftsbeziehungen zerstört werden. Bestes Beispiel der Ukraine-Krieg: Das Russlandgeschäft vieler Unternehmen wurde von der Bundesregierung gestoppt, der größte Gasversorger Uniper stand vor der Pleite, und mit günstiger Energie für die Wirtschaft war Schluss. Weil eben der deutsche Staat entschied, in diesem Krieg einzugreifen auf Seiten der Ukraine – auf dass der Kontrahent Russland, den Deutschland und die deutsche EU als Konkurrenten um die Macht auf dem europäischen Kontinent ausgemacht haben, möglichst großen Schaden nimmt. Und es akzeptieren muss, vor seiner Haustür einen schwer bewaffneten, gegen ihn gerichteten NATO-Stützpunkt zu bekommen. Für diesen Zweck ist Deutschland tatsächlich bereit, gewichtige wirtschaftliche Verluste zu erleiden. Und es zwingt das Kapital, diese hinzunehmen. Und das ist kein Novum einer zugespitzten weltweiten Krisenlage. Auch früher schon hat der deutsche Staat etwa seine Textilindustrie geopfert, um Zugang zu auswärtigen Märkten zu erhalten.

Insofern sind wir nicht Deiner Meinung, Kapital und Staat seien miteinander „verschmolzen“. Um im Bild zu bleiben: Sie sind schon zwei verschiedene Parteien, aber Kumpane im Interesse an möglichst großem Gewinn. Die einen sorgen für die bestmöglichen Rahmenbedingungen, auch gegen einzelne Unternehmer-Interessen, damit die Wirtschaft insgesamt, wie es so euphemistisch heißt, „wächst“.

In puncto Krieg sind dementsprechend die Interessenlagen ebenfalls nicht gleich. Die Zerstörung von Mensch und Material ist kein „Geschäftsmodell“. Selbst die Rüstungsindustrie hätte kein Problem damit, endlos weiter Panzer und Raketen zu produzieren, wenn nur die Aufträge kommen. Was damit passiert, hat keinen Einfluss auf die Bilanz. Im Gegenteil: Im Kriegsfall würden zwar die Aufträge nicht versiegen, dürfte aber auch die Gefahr steigen, von Bomben und Raketen vernichtet zu werden. Und der Auftraggeber kann ausfallen, wenn er den Krieg verliert. Für die zivile Wirtschaft bedeutet Krieg den Einbruch vieler Geschäftsbeziehungen, den Verlust an Arbeitskräften, die Zerstörung von Betrieben und Ressourcen. Krieg ist für sie geschäftsschädigend, nicht fördernd. Natürlich, wenn es um „das große Ganze“ geht, ordnen sich die national gesinnten Manager den Ansagen „von oben“ unter. Wiewohl sie, wie Du weißt, von ihrem Interesse an weltumspannendem Geschäft her „vaterlandslose Gesellen“ sind. Ein Zähneknirschen ist dann gelegentlich bei manchem Unternehmenslenker nicht zu überhören: die schönen Märkte im Osten nicht vergeigen und China bitte nicht zu sehr reizen!

Soweit erst einmal zum Interessengegensatz zwischen Staaten und Kapitalisten. Über das Thema Macht der Monopole, Verdienste der Heartfield-Brüder oder überhaupt den Zusammenhang von Geschäft und Gewalt können wir uns gern noch gesondert austauschen. Hier nur unser Versuch, die grundsätzlichen Einwände zu erläutern.

Zum zweiten Punkt: „Faschisten verbieten?“

Warum halten wir es für keine gute Idee, dem Staat ein Verbot der AfD anzutragen? Zunächst einmal von der logischen Seite: Man lehnt bürgerliche Herrschaft ab, bittet bzw. unterstützt sie indes dabei, einen Konkurrenten um eben diese Herrschaft zu eliminieren? Das passt schon mal nicht zusammen.

Was haben Gegner dieses Herrschaftsapparates davon, sich in den Wettbewerb der Parteien um ihn einzumischen? Da meinst Du: Durchaus vorteilhaft, weil in der Demokratie kann die Arbeiterklasse sich offener politischer Betätigung erfreuen, im Faschismus nicht. Ergo müsste man sich für die Demokratie als bessere Bedingung des Klassenkampfs einsetzen. Da malst Du ein ziemlich rosiges Bild der hiesigen Verhältnisse: Ein politischer Generalstreik ist hierzulande sowieso verboten, Klassenkampf, das wissen alle, passt überhaupt nicht mehr in unser Gemeinwesen. Gegen Demonstrationen wird eingeschritten, wenn sie der „Staatsräson“ zuwiderlaufen – Stichwort Gaza-Krieg –, und unliebsame Stimmen verlieren ihren Job oder Redner ihre Auftrittsmöglichkeiten – Stichwort „Putin-Versteher“. Erinnert sei nur daran, wie in Berlin behördlicherseits die UN-Sonderberichterstatterin für die Palästinensergebiete, Francesca Albanese, daran gehindert wurde, öffentlich aufzutreten, sodass sie letztendlich zu einem linken Podcastsender wechseln musste. Was in dieser Demokratie wohl los wäre, wenn die Gewerkschaften es tatsächlich darauf anlegten, dass alle Räder still stehen, weil ihr starker Arm das will und kann?

Gut, im Faschismus würde der Staat gar nicht erst darauf vertrauen, dass die Gewerkschaften weiter so brav alles mitmachen. Er würde sie einfach zur Sicherheit gleichschalten, wie damals im Dritten Reich. Das funktioniert aber nur, wenn die Masse der Werktätigen und ihre Organisationen das mitmachen – wie damals die Gewerkschaftsbewegung in der Deutschen Arbeitsfront. Es muss ihnen einleuchten, dass „die Nation“ jetzt über alles geht und daher jeglicher Zweifel oder Widerstand gegen die wirtschaftliche und militärische Aufrüstung zu unterbinden ist. Kommt Dir das irgendwie bekannt vor? Ach, das beschreibt ja die aktuelle Propaganda zur Kriegsertüchtigung der Deutschen! Ganz ohne Faschismus wird gerade das Volk auf Krieg und die damit zusammenhängenden „Opfer“ eingestimmt.

Und diesen Herrschaften soll man darin folgen oder sie drängen, die AfD zu verbieten? Das ist eine Option, über die die etablierten Parteien einerseits ja durchaus selbst laut nachdenken, und zwar als Mittel gegen eine unangenehme neue Konkurrenz. Andererseits stimmen sie in ziemlich vielen politischen Ansichten mit der AfD überein und haben sich in der Migrationsfrage für einen Überbietungswettbewerb im Wahlkampf entschieden. Aber auch in der Wirtschafts- und Sozialpolitik trifft das zu, genau so beim Anliegen, eine starke Bundeswehr zu haben. Ist es nicht vielleicht so, dass an der AfD (neben dem, dass man sie sich als Konkurrenz nicht bestellt hat und nur zu gerne wieder loswerden möchte) vor allem eines stört: dass sie eine alternative außenpolitische Linie verfolgt und die kompromisslose Feindschaftserklärung an Russland nicht teilt (ebenso wenig wie das BSW)? Dass sie also in den Streit um die deutscheuropäische Führungsrolle eine momentan störende Disruption einbringt?

Was an der AfD „faschistisch“ oder „faschistoid“ ist, können wir gern noch einmal gesondert besprechen. An dieser Stelle nur der Hinweis: Auch diese Partei will ein mächtiges und reiches Deutschland, das auf prächtiger Ausbeutung des arbeitenden Volks und auf das Grundgesetz baut. Und auch diese Partei wird sich aller Mittel bedienen, Widerstand dagegen auszumerzen. Wie es die anderen Parteien tun, wie es kurz nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Verbot der KPD geschah. Auch Letzteres – als Leistung einer frisch gebackenen Demokratie – sollte zu denken geben, wenn man als Linker das Verbot einer rechtsradikalen Partei fordert. Das käme eh als eine Maßnahme gegen Extremismus und dann weiß man als Linker, was folgt…


Pavet ablata – Europa in Angst

Die IVA-Feuilleton-Redaktion hat einen 20 Jahre alten Text ausgegraben, der damals zu einer – mittlerweile vergessenen – europäischen Affäre erscheinen sollte und der hier zum ersten Mal veröffentlicht wird.

2024 verstarb im Alter von 79 Jahren der Kommunist und Avantgardist Hans-Joerg Tauchert (https://www.kunstforum.de/nachrichten/hans-joerg-tauchert-gestorben/), der an zahlreichen Projekten und Aktionen beteiligt war und der von 1992 bis 2005 die avantgardistische Kunstzeitschrift „Der Stillstand“ (https://www.derstillstand.de/) herausgab. In der letzten von ihm verantworteten Ausgabe Nr. 13 erschien von Hans Lukas der Beitrag „Die dunkle Seite der Macht – Das Imperium schlägt seine Verfassung vor“, der sich mit dem eigenartigen Fall befasste, dass angeblich ein – nicht existentes – europäisches Volk dabei war, sich eine Verfassung zu geben. Der „Stillstand“-Artikel bemerkte dazu eingangs:

Die Verfassung, die wir haben, heißt Demokratie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist. – So beginnt, ungelogen, der Vorspruch zur Präambel des Entwurfs eines Vertrags über eine Verfassung für Europa. Zitiert wird der 2.500 Jahre alte Kriegsberichterstatter Thukydides, der damals mit seinen Reportagen vom peloponnesischen Schlachtfeld Furore machte – und noch heute von nachdenklichen Weltherrschaftsstrategen gerne gelesen wird. Denn unser europäisches Erbe hat ja so viele Denkanstöße zu bieten! Wie damals Athen, so kämpft heute Brüssel für die Einigkeit des Staatenbündnisses und gegen die böse Gegenmacht von Dark Vader und Konsorten…“

Ein weiterer Beitrag von Hans Lukas, der an die fast zu einer Staatskrise hochgekochte Affäre um den belgischen Kinderschänder Dutroux anknüpfte, konnte damals nicht erscheinen und wird hier zum ersten Mal veröffentlicht.

Pavet haec litusque ablata relictum respicit

„Es zagt die Entführte und blickt zum verlassnen Ufer zurück“, übersetzt Erich Rösch Ovids Metamorphosen (II. Buch, Vers 873f), nämlich den Schluss des Berichts einer berühmten Entführung. Göttervater Zeus taucht am phönikischen Strand auf, in einen Prachtstier verwandelt, und becirct Europa, die junge Tochter des Königs Agenor, auf Bullenart, mit strammen Schenkeln, weichen Weichteilen etc. Seine gierige Zunge macht die Jungfrau an, sie greift ihm an die Hörner, wirft sich auf seinen Rücken, und, zack, hast du nicht gesehen, setzt sich der Stier mit seiner süßen Last in Bewegung, mitten in die Brandung hinein und immer weiter, immer weiter.

So fing alles an. Europa, das Abendland, die Wiege der Zivilisation. Vom Frauenraub zur Kopfgeburt Pallas Athene, von Pontius zu Pilatus, von der Völkerwanderung zur industriellen Revolution, von dort zum Moloch Brüssel mit seinen Bullenzuchtverordnungen und Strandbefestigungsvorschriften. Apropos Brüssel, was haben eigentlich die berüchtigten belgischen Verhältnisse für eine tiefere Bedeutung? Im Blick auf den Ursprung dürfte die Sache klar sein, Marc Dutroux ist ein wahrer Nachfahre des alten Gottvaters: Mädchen entführen, um mit ihnen bestialischen Sex zu machen, das ist Europa in nuce oder ab ovo, jedenfalls in Reinkultur. Ja, pavet ablata…

Aber will uns das der Mythos wirklich sagen? Glücklicher Weise gibt es die klugen Köpfe, die hinter der FAZ stecken. Einer von ihnen, der als besonders klug gilt, ist Dirk Schümer, Fachmann für Hochgeistiges, für europäische Fragen und darüber hinaus – wie das passt – für Belgien. Er hat das natürlich alles tiefgründig recherchiert und nicht nur 1997 ein Buch über Belgiens Obermonster Dutroux („Die Kinderfänger – Ein belgisches Drama von europäischer Dimension“) geschrieben, sondern 2000 den kompletten Hintergrund („Das Gesicht Europas – Ein Kontinent wächst zusammen“) gezeichnet. Das zweite Buch präsentiert denn auch gleich auf dem Umschlag eine nackte (blonde?) Europa, die ihrem Bullen den Bart krault, während im Hintergrund eine zerklüftete, hochhausgeschwängerte Zivilisation dräut. Alles klar!

Oder doch nicht. Denn bei der Lektüre verwirrt sich das seltsam, der Tiefsinn reicht dem Schwachsinn die Hand, aus der arschnackten Oberflächlichkeit des Feuilleton-bedingten Zusammenschreibens und Anreicherns von Tagesmeldungen über belgische Kriminalaffären stürzt man in Abgründe mythologischer oder verschwörungstheoretischer Art, so dass man sich in Zusammenhänge und Netzwerke verstrickt wie weiland Agamemnon ins Netz der Klytämnestra, die dann später mit Medea und Prokne die erste hellenistische Kinderschänder-Organisation gründete. Aber der Reihe nach, so weit das bei Schümer geht.

Ja, Europa ist erlegen -
Wer kann Ochsen widerstehen?
(Heinrich Heine, Mythologie)

„Es sollen die lieblich mediterranen Gestade der Insel Kreta gewesen sein, an der Zeus, der sich aus erotischen Gründen gerade einmal in Form eines zahmen Stiers manifestierte, mit seiner reizenden Auserkorenen, der Königstochter Europa, anlandete. Er hatte sie am Strand von Phönizien, also im heutigen Libanon entdeckt, sie kurzerhand zwischen die Hörner genommen und war mit dem irritierten Mädchen westwärts in die untergehende Sonne geschwommen – eine beachtliche konditionelle Leistung.“ (Das Gesicht Europas) Stimmt, das war schon eine Leistung: auserkoren, zwischen die Hörner genommen und nach Kreta expediert. Da wird das entführte Mädchen sicher irritiert geguckt haben, um das Mindeste zu sagen. Aber was will uns das Ganze sagen? Schümer fährt fort:

„Am Strand der griechischen Kultur also entstieg eine orientalische Schönheit – wir dürfen in ihr getrost den ersten, wenn auch unfreiwilligen Bootsflüchtling sehen – den Fluten des Mare nostrum und sicherte dem Kontinent damit ein Fortleben jenseits der Barbarei.“ Na ja, die griechische Kultur, weil von Fräulein Europa und ihrer Sippschaft begründet, kam eigentlich erst später. Schümers „sichern“ ist da etwas rätselhaft, vor allem, wenn man den Inhalt betrachtet: Der Kontinent hat seitdem „jenseits der Barbarei“ fortgelebt. Sind wir hier schon wieder im Reich der Mythologie? Hat der Autor die nachfolgenden Monster – Hitler, Stalin, Dutroux, Ulla Schmidt – vergessen? Anscheinend nicht, denn auf europäische Monstrositäten wie das schwere Los der Bootsflüchtlinge wird angespielt. Solch ein Flüchtling soll die phönikische Königstochter gewesen sein, wenn auch unfreiwillig – wohl im Unterschied zu den heutigen boat people, die sich ganz freiwillig aufmachen, um irgendwo anzulanden, gelegentlich auf dem Grund des Golfs von Otranto. Also sagt der Mythos recht besehen Folgendes: Ihr Barbaren, lasst die Barbarei sein und kommt zu uns, zur Wiege der Zivilisation!

Aber so einladend will Schümer nicht sein, er schreibt schließlich für ein nationales Blatt. Und realistisch betrachtet fallen ihm doch noch einige unschöne Seiten ein: „Die platte Deutung des Mythos, gemäß derer aus der machtvollen Zeugungskraft eines europäischen Zuchtstiers und der zierlich-verwöhnten Schönen aus dem Morgenland nichts anderes als eine Missgeburt entsprießen konnte, verbieten wir uns hier. Die Griechen jedoch schrieben dem Paar Europa-Zeus als Erstgeburt das Monstrum Minotaurus zu; dieser Mischling aus Vieh und Mensch machte den Kretern lange das Leben schwer, bis ihn der griechische Held Theseus mit Hilfe des Ariadnefadens in seinem Labyrinth aufstöberte und erlegte. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte, und es gibt von ihr, wie immer, wenn es um Europa geht, die verschiedensten Versionen.“

Das ist in der Tat eine andere Geschichte, die Schümer hier auftischt. Der Erstgeborene von Zeus-Europa war Minos, der spätere Herrscher über Kreta und düstere Unterweltsrichter, und da gibt es verschiedene Versionen. Bei Ovid klagt jedenfalls die von Minos schmählich zurückgelassene Königstochter Skylla, der Kreter sei gar kein Göttersproß, sondern ein dreckiger Bastard: Die Mutter habe sich mit einem ordinären Rindvieh eingelassen, so dass der Junior besonders unausstehlich wurde, was sogar seine Gattin Pasiphae abstieß und – wer hätte das gedacht – in die Arme eines Stiers trieb. Bei der diesbezüglichen Begattung gab es natürlich Probleme. Der geschickte Dädalus schaffte Abhilfe, baute eine hölzerne Kuh, in der sich Pasiphae versteckte, bis die Besamung gelang. Daraus ging dann besagter Minotaurus hervor, der von Theseus ausgeschaltet wurde, weil er den Griechen, speziell den Athenern, das Leben schwer machte. Da ist sich das Altertum ziemlich einig, auch wenn Ovid mitunter an dem überlieferten Quark zweifelt. (Die FAZ aber vom 24.3.04 weiß es genau: „Die minoische Kultur machte Kreta vor neuntausend Jahren zur Wiege Europas. So erzählt es der Mythos…“)

Immerhin, den Gedanken an ein monströses Europa hat Schümer aufgebracht, sich verboten und damit die Synthese seines Besinnungsaufsatzes eingeleitet: „Wie wir sehen, kommt aber schon zu Beginn einiges zusammen:“ (nämlich dann, wenn man Halbwissen, Beschönigungen und harte facts zusammenrührt) „Halb göttlicher, halb königlicher Abstammung, bereitet Europas Sippe sogleich Unfrieden und frühes Leid, fordert kriegerische Heldentaten und weibliche Listen heraus und richtet den Blick unverdrossen nach Westen. Der wahre Kern der Sache, den wir niemals aus den Augen verlieren sollten, liegt in der Herkunft unserer Zivilisation aus den orientalischen Hochkulturen mit ihren nützlichen und zukunftsweisenden Erfindungen wie Schrift, Mathematik, Astronomie, Landbau, Musik et cetera. Europa war und blieb lange ein Kind des Orients. Allerdings sollte es noch eine Weile dauern, bis sich diese kultivierte Lebensform in Europa bis zum Nordkap, bis Irland und in die Hochalpen, die der mächtige Galan Zeus der Königstochter verhießen hatte, durchsetzen konnten.“

Etwas verquer, auch syntaktisch. Die Hochalpen hatte Zeus der Königstochter verheißen, also prophezeit, versprochen? Aber halten wir uns an den wahren Kern. Von Anfang an ging es bunt zu, und der Ursprung hatte seine Vorgeschichte. Danke Geschichte! Ohne das Früher hätte es das Später nicht gegeben, und die kultivierte Lebensform hätte sich möglicherweise gar nicht über Jahrtausende durchsetzen müssen, um sich zum heutigen Niveau hochzuarbeiten – das dann aber immer noch an die Ursprünge gemahnt.

Die Vermutung, es existierten vollkommen reuelose
Gruppierungen, die ihr Hobby, Kinder zu missbrauchen und
zu töten, akribisch organisieren, die viel dafür bezahlen, die
sich gesellschaftlich so unerschütterlich wie effektiv helfen
und Gesetzeslücken wie die Milde des Rechtsstaates bewusst
einkalkulieren, trifft an die Wurzel unserer Zivilgesellschaft.
(Schümer, FAZ, 28.2.04)

Aber hallo, Schümer, die Wurzel unserer Zivilgesellschaft ist doch längst bloß gelegt. Es ist Zeus, der alte Schwerenöter, der Mädchenentführer und Kinderschänder. Siehe z.B. die Abteilung Päderastie in den Metamorphosen: „Für Ganymedes entbrannte in Liebe der Himmlischen König einst … und raubt den troischen Knaben, der jetzt noch im Becher den Trank ihm mischt und, Juno zu leide, den Nectar Juppitern einschenkt.“ (X, 155-161)

Was haben denn da die „Auswirkungen des liberalen Strafrechts in einer sich immer mehr kriminalisierenden Gesellschaft“ (Kinderfänger) zu suchen, wo man selbst in der FAZ („Dämonisierung des Bösen“, 5.3.04) nachlesen kann, dass heutzutage das Strafrecht immer antiliberaler wird und die Zahl der Straftaten abnimmt. „Eine Blütezeit für Kriminalität auf jedem Niveau steht dem vereinigten Europa bevor.“ So lautet das Fazit im Kinderfänger-Buch. Doch was hat das, wie kapitelweise ausgebreitet, mit „ineffizienten Bürokratien“, mit der „Durchdringung des Staatsapparates“ durch „Sonderinteressen“, mit „Politikverdrossenheit“ und „gesamteuropäischer Mafia“ zu tun? Was soll denn da die Hoffnung auf die „uralte Technik der europäischen Zivilisation: die Volksjustiz“ (FAZ, 28.2.04), die angeblich im belgischen System des Geschworenengerichts fortlebt?

Das ganze Projekt ist doch von Anfang an korrupt. In „Europas Sippe“ ist der Wurm drin, oder war die ganze historische Gewissenserforschung back to the roots umsonst? Nein, Europa ist nicht zu helfen. Am besten, der Kontinent wird unter die Kontrolle eines sittenstrengen Islam gestellt - denn aus dem Morgenland kommt schließlich die Hochkultur. Ex oriente lux, old europe goodbye!

(Anm. d. Red.: Die Erwähnung der Gesundheitsministerin Ulla Schmidt in der Aufzählung bekannter Monster verdankt sich wohl der Tatsache, dass sie damals im Rahmen der Agenda 2010 maßgeblich am „Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung“ beteiligt war, so dass seit 2004 auf die betriebliche Altersvorsorge der volle Krankenkassenbeitrag gezahlt werden muss, was viele Rentner ins Elend getrieben hat.)


März

Make Europe great again

Die Wiederaufrüstung Europas („Rearm Europe“, neuerdings „Readiness 2030“ genannt) ist seit März 2025 offizielles EU-Programm. Dazu einige Hinweise der IVA-Redaktion.

Anfang März 2025 stellte Kommissionspräsidentin von der Leyen ihr Maßnahmenpaket zur „Wiederaufrüstung Europas“ vor. Einige Tage später erfolgte die Vorlage des „Weißbuchs zur Zukunft der europäischen Verteidigung“, das von der deutschen Presse als eine Art Unabhängigkeitserklärung der EU gewertet wurde. EU-Außenbeauftragte Kallas hatte kurz zuvor mit Blick auf die transatlantischen Spannungen die (militärische) Marschrichtung vorgegeben: Mit den jüngsten Entwicklungen sei klar geworden, „dass die freie Welt einen neuen Anführer braucht. Es liegt an uns Europäern, diese Herausforderung anzunehmen“ (Junge Welt, 22./23.3.2025).

Die Welt verlangt, dass „wir“ in Europa – Deutschland voran – globale Verantwortung übernehmen. Ein Spruch über die einschlägigen Sachzwänge, den man von deutschen Politikern seit Jahren kennt und der als Selbstverständlichkeit durchgeht. Aber was sagt der wissenschaftliche Sachverstand zu den aktuellen Fortschritten?

Europa neu denken

Gerade hat Deutschlands angesagtester Polit-Vordenker Herfried Münkler sein Buch „Macht im Umbruch“ (Berlin 2025) vorgelegt und auf den verbreiteten Unfug hingewiesen, immer wieder eine „Zeitenwende“ oder einen „Epochenbruch“ auszurufen, da kommt Jürgen Habermas in der SZ (21.5.2025) mit einem Plädoyer für mehr Aufrüstung in Europa – eben wegen eingetretenem „Epochenbruch“. Einen Tag später lobt die FAZ (22.3.2025) Münklers Buch als „wertvollen Leitfaden“ für die neue Bundesregierung. Diese werde von dem Politologen nachdrücklich „ermahnt, Politik langfristiger anzulegen“, was im Klartext heißt, national wie im europäischen Verbund stetig aufzurüsten, whatever it takes. Die FAZ hofft, dass diese Mahnung ankommt, denn dann werde man zukünftig „in Deutschland weniger oft eiskalt erwischt werden, wenn die nächste Zeitenwende, der nächste Epochenbruch, die nächste neue Ära ausgerufen werden“.

Die Quintessenz der neuesten politikwissenschaftlichen Erkenntnisse heißt demnach „Mehr Kontinuität!“, d.h. kontinuierliches, machtvolles Aufrüsten, denn erst dadurch werde Sicherheit geschaffen im Blick auf „Deutschlands Rolle in Europa und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“ (so der Untertitel von Münklers Buch). Sich auf aktuelle Bedrohungen reaktiv zu beziehen und damit dem Volk die Verteidigungsnotwendigkeiten nahe zu bringen, greife zu kurz. Nach Münklers Überzeugung ist vielmehr „den längerfristigen Interessen Deutschlands gegenüber den kurzfristigen Wünschen und Bedürfnissen von Teilen der Bevölkerung eine ausschlaggebende Bedeutung beizumessen“ (FAZ). Sprich, Volkes Stimme kann und soll man dabei nicht groß berücksichtigen, die Interessen bestimmter Bevölkerungsteile (wer hier gemeint ist, kann man sich denken) müssen untergebuttert werden, wenn es um die Machtentfaltung des Staates geht. Das wird vor allem als Warnung vor den „Populisten“ ausgesprochen, von denen ein autoritärer Regierungsstil drohe, wenn sie mit ihrer Volksaufwiegelung Erfolg hätten. Vor deren Autokratie soll sich der demokratische Staat durch hartes Durchregieren schützen!

„Die Mitgliedsländer der Europäischen Union müssen ihre militärischen Kräfte stärken und bündeln, weil sie sonst in einer geopolitisch in Bewegung geratenen und auseinanderbrechenden Welt politisch nicht mehr zählen“, heißt es jetzt, Anno Domini 2025, bei Habermas. So weit besteht Übereinstimmung mit Münkler, bei dem es die äußeren Herausforderungen sind, die eine im Prinzip harmlose und (laut FAZ) „nackt“ dastehende BRD in die Bredouille bringen. Bei dem Politikwissenschaftler ist das jedoch als grundsätzliche Erkenntnis gemeint, als Aufklärung über eine kontinuierliche Anforderung, die von der Politik leider vernachlässigt wurde und wird, während der Nationalphilosoph Habermas die aktuelle „Spaltung des Westens“ seit dem Amtsantritt des neuen US-Präsidenten dafür verantwortlich macht. Etwas eigenartig übrigens, denn kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine war Habermas gerade mit der Forderung nach Verhandlungen hervorgetreten und dafür heftig kritisiert worden, also für das, was Trump jetzt in die Wege leitet. Habermas hatte auch an dieser Position festgehalten, so dass die FAZ noch letztes Jahr (faz.net, 31.8.2024) fragte, ob das „Altersstarrsinn“ oder „Prinzipienreiterei“ sei:

„Zum einen behauptet Habermas, dass der Westen durch seine Waffenlieferungen eine Mitverantwortung für den Fortgang und das Ende des Krieges hat; beides sei dadurch nicht mehr allein Sache der angegriffenen Ukraine. Und zum anderen wirft er dem Westen vor, diese Verantwortung zu verleugnen, indem er den Krieg seinem Selbstlauf überlasse und keine realistische eigene Vorstellung entwickle, was sein Ziel ist und wie er enden kann…“ Seinerzeit gestand FAZ-Autor Mark Siemons dem Votum von Habermas noch eine gewisse Berechtigung zu, da hier ein blinder Fleck der öffentlichen Debatte angesprochen sei: „Es werden überhaupt keine Ziele formuliert, auf was genau der Krieg realistischerweise hinauslaufen soll und nach welchen Kriterien ein Zustand erreicht sein kann, bei dem Verhandlungen als sinnvoll erscheinen.“

Jetzt zwingt ein Epochenbruch Habermas dazu, sich gedanklich umzuorientieren. Denn er muss feststellen, „die USA hätten trotz wirtschaftlichen Übergewichts ihren politischen Anspruch eines Hegemons aufgegeben“, was die EU vor die Frage stelle, ob sie „auf globaler Ebene als selbständiger militärischer Machtfaktor wahrgenommen werde“ (Deutschlandfunk, 22.3.2025). Bei der Führungsverantwortung sieht Habermas, wie der DLF weiter meldet, jetzt das entscheidende Defizit. Die EU könne „nur mit kollektiver Handlungsfähigkeit auch im Hinblick auf den Einsatz militärischer Gewalt geopolitische Selbständigkeit erlangen“, was natürlich die Souveränität der Bundesrepublik tangieren dürfte. Habermas‘ Schlussfolgerung, die gleich das nächste Führungsproblem anspricht, lautet daher: „Das stellt die deutsche Regierung freilich vor eine ganz neue Aufgabe. Dann nämlich muss sie eine politische Schwelle der europäischen Integration nehmen, auf deren Vermeidung gerade die deutsche Bundesregierung unter Schäuble und Merkel beharrlich bestanden hatte.“

Die Ideologie der Herausforderungen

Björn Hendrig hat am 30. März im Overton-Magazin den Beitrag „‚Krise‘ in Europa – für wen eigentlich?“ gebracht, der sich mit den neuesten europäischen Aufrüstungs-Anstrengungen seit Trumps Amtsantritt befasst. Die deutsche Polit-Elite habe nur einen Schluss aus dem Wechsel der US-Sicht auf den Ukraine-Krieg gezogen: „Wir machen weiter! Genauer: Lassen weiter machen. Die Ukrainer sollen möglichst lange weiter bluten, um Russland die ersehnte Niederlage beizubringen. So etwa bis 2029, dann müsste man mit der Aufrüstung gegen die Weltmacht im Osten fertig sein, rechnet Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius vor. Die EU gibt ihren Mitgliedsstaaten ein Jahr länger Zeit: Laut neuem Weißbuch zum Thema Verteidigung soll die Union bis 2030 die ‚volle Bereitschaft‘ erreichen“.

Dann, so Hendrig, könnte die Friedensmacht EU – wir erinnern uns: der Friedensnobelpreisträger des Jahres 2012! – „Russland auf Augenhöhe begegnen. Oder anders ausgedrückt: Diesem Land mit Aussicht auf Erfolg einen Krieg androhen. Wenn der dann gewonnen wird, irgendwie, mit Millionen Toten und weiträumiger Zerstörung des Kontinents, zieht endlich Frieden ein.“ Die EU sieht sich natürlich von vielen Seiten bedroht und bedrängt. Auch Handelskriege gehören dazu. Besonders die führenden Politiker aus Deutschland und Frankreich fürchten um die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Unternehmen gegenüber dem Kapital aus den USA und aus China. Das wirtschaftliche Dominanzstreben soll dabei immer von den anderen ausgehen und „uns“ vor Herausforderungen stellen. Weil das prinzipiell so ist, sieht Polit-Experte Münkler die eigentliche Aufgabe der Politik darin, sich auf Bedrohungen einzustellen, bevor sie eintreten.

Das heißt im Klartext, man muss andere bedrohen, damit diese keine Chance haben, uns in die Quere zu kommen. Aber Politiker formulieren es gern andersherum, weil sie – jedenfalls an dieser Stelle – nicht als Akteure, sondern lediglich als „Verantwortungsträger“ wahrgenommen werden wollen, als diejenigen, „die nun einmal auf ‚Herausforderungen‘ reagieren müssten. Dabei betreiben doch sie den Kampf um Reichtum und Macht gegen die anderen Staaten dieser Welt“, resümiert Hendrig. Und „dass die größeren Mächte dieser Welt sich gegen eine Niederlage wehren beziehungsweise ihrerseits neue Fronten aufmachen – sind halt ‚Herausforderungen‘“.

Das Europaideal von gestern

Die Bonner Politik-Professorin und Europa-Expertin Ulrike Guérot legt hier Widerspruch ein, und zwar im Sinne des früheren Ideals einer europäischen Friedensmacht. Guérot war von der Bonner Uni geschasst worden – angeblich wegen ein paar läppischen Zitat-Ungenauigkeiten (wie sie sich Habeck in seiner Dissertation zu Hunderten geleistet hat, aber mit der Ermahnung zum Nachbessern davon kam), in Wirklichkeit, weil sie dem NATO-Narrativ in Sachen Ukrainekrieg öffentlich widersprochen hatte. Jetzt, nach den jüngsten nationalen wie europäischen Aufrüstungsbeschlüssen, hat sie ein „European Peace Project“ (Website: https://europeanpeaceproject.eu/) gestartet, das am 9. Mai europaweit „ein Zeichen für die friedliche Zukunft Europas setzen“ will.

Das Manifest, das vom Peace Project vorgelegt wurde, hält fest: „Die EU, einst als Friedensprojekt gedacht, wurde pervertiert und hat damit den Wesenskern Europas verraten! Wir, die Bürger Europas, nehmen darum heute, am 9. Mai, unsere Geschicke und unsere Geschichte selbst in die Hand. Wir erklären die EU für gescheitert. Wir beginnen mit Bürger-Diplomatie und verweigern uns dem geplanten Krieg gegen Russland! Wir erkennen die Mitverantwortung des ‚Westens‘, der europäischen Regierungen und der EU an diesem Konflikt an.“ Der Forderungsteil will dann den Traum von Europa, den Guérot zusammen mit Hauke Ritz in ihrem viel beachteten Essay „Endspiel Europa“ vorgestellt hatte (vgl. IVA-Texte 2023 und 2024), wieder wahr machen: „Wir fordern ein neutrales, von den USA emanzipiertes Europa, das eine vermittelnde Rolle in einer multipolaren Welt einnimmt. Unser Europa ist post-kolonial und post-imperial. Wir, die Bürger Europas, erklären diesen Krieg hiermit für beendet! Wir machen bei den Kriegsspielen nicht mit. Wir machen aus unseren Männern und Söhnen keine Soldaten, aus unseren Töchtern keine Schwestern im Lazarett und aus unseren Ländern keine Schlachtfelder.“

Guérot bekennt sich zu einem Europaidealismus, der heute auf verlorenem Posten steht. So wollte ja auch ihr Essay der Frage nachgehen, „warum das politische Projekt Europa gescheitert ist und wie wir wieder davon träumen können“ (so der Untertitel des Buchs). Diese Vision einer kontinentalen Versöhnung wird natürlich von jedem der angesagten Politexperten in Deutschland als weltfremd und illusionär in die Ecke gestellt. Wenn allerdings ein Habermas mit dem alten Ideal der Vereinigten Staaten von Europa kommt, nämlich mit der Aufforderung, die deutsche Politik müsse endlich die „politische Schwelle der europäischen Integration nehmen“, die bisher immer vermieden wurde, dann gilt das als Realismus, wird jedenfalls als bedenkenswertes Statement aufgenommen. Das verdient nicht von vornherein das Etikett „weltfremd“, wird doch hier das Ideal einer starken Führungsmacht beschworen.

Und dieses Ideal haben auch die maßgeblichen Europapolitiker – übrigens schon lange, bevor Trump an die Macht kam – auf dem Schirm. Renate Dillmann und Johannes Schillo zogen in ihrem Artikel „Make Europe great again“ (Konkret, 12/23) über den zerstrittenen europäischen Haufen bereits vor anderthalb Jahren das Fazit: „Mehr rücksichtslose Durchsetzung nach innen, Streit um die Führung innerhalb der EU und Kampf um die Vormacht nach außen, mehr Aufrüstung, mehr Militanz – das ist die Konsequenz, die alle EU-Mitglieder ziehen. Darin wenigstens ist diese Gemeinschaft einig.“


Olé, wir verweigern uns!

Unterstützt die CSU die Werbung für Ole Nymoens neue Streitschrift gegen die Vaterlandsverteidigung? Zu dieser und anderen Fragen hier einige Hinweise der IVA-Redaktion.

Mit den Aufrüstungsplänen der alten/neuen Bundesregierung ist das Thema Wehrdienst wieder auf der politischen Tagesordnung. Die Wehrpflicht, darauf hat IVA Anfang des Jahres aufmerksam gemacht, wird wiederkommen – erneuert, erweitert, verbessert, wie auch immer. Denn dafür gibt es, jedenfalls im Grundsatz, seit dem letzten Jahr eine große christ- und sozialdemokratische Einigkeit. Im CDU/CSU-Wahlprogramm wurde eine aufwachsende Wehrpflicht gefordert. Und das Verteidigungsministerium arbeitet auf Anweisung von Pistorius seit Dezember 2024 daran, „die Parameter zur Einführung eines neuen Wehrdienstes weiter auszuplanen und gemeinsam mit der Umsetzung zu beginnen“. Jetzt hat die CSU noch einmal besonderes Tempo angemahnt: „Wir müssen so schnell wie möglich abschreckend sein“. Möglichst schon 2025 sollte der Wehrdienst starten.

Die Junge Union braucht da ihre Mutterparteien nicht groß zu drängen. „Bitte seid ehrlich zu uns“, vermeldet sie ( Spiegel): „Die Wehrpflicht wird kommen“. Weil diese aber die Jungen betreffe, brauche es einen „fairen Lastenausgleich“ bei der Finanzierung der Verteidigung. Das Geld ist ja kein Problem, wie man neuerdings erfährt. Die Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högel (SPD), ist nur etwas skeptisch, was die Wiedereinführung des alten Modells betrifft. Aber sie erklärte gleich bei der Vorlage ihres Jahresberichts 2024, dass „es in naher Zukunft irgendeine Form von neuem Wehrdienst geben“ werde (Junge Welt, 12.3.25). Zunächst sei der Aufbau einer Wehrerfassung gefragt, „etwa auch von Frauen, die nach wie vor nicht in Massen in den Wehrdienst strömen“.

Das Interesse an diesem speziellen Job ist nämlich überhaupt nicht groß. Högel betonte die Personalnot der Bundeswehr, wegen der zuletzt auch wieder mehr Minderjährige rekrutiert wurden. So etwas geht in den deutschen Leitmedien ohne große Beanstandung durch, während sie sich bei Bedarf über „Kindersoldaten“ in Afrika heftig aufregen können. Proteste wie die vom Bonner Friedensforum veranstalteten Mahnwachen – Motto: „Nie wieder dürfen Kinder eingezogen werden“ – stoßen da beim Publikum auf großes Erstaunen, dass es so etwas in Deutschland gibt. Bei dem angeworbenen Nachwuchs ist übrigens, wie Högel neben anderen Vorfällen aus dem Bundeswehralltag mitteilte, eine hohe Abbruchquote zu verzeichnen. Insgesamt liegt sie im Berichtszeitraum bei 27 %.

Kein Menschenrecht wie alle anderen

Wo die Pflicht, fürs Vaterland Kriegsdienst zu leisten, auf die Tagesordnung gesetzt wird, kommt natürlich das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung (KDV) wieder zu politischer Bedeutsamkeit. Das gibt es ja in Deutschland, wo dem Weltkriegs-Verlierer einst eine Entmilitarisierung verordnet und ein Artikel 4,3 („Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden“) im Grundgesetz zugestanden wurde. Das Recht besteht auch bei ausgesetzter Wehrpflicht fort und wird, zum Leidwesen der Regierenden, sogar in Anspruch genommen, nämlich von Soldaten und Soldatinnen, die Dienst tun, sowie von Reservisten. In der Friedensbewegung wird über diese Option diskutiert, deren Zeitschrift Friedens-Forum hat das in der Nr. 2/25 zum Schwerpunkt gemacht.

Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ist allerdings kein Bestandteil des klassischen Menschenrechtskatalogs. Im FriedensForum zeichnet Martin Singe die Bemühungen verschiedener Initiativen nach, der Verweigerung einen verbrieften internationalen Status als Menschenrecht zu verschaffen. Unter den Experten ist das bislang umstritten, eine Mehrheit dafür gibt es nicht. Im herrschenden internationalen Rechtsverständnis zeige sich aber eine Tendenz, die die herrschende Meinung in Frage stellen könnte. Zudem fänden sich für den notwendigen „Kampf um das Recht“ diverse Anknüpfungspunkte, so im „Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ der UN, der die Gewissensfreiheit der Bürger stärken will. Nur hat er den Schönheitsfehler, dass dass Recht auf KDV in dem Pakt nicht explizit genannt ist. Interpretationspielraum ist hier, wie Singe belegt, natürlich gegeben. Singe verweist jedoch gleichzeitig auf einen entscheidenden Sachverhalt, der den Grundrechtscharakter der KDV in Deutschland betrifft: Dieses Recht (im GG seinerzeit mit dem Satz „Das Nähere regelt ein Bundesgesetz“ angekündigt) wurde in Rahmen der Wiederbewaffnung der 1950er Jahre bewusst in das „Wehrpflichtgesetz integriert und damit der Wehrpflicht untergeordnet“.

Was das für praktische Konsequenzen hat, konnte man jüngst erfahren, nämlich im Kontext eines Beschlusses zur Abschiebung eines ukrainischen Kriegsdienstverweigerers, über den die Nachdenkseiten berichteten. Der Bundesgerichtshof hielt die Abschiebung des Verweigerers in ein Kriegsgebiet für rechtens. Damit hat er einen Beschluss mit „politischer Handschrift“ gefasst, der weitreichender kaum sein könnte. So der Kommentar des Juristen René Boyke, der sieben Jahre für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gearbeitet und sich mit Asylfällen und Abschiebungen auseinandergesetzt hat. Laut Boyke hat der BGH hier etwas entschieden, was unterm Strich auch weitreichende Konsequenzen für deutsche Kriegsdienstverweigerer habe: Im Falle eines Krieges wäre das Recht auf Verweigerung nicht mehr gegeben, Verweigerer müssten sich den Kriegsnotwendigkeiten unterordnen!

Eine Streitschrift zur Großen Weigerung

Der IVA-Text vom Januar „Was verweigern eigentlich KDVler?“ hatte bereits auf die Position von Ole Nymoen aufmerksam gemacht, der zusammen mit Wolfgang M. Schmitt den Videopodcast Wohlstand für alle betreibt. Dort war Ende 2024 die „Große Weigerung“ Thema, die Herbert Marcuse seinerzeit der 68er-Bewegung ans Herz gelegt hatte. Die jungen Podcastbetreiber sahen hier einen Anknüpfungspunkt – die Idee einer breiten Bewegung betreffend, die sich in politischen, sozialen, kulturellen und eben auch militärischen Fragen gegen die offiziell angesagten Sachzwänge stellt. Was mit der Weigerung konkret gemeint ist, kann man jetzt in Nymoens Streitschrift „Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde – Gegen die Kriegstüchtigkeit“ nachlesen, die am 11. März bei Rowohlt erschienen ist. Im Klappentext heißt es:

„Im Krieg wird der Mensch zum Ding, zum bloßen Instrument der Machthaber. Auf ihren Befehl hin gilt es zu töten, und was im zivilen Leben als schlimmstes denkbares Verbrechen gilt, wird zur Alltagshandlung. Dabei wurde uns beigebracht, den Staat als Voraussetzung von Vernunft und Freiheit zu verstehen! Und doch ist er es, der den Menschen vom rationalen und moralischen Wesen in ein Tötungswerkzeug verwandelt.“ (Siehe dazu auch die Kurzvorstellung des Autors im Podcast Wohlstand für alle.)

Renate Dillmann hat zu der Veröffentlichung auf den Nachdenkseiten ein Interview mit dem Autor geführt. Es steht unter der Überschrift „15 Jahre Lagerhaft für den Autor!“ und erinnert damit an den Shitstorm, den Nymoen 2024 mit seinem Statement in der Zeit auslöste. Dem Autor ist natürlich bewusst, dass er – nicht nur von CSU und Junger Union – heftigen Gegenwind zu erwarten hat. Er setzt aber darauf, dass der Zeitgeist noch nicht hermetisch abgedichtet ist, ja dass die offiziell verbreitete und mit Nachdruck versehene Aufrüstungsbegeisterung seinem Einspruch durchaus eine gewisse Aufmerksamkeit verschaffen könnte.

Dillman spricht ihn im Interview gleich auf seine prekäre, aber nicht hoffnungslose Außenseiterposition in der BRD an, wo seit dem Bundestagswahlkampf ja ein regelrechter Überbietungswettbewerb in Sachen Kriegstüchtigkeit stattfindet. Nymoen weist darauf hin, dass schon vor drei Jahren, kurz nach Kriegsbeginn in der Ukraine, Friedrich Merz die Leitlinie ausgegeben habe, Deutschland müsse bereit sein, „in dieser Welt seine Interessen zu definieren, und vor allem bereit sein, diese Interessen auch durchzusetzen.“ Nymoen sieht in den einschlägigen Ansagen das Programm: „Deutschland muss bereit sein, über die eigenen Grenzen hinauszudenken und seine Interessen mit militärischer Gewalt durchzusetzen“. Und er fährt fort „Was dafür tatsächlich ‚notwendig‘ ist, das möchte ich nun nicht mühevoll ausrechnen müssen. Für mich ist im Kriegsfall nämlich nicht die Rolle des Machers eingeplant, sondern die des nützlichen Idioten, der mit der Waffe in der Hand tötet und stirbt. Daher werbe ich für einen Blick, der sich nicht mit einzelnen Staaten gemein macht. Stattdessen muss es darum gehen, zu erkennen: Die Kriege werden nie im Interesse derer geführt, die in ihnen sterben.“

P.S. IVA hatte zur Werbung für die Möglichkeiten einer Gegenöffentlichkeit, die es in Deutschland – noch – gibt, im Februar ein Flugblatt vorgelegt. Es existiert jetzt in einer aktualisierten Version, die auch auf das Buch von Ole Nymoen hinweist. Es kann hier heruntergeladen werden und steht Interessenten damit bei Veranstaltungen oder Demonstrationen zur Verfügung. – Bei Wohlstand für alle gibt es übrigens einen neuen Podcast „Deutschland rüstet auf: Wird Merz zum Schuldenkanzler?“, der auf die ökonomische Seite des Aufrüstungsprogramms eingeht.


Blick auf einen anderen Stern

Der Allround-Poet Friedrich Rückert sah schon vor 200 Jahren den finalen Weltkrieg kommen (vgl. IVA Texte, Dezember 2024). Hier eine Vision von Peter Schran, der diese Tradition fortsetzt.

Man muss sich das einmal vorstellen: Auf einem Stern irgendwo im Weltall ermuntert eine Supermacht aus sich mega-grandios verstehenden Lebewesen ein in sich uneiniges, kulturell ziemlich zerrissenes, weit entfernt gelegenes Staatsgebilde dazu, einen Stellvertreterkrieg gegen eine andere, konkurrierende Großmacht in unmittelbarer Nachbarschaft zu führen, beliefert dieses Gebilde in bis dato unvorstellbarem Ausmaß mit Waffen, macht es so zu einem Frontstaat gegen den Großkonkurrenten, um diesen massiv zu schwächen oder gar zu „ruinieren“, wie es heißt, und reiht dabei eine Menge anderer, ebenfalls Waffen liefernder Staatsgebilde in die Front gegen den Rivalen ein. Das funktioniert allein schon deshalb, weil diese Staatsgebilde sich davon – wie die Supermacht selbst – neue Marktzugänge, Reichtumsvorteile, also jede Menge eigenen imperialen Machtzuwachs versprechen. Vorläufiges Ergebnis: Hunderttausende Tote und Verwundete, ein in hohem Maße zerstörter Lebensraum und der ganze Stern bereits zum dritten Mal einem umfassenden Selbstvernichtungskrieg nahe.

Zugleich ist die so bekämpfte Großmacht, auch nach mehreren Kriegsjahren, nur mittel-prächtig geschwächt, aber im Prinzip robust aufgestellt und rückt weiter vor. Als die Stern-Supermacht, ohne die der ganze Krieg nie hätte stattfinden können (wie sie nach einiger Zeit zugibt), ihr tödliches Kriegsprojekt – an dieser Front – zurückstellt und stattdessen lieber mehr mega-profitable Geschäfte auf dem gesamten Stern machen will (zu Lasten und durch noch mehr Erpressung Dritter), statt unproduktiv, teuer und ergebnisoffen zu töten bzw. töten zu lassen, gerät das Heer der bisherigen Verbündeten in Panik. Zum einen militärisch, aber auch ideologisch. Denn die Supermacht mit den größten und gefährlichsten Vernichtungswaffen des gesamten Sterns hat – eingeleitet durch eine TV-Superknall-Veranstaltung – nicht nur ihre Riesenzahl an Superwaffen abrupt der bis dato gemeinsamen Kriegsallianz entzogen, sondern zugleich die eigene Kriegspropaganda wie auch die der kürzlich noch Verbündeten geschreddert, indem sie das gemeinsame Werk schlicht als Lüge offenbart.

Die Folge: Schockstarre bei den Verbündeten! Statt zuzugeben, dass sich der Krieg gegen die konkurrierende Großmacht auch für sie nicht mehr rechnet, dass sie zudem in ihrer selbstproduzierten Kriegspropaganda („Für ‚Werte‘ wird man doch wohl noch töten dürfen“) gefesselt sind, wollen diese von ihrer Supermacht urplötzlich allein gelassenen Verbündeten unbedingt weiter Krieg führen. In der aktuellen Situation sehen sie die riesengroße Chance, endlich aus dem Schatten der bislang verbündeten Supermacht herauszutreten und sich so selbst als militärisch bedeutende Macht ins globale Konkurrenzsystem einzubringen. Sie haben sich, samt dem übergroßen Teil ihrer Bevölkerung, so sehr in die Sache verrannt, dass sie sich nichts anderes mehr vorstellen können, als – egal wie – relevante Konkurrenten zu vernichten und dies exemplarisch an dem konkreten Fall zu beginnen. Sie wollen ihre Wirtschaft, ihre konkurrenzmäßig-aggressiv ausgerichteten Staatskonstruktionen, ja das gesamte Leben in ihren Herrschaftsgebieten dem Kriegszweck unterwerfen. „Whatever it takes“, posaunen sie aus. Und: Sie verlangen, dass sich alle Normalsternenwesen im eigenen Herrschaftsgebiet diesem Plan bedingungslos unterwerfen.

Und was passiert danach? Gibt es Proteste, gar Aufstände gegen den gesteigerten Kriegsfanatismus, gegen das Ausgeliefertwerden (auch der eigenen Familien) an gigantische Kriegsinteressen? Nein. Verbreitet sich Aufklärung darüber, warum vor Jahren der Dauerkrieg wirklich begonnen wurde? Ein vertiefendes Nachdenken über die Mitschuld am Krieg? Auch Nein! Oder etwa ein Nachdenken darüber, ob die eigene, brutal-konkurrenzorientierte Lebensweise in allen Alltagsbereichen mit dem großen Konkurrenzkrieg etwas zu tun haben könnte? Alles Fehlanzeige. Bisher jedenfalls.

Sieht man genauer hin und fragt nach den Ursachen dieses Desasters, dann heißt es bei den alleingelassenen Verbündeten der zuvor haupt-aggressiven Supermacht, das Ganze müsse weitergehen. Denn: 1. verdanke sich das Desaster allein dem kranken Gehirn des feindlichen Großmacht-Anführers. Und 2. habe dieser ja angefangen, nämlich mit einem „Angriffskrieg“ aus „heiterem Himmel“. Von früh bis spät hämmert diese, vorsichtig ausgedrückt, unterkomplexe These durch alle großen Kommunikationsmaschinen und die Alltagswelt der Sternenbewohner auf der einen Seite der Kriegsfront und dringt noch in die kleinste Hütte – so sollen „Zusammenhalt“ hergestellt und der Glaube an ultimativ ausreichende, eigene imperiale Größe beschworen sowie die Bereitschaft zum „Gegenangriff“ unterstrichen werden. Aus „Verantwortung“ für den gesamten Stern, wie es heißt.

Statt nachzuhaken, machen im Hinterland der Front nicht nur sämtliche großen Kommunikationsmaschinen, sondern auch alle möglichen Vor-Ort-Propagandisten und Ortsvorsteher der Sternenbewohner für den Krieg mobil. Ebenso Wissenschaftler, die Lehrerschaft, „Experten“ aller Art etc. Das übrigens auf beiden (!) Kriegsseiten. Genau so, wie es vor den beiden vorhergegangenen, sternumfassenden Vernichtungskriegen der Fall war. Mit genau demselben nationalen, staatsfixierten Fanatismus. Als Wesensmerkmal eines geistig armen Sternentyps, der vor nun finaler Selbstvernichtung steht – aufgrund des Beharrens auf einem irrsinnig konkurrenzorientierten Gegeneinander um überlegene Wirtschaftsmacht, das auf diesem Stern alles bestimmt. Man nennt es dort gemeinhin auch „unsere Art zu leben“.

Von dieser Art wollen die Sternenbewohner einfach nicht lassen, weder jene, die der Supermacht und ihren Verbündeten untergeordnet sind, noch jene im Herrschaftsbereich der feindlichen Großmacht, schon gar nicht jene, die meinen, wenn Aggression und Krieg im Namen von Bevölkerungsumfragen und Mitbestimmungswahlen daherkommen, sei das eine gute Sache, der sich –tautologisch geschlussfolgert – daher alle anderen globalen Experimente des Zusammenlebens einer auf Kreuzchenmachen abgerichteten „Demokratie“, wie diese Form der Mitbestimmung auf dem Stern genannt wird, schlicht fügen müssten. So soll, so „muss“ es einfach sein, ist überall zu hören.

Wie‘s weitergehen wird auf diesem Stern? Ich wage eine Prognose: Noch bevor sie womöglich von Teilen der Sternenbewohner als Wahrheitsverdreher und Kriegstreiber enttarnt werden, schaffen die durch die bisherige Supermacht schlagartig demaskierten Anführer der verbliebenen Kriegsallianz schnell und „mit Blick nach vorn“ neue Tatsachen und führen eventuell blitzartig eine supermachtfreie, aber nichtsdestotrotz gigantische Militär-Aktion gen Osten an, bereiten sie zumindest provokativ vor. Nur so, glauben sie, können sie a) ihren politischen Status sichern und ihre ökonomischen Interessen entscheidend voranbringen sowie b) ihr „Gesicht wahren“ gegenüber zukünftigen potentiellen Feinden und am Ende auch noch vor ihren Untertanen. Womöglich werden dabei – wider Erwarten – die Superwaffen der Sternen-Supermacht eine Weile lang richtig scharf gemacht.

Einzelne Überraschungen sind hier nicht ausgeschlossen. Aber die Titel für solche Monstrositäten stehen schon seit bald 150 Sternenjahren unter der Herrschaft des Konkurrenzprinzips fest: „Verteidigung des Vaterlandes“ wahlweise „Friedensmission“.


„Den Wahnsinn stoppen!“

„Heraus zu Protest und Widerstand – Gegen Krieg, Hochrüstung und Kriegswirtschaft!“ So ein neuer Aufruf aus der „Sagt nein!“-Initiative. Dazu eine Mitteilung der IVA-Redaktion.

„Die Militarisierung Deutschlands schreitet voran. In den Medien wird die Aufrüstung zunehmend als alternativlos dargestellt.“ So heißt es in einem Kommentar bei Telepolis, der die Formierung der hiesigen Öffentlichkeit in Sachen Kriegsertüchtigung und Aufrüstung auf den Punkt bringt. IVA hatte dazu schon im Februar, vor der Bundestagswahl, ein eigenes Flugblatt „Gegen Kriegstüchtigkeit!“ veröffentlicht, das Einspruch gegen diesen nationalen wie europäischen Trend einlegte und auf die – noch – vorhandenen Protestmöglichkeiten der Gegenöffentlichkeit aufmerksam machte.

Eine Gegenbewegung gibt es auch in den deutschen Gewerkschaften, deren Führung ansonsten den Aufrüstungskurs der alten wie der neuen Regierung unterstützt und von einem Widerstand gegen die auf Hochtouren laufende Kriegsvorbereitung nichts wissen will. Kritische Stimmen fand man aber bereits vor der Eskalation seit Maidan-Putsch und gescheitertem Minsk-Abkommen beim Gewerkschaftsforum Dortmund oder beim GEW-Magazin Ansbach. Ende Juli 2023 startete dann die oppositionelle Initiative „Sagt nein! – Gewerkschafter:innen gegen Krieg, Militarismus und Burgfrieden“.

Für ein „unüberhörbares und unübersehbares Nein“

Die Initiative wurde vor allem von Mitgliedern der DGB-Gewerkschaft Ver.di ins Leben gerufen und von verschiedenen Gruppierungen und Sympathisanten unterstützt. Sie legte einen Aufruf vor, der bisher von rund 20.000 Personen unterschrieben wurde, und konnte sich auch – wie IVA berichtete – beim Ver.di-Bundeskongress im September 2023 zu Wort melden. Nachdem der DGB-Bundeskongress 2022 auf Betreiben des Bundesvorstandes sein Ja zu Waffenlieferungen und Aufrüstung abgeliefert hatte, stand auch bei Ver.di die Einreihung in die NATO-Front an. Unter dem Deckmantel eines „umfassenden Sicherheitsbegriffs“, so kritisierte der Aufruf, sollten sich Gewerkschaftsmitglieder als Jasager zur neuen Kriegslogik bekennen. Verhindert werden konnten die Anträge der Gewerkschaftsführung nicht, aber es gelang, eine deutliche Protestposition in der Gewerkschaft öffentlich zu machen.

Mittlerweile gibt es weitere kritische Gewerkschaftsinitiativen und zuletzt hat „Sagt nein!“ – gemeinsam mit anderen oppositionellen Stimmen vorwiegend aus dem antikapitalistischen Lager – besagten Aufruf „Gegen Krieg, Hochrüstung und Kriegswirtschaft!“ veröffentlicht. Das Flugblatt steht hier zum Download bereit. Es ruft zur Teilnahme an der zentralen Friedens-Demonstration am 29. März 2025 in Wiesbaden auf und fordert, dass die diesjährigen Ostermärsche (in der Zeit vom 17.-21. April) „zu unüberhörbaren Manifestationen gegen den globalen Krieg und die weiteren Kriegspläne der Herrschenden werden“. Auch sollte der internationale Kampftag der Arbeiterklasse am 1. Mai und der 80. Jahrestag der Befreiung vom deutschen Faschismus am 8. Mai für ein „Fanal gegen Krieg, Militarismus, Burgfrieden und Faschismus“ genutzt werden.

Die Demonstration in Wiesbaden gegen neue US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland findet am Samstag, dem 29. März, statt. Die Auftaktkundgebung erfolgt um 12.00 Uhr am Wiesbadener Hauptbahnhof. Nach einem Demonstrationszug durch die Stadt soll gegen 14.30 Uhr die Abschlusskundgebung auf dem Kranzplatz stattfinden. Näheres findet man über den Link der Wiesbadener Organisatoren. Die Termine der verschiedenen Ostermärsche finden sich auf der Website der Friedenskooperative.

Der Aufruf von „Sagt nein!“ wird bundesweit verbreitet. Er formuliert erstens den Einspruch gegen den offiziellen Kriegs(vorbereitungs)kurs und erhebt in einem zweiten Teil unter der Überschrift „Krieg und Leichen – Die letzte Hoffnung der Reichen“ eine Reihe von Forderungen. Diese beginnen mit dem sofortigen Stopp der „Verteilungskriege der imperialistischen Mächte“ und schließen mit dem „Verbot aller faschistischen Organisationen und ihrer Propaganda“. Dazu hier zwei Anmerkungen.

Kapitalisten sind nicht geil auf Krieg, sondern auf Profit.

„Krieg und Leichen – Die letzte Hoffnung der Reichen“ so lautete John Heartfields berühmte Fotomontage in der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung (AIZ) von 1932, die jetzt im neuen Flugblatt mit Bild und Text wieder abgedruckt ist. So verdienstvoll die Antikriegsagitation der damaligen kommunistischen Presse auch sein mag und wie sehr man zudem die Leistung der Heartfield-Brüder loben mag (dass sie den Dadaismus in AgitProp transformierten und damit dem künstlerischen Avantgardismus zu seiner wahren Bestimmung verhalfen) – stimmen tut die Losung leider nicht. Das Kapital ist nicht geil auf Kriege. Es sei denn, man verfällt auf die abwegige Idee, nur die Rüstungsindustrie anzuklagen, die sich auf Kosten ihrer Kollegen aus anderen Kapitalbranchen vordränge, um bei staatlichen Aufträgen abzusahnen. Eine Vorstellung, die sich gerade an den europäischen Aufrüstungsbemühungen und ihren einschlägigen Kontroversen blamiert: Hier soll ja die Rüstungsindustrie erst geschaffen werden, die EU-Staatschefs wollen dafür alles in die Wege leiten und besonders darauf achten, dass nicht gleich wieder 50 % der gestemmten Summen für Einkäufe bei der US-Industrie ausgegeben werden. Das ist ja gerade das Leiden der deutschen und europäischen Politik, dass sie die machtvolle Rüstungsbranche, die ihr dann die Aufträge „diktiert“, nicht hat.

Grundsätzlich gesagt: Das Kapital ist interessiert an Profit, nicht an der Zerstörung von menschlichen und sachlichen Ressourcen. Es gibt keine Kriege in Auftrag, diese sind vielmehr das Werk einer Machtkonkurrenz von Staaten, die jeweils ihren Kapitalismus betreuen. Gerade Trump liefert hier ein aktuelles Beispiel. Er kommt bei Gelegenheit – wenn das Zerstörungswerk des Militärs die Schädigung der gegnerischen Macht in ausreichendem Maße zustande gebracht hat – geradezu mit imperialistischem Geschäftssinn daher, der Friedensschalmeien anstimmt und die Rücksichtslosigkeit eines ukrainischen Nationalisten bloßstellt. Dieser begnadete „Dealmaker“ kann dann sogar als Warner vor einem dritten Weltkrieg auftreten, der den Weg zum friedlich-schiedlichen Handelsverkehr weist!

Demokraten können Faschisten verbieten, mehr nicht.

Die marxistische Kritik, so der Politikwissenschaftler Reinhard Kühnl, besteht darauf, dass Demokratie und Faschismus zwei „Formen bürgerlicher Herrschaft“ sind, dass sie also eine Gemeinsamkeit in ihrer politökonomischen Grundlage haben, auf deren Herrschaftsbedarf sie sich beziehen. D.h., sie bieten sich als Alternativen an und setzen sich, je nachdem per Wahlzettel, machtvoller Bewegung und/oder auswärtiger Protektion, als politisches Programm durch. Gemeinsam ist ihnen die Sorge um den Erfolg der Nation auf kapitalistischer Grundlage und je drängender die nationale Notlage ist, desto mehr kommen im demokratischen Alltag die faschistischen Ideale zum Zuge: starke Führung, klares Feindbild, Schutz der Volksgemeinschaft vor Ausland & Ausländern und vor allgemeiner Sittenlosigkeit – schlussendlich alle Potenzen in einer wehrhaften, kriegsbereiten Nation zusammengeschlossen. Daher haben Marxisten immer wieder betont, dass Demokraten Faschisten nur verbieten, aber nicht kritisieren können. Ein Lehrstück in dieser Hinsicht lieferten gerade die letzten Auseinandersetzungen um die demokratische Brandmauer gegenüber der AfD: In der Sache, dem Kampf gegen „irreguläre Migration“, herrschte größte Einigkeit der Mitte mit den Rechten. Hier wird nur aus wahltaktischen Überlegungen ein Gegensatz stilisiert, den man aber auch fallweise – siehe die Merz-Initiative im Wahlkampf – hintanstellt. Ähnliches war vorher schon bei den durch Correctiv enthüllten, angeblich geheimen „Remigrations“-Plänen der AfD zu beobachten, wo es vor allem darum ging, eine störende Alternative im demokratischen Betrieb auszuschalten (vgl. IVA Texte Februar 2025).

Wenn das Flugblatt jetzt das Verbot „aller faschistischen Organisationen“ fordert, fragt man sich, an wen sich diese Forderung wendet. An die demokratische Obrigkeit, damit sie Weidel und Co. in die Wüste schickt? Richtet man sich also an die Macht, die gerade die gigantische Aufrüstung betreibt, Widerspruch nicht duldet und der es sicher sehr gelegen käme, wenn man rechtspopulistische Querschläger aus dem Weg räumen könnte? Also Vertreter eines dissidenten Standpunkts mundtot machte, die ähnlich wie Trump Geschäftsaussichten mit dem russischen „Partner“ ins Auge fassen und deswegen bei Gelegenheit sogar das gängige antirussische Feindbild in Frage stellen. Gegen diese Störenfriede soll der Antikriegsprotest die staatliche Macht anrufen, damit sie rücksichtslos zuschlägt und noch mehr „Propaganda“-Verbote erlässt?

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Dies nur als Hinweis darauf, dass bei dem jetzt vorliegenden Aufruf – verständlicher Weise, denn so werden Bündnisse geschmiedet – Positionen vorkommen, die nicht von allen Unterzeichnern und Unterzeichnerinnen geteilt werden, ja die ins Feld neuer Kontroversen führen. Das muss kein Schaden sein. Diese Kontroversen auszutragen im Kreis derjenigen, die eine antiimperialistische Kriegskritik befördern wollen, und in der Auseinandersetzung mit anderen friedensbewegten Positionen, die an die „eigentlich“ vorhandene Friedensfähigkeit und -willigkeit der Regierenden appellieren, ist gerade das Angebot, das ein solcher entschiedener Einspruch gegen den militaristischen „Wahnsinn“ machen kann.

Natürlich macht man sich nicht mit rechten Positionen gemein, die möglicherweise jetzt auch auf Verhandlungsfrieden und Diplomatie setzen. Aber da, wo man sich gegen Aufrüstung und Militarisierung positioniert, besteht diese Gefahr gar nicht. Einer Partei wie der AfD ist der Aufbau Deutschlands zu einer militärischen Führungsmacht ja hochwillkommen. Weil sie aber den eingespielten Politbetrieb der BRD stört, wird sie mit ihrer „Propaganda“ als extremistisch ausgegrenzt (siehe dazu auch Renate Dillmanns Beitrag „Der rechte Kampf für Wahrheit und Freiheit“ in: Konkret, 3/25). Sich in der deutschen Gegenöffentlichkeit daher noch mehr Verbote zu wünschen, wäre in der Tat fatal.


Ein Rückblick zur Bundestagswahl

Johannes Schillo und Renate Dillmann haben am 23. Februar im Overton-Magazin Impressionen & Reflexionen zum Wahltag beigesteuert.

„Juchhu, wir dürfen wieder wählen!“ So hieß es im Overton-Magazin nach dem Bruch der Ampelkoalition und im Blick auf die drohende Sternstunde der Demokratie. Jetzt ist sie vorbei und der Alltag hat uns wieder. Bis auf Hamburg natürlich, wo die Bürgerschaftswahl ansteht und die Presse sich Sorgen macht: Kann die AfD ihr altes Ergebnis verdoppeln? Muss die FDP wieder draußen bleiben? Etc.

Aber wir wollen nicht vorgreifen, sondern hier nur zwei Statements zur Erinnerung an den großen Tag der Republik nachtragen, als bei Overton Stimmen aus der Gegenöffentlichkeit den Verlauf der Bundestagswahl kommentieren sollten.

Noch unentschlossen am Wahltag

Sonntagvormittag, die Wahllokale öffnen, ich muss mit dem Hund raus und an den vielen tollen Plakaten vorbei: Tja, „Betrug am Wähler“, ein „großes Täuschungsmanöver“, so Professor Butterwegge in seiner Analyse bei Telepolis. Die Analyse hat er mittlerweile mit einem dritten Teil abgeschlossen – und er bleibt dabei: „Mit Täuschung zum Triumph“. Die Durchsicht der Wahlparolen, die Björn Hendrig vorher geliefert hatte, machte auch nicht viel Lust aufs Wählen. „Die Kunst des schönen Versprechens“ bringe Wahlplakate hervor, die sich als „kommunikative Schrotflinte“ bewähren: „Irgendeinen wird die Botschaft schon treffen. Da kann man sich noch so sehr wegducken, übersehen geht nicht.“

Aber die bunte Bildergalerie hat jetzt ausgedient und der Worte sind genug gewechselt – das Wahlvolk schreitet zur Abrechnung. „Das Gute an dem kurzen Wahlkampf ist, dass er vorbei ist“, kommentiert die FAZ am Wahlwochenende im Wirtschaftsteil. Sie beklagt die „Lähmung“ des Standorts, wo sich nur „kleine Lichtblicke“ zeigen und wo das Wahlergebnis unter Umständen wieder in eine „bleierne Zeit“ führen könnte. Ich fürchte mich auch vor den bleihaltigen Zeiten, die auf uns zukommen, und darf Derartiges noch in der Gegenöffentlichkeit äußern. Im wahlwerbenden Schilderwald entdecke ich sogar einen Lichtblick, nämlich das Plakat der Titanic-Partei: „Kein Weltkrieg ohne Deutschland“. Endlich mal keine Täuschung! Das ist der Konsens aller staatstragenden Kräfte und somit ein Wahlversprechen, das sicher eingehalten wird – koste es, was es wolle, und sei es die Hälfte des Bundeshaushalts. Darauf haben wir ein großes schwarzrotgoldenes Ehrenwort bekommen.

Demokratische Sternstunde

Sonntagabend, 18 Uhr – die Wahllokale schließen. Nun haben sie also gewählt, der Wähler und die Wählerin bzw. „der Souverän“. Sie haben es einen ganzen Tag lang in der Hand gehabt: ihren Wahlzettel. Die Parteien und ihre Kandidaten haben vor ihnen und dem donnernden Votum gezittert und sich dafür im Wahlkampf mit guten Argumenten und sachlich-aufklärenden Diskussionen überboten. Nun ja – so ähnlich jedenfalls soll man sich die Demokratie vorstellen.

Nun sitzen der Wähler und die Wählerin vor dem Fernseher und dürfen zusehen, was die Parteien unter Berufung auf die zusammengezählten Kreuzchen in ihrer Konkurrenz um die Verteilung der Macht anstellen. Und welche angebliche Erwartungshaltung „des Wahlvolks“ bezüglich Krieg und Frieden, Migration, Sozialpolitik undsoweiter die Medienexperten in die Millionen von Kreuzchen hineininterpretieren, wenn sie mit den Kandidaten talken.

Das war sie dann – die demokratische „Sternstunde“. Außerhalb dieser großen Stunde, d.h. die nächsten vier Jahre lang und in allem, was ihn praktisch betrifft, hat „der Souverän“ nichts zu melden. Er muss schlicht dem nachkommen, was die gewählte bzw. durch Koalitionsverhandlungen ausgemauschelte Regierung an Gesetzen oder Verordnungen beschlossen hat. Seine demokratische Rolle in dieser Zeit: Nichts, nada, niente oder besser: gehorchen.

Und was hatte er in seiner großen Stunde (besser gesagt den fünf Minuten in der Wahlkabine) eigentlich zu sagen? Konnte er, der „Souverän“, „seinen“ Abgeordneten mit auf den Weg geben, was er braucht oder was ihm gegen den Strich geht? Dass er vielleicht gerne eine Welt ohne versaute Lebensmittel, allgegenwärtigen Verkehrslärm, ein Gesundheitssystem, dem man nicht trauen kann, und jetzt auch noch einen Krieg hätte? Durfte er wenigstens ein paar Dinge aufschreiben, die die Welt für ihn „ein kleines bisschen besser machen würden“?

Nein, das durfte der Wähler natürlich nicht. Jede Aussage – vom bescheidensten kleinen Wunsch bis hin zur Systemkritik – hätte seine Stimme ungültig gemacht. Seine Wahl bestand allein in einem kleinen Kreuzchen. Und damit darin, eine Partei ins Parlament und darüber möglicherweise einen Politiker, eine Politikerin ins Amt zu bringen, die ihm in den nächsten vier Jahren sagen darf, wo es langgeht in Deutschland. Wo an ihm gespart werden muss, damit das Geschäft der Unternehmen und Banken wieder auf die Beine kommt und die Bundeswehr ihre Aufrüstung hinkriegt.

Das allerdings unter Berufung auf ihn – den Wähler! Und nicht zu vergessen natürlich: die Wählerin.

P.S.

Wer dreieinhalb Stunden Zeit hat, kann sich das demokratische Highlight des Jahres 2025 auch noch mal ausführlicher zu Gemüte führen, und zwar mit einem Schuss Senf, den das „Trio Infernal“ von 99zu1 beigesteuert hat: „Nach der Wahl...“ als Episode 478 der Videopodcastreihe auf YouTube anzuschauen.

Eine knappe Information bietet dagegen der Videopodcast „Wohlstand für alle“ von Ole Nymoen und Martin M. Schmitt, und zwar zur Rolle der Wahl im Rahmen demokratischer Herrschaft. Die Episode 291 vom 5. März steht unter der Fragestellung „Ist Wählen verkehrt?“ und diskutiert die Demokratie-Kritik des GegenStandpunkts.


Februar

„Die Nicht-Klimawahl“

Noch ein Flugblatt zum Wahlkampf, die Meisterleistung betreffend, die globale Katastrophe des Klimawandels auszuklammern. Eine Information der IVA-Redaktion.

„Es hat sich etwas geändert seit der letzten Bundestagswahl. Klang es 2021 noch halbwegs plausibel, von einer ‚Klimawahl‘ zu sprechen, so spielt jetzt das Klima im Wahlkampf keine Rolle mehr“. Das schreibt Rudolf Netzsch in einem Flugblatt, das im Wahlkampf verteilt wurde und weiterhin Interessenten für Verteilaktionen zur Verfügung steht. „Dabei stellt keine der Parteien“, wie das Flugblatt fortfährt, „den Klimawandel in Abrede … Teile der AfD vielleicht ausgenommen“. Doch auch die AfD sieht energiepolitischen Handlungsbedarf. Wie Kanzlerkandidatin Alice Weidel jetzt im Bild-Interview (16.2.25) mitteilt, will ihre Partei „das Erneuerbare Energien Gesetz, das EEG, abschaffen, das uns bisher rund 500 Milliarden Euro gekostet hat“. Eine Energiewende wird aber nicht ausgeschlossen, „Zielbild ist, dass wir das Energieangebot ausweiten. Wir stehen für Energieoffenheit, für Marktwirtschaft auch am Energiemarkt“ (Weidel).

Damit reiht sich die AfD im Grunde in den demokratischen Parteienkonsens ein, der ökologischen Erfordernissen im Rahmen des ökonomisch Machbaren nachkommen will. Die Lage ist also jetzt, wo das Wahlvolk befragt und auf die großen Politthemen aufmerksam gemacht wird, genau so, wie sie Netzsch in seinem Buch über den Umweltprotest gefasst hat (siehe die Vorstellung bei IVA): Die Klimakatastrophe ist laut sämtlichen sachkundigen Dia- und Prognosen unterwegs und auch in internationalen Vereinbarungen als erstrangiges Menschheitsproblem anerkannt; die Konsequenz, die die Staatenwelt daraus zieht, ist aber im Grunde nichts anderes als business as usual, also Schutz des kapitalistischen Geschäftslebens vor allzu großen Kostenbelastungen.

Ein Nicht-Thema findet seinen Platz

So ähnlich sehen das auch sachkundige Wahlbeobachter. Ein Monat vor dem Wahltag legte z.B. die Bundeszentrale für politische Bildung ihre „Informationen“ zur Wahl vor, in denen sich Politik-Professor Frank Decker zu den großen Themen des Wahlkampfs äußerte. An erster Stelle stünden hier „Wirtschaft und Soziales (einschließlich Klimaschutz)“ und an zweiter der russische Krieg in der Ukraine – eine erstaunliche Fehleinschätzung! (Siehe IVA-Texte2025) Einerseits jedenfalls. Andererseits hat der Mann ja recht, Klimaschutz eingeklammert unter Wirtschaft (und Soziales), genau so kommt das Thema vor und wird als eigenes globales Problem, das „uns“ bewegt, ausgeklammert.

Denn angeblich, das hört man von wohlmeinenden Stimmen, könnte man die Leute nicht mit Plänen zu einem energiepolitischen Umbau verschrecken, der viel Geld kostet und von „uns allen“ Einschränkungen verlangt; das wären Zumutungen, die der Wähler niemals akzeptieren würde. Als ob nicht die ganze Zeit von Zumutungen die Rede wäre, die demnächst auf den Bürger zukommen! Allen Ernstes wird ja diskutiert, ob man 40 % des Bundeshaushalts für Rüstung ausgeben kann und an welchen anderen Stellen (natürlich vor allem beim Sozialen) wie viel dafür zu kürzen wäre. „Das Prinzip staatlichen Handelns ist“ eben, heißt es im Flugblatt, „die Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung, und die kennt keine Rücksichtnahme, weder auf Land noch auf Leute. Denn diese Ordnung, also der Kapitalismus, verträgt sich nicht mit Klimaschutz, sondern führt mit gesetzmäßiger Notwendigkeit in die Katastrophe. – Wann hat denn der grüne Wirtschaftsminister aufgehört, zugleich einen Klimaschutzminister darzustellen? Genau: als die Konjunktur einzubrechen drohte, also als sich Schwierigkeiten für die kapitalistische Wirtschaft ergaben.“

Weitere Informationen zu dem Thema bietet Rudolf Netzsch jetzt auf einer eigenen Website an: „Nachdenken über Klima und Zeitgeist“ (https://www.rudi-netzsch.de/). Dort wird die Publikation „Nicht nur das Klima spielt verrückt – Über das geistige Klima in der heutigen Gesellschaft und die fatalen Folgen für das wirkliche Klima der Welt“ vorgestellt und dazu auf weitere Texte des Autors oder damit verbundene Veröffentlichungen verwiesen. Netzsch setzt sich in seinem Buch auch mit den verbreiteten ohnmächtigen Klagen auseinander, in Sachen Umweltschutz würde zu wenig geschehen. Immer wieder werden ja Verfehlungen oder Versäumnisse Einzelner beklagt – sei es der Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik, sei es von uns allen. „Unter solch einer Perspektive scheint es keinen anderen Ausweg zu geben, als Appelle an den Staat als den Repräsentanten der abstrakten Allgemeinheit zu richten. Um darüber hinauszukommen, wird in dem Buch dafür plädiert, das Handeln der Menschen in ihrem gesellschaftlichen Kontext zu begreifen und die stummen Zwänge der Verhältnisse als das zu erkennen, was zu überwinden ist. Auf dieser Grundlage werden auch verschiedene linke Positionen dazu kritisch diskutiert.“

Auf der Website gibt es die Möglichkeit zum Download (https://www.rudi-netzsch.de/blog-zum-buch/flugblatt-zum-klimastreik-am-14022025) des aktuellen Flugblatts sowie früherer Flugblätter. Der Autor ist auch in einem Videopodcast zur Kritik der Klimabewegung bei 99zu1 aufgetreten: https://www.youtube.com/watch?v=yLw4j9RZcfs. Auf der Website finden sich ferner aktuelle Texte zum „Geistigen Klima“ und es gibt die Möglichkeit, Kommentare beizusteuern oder Anfragen an den Autor zu richten.


Gegen Kriegstüchtigkeit!

Ein Flugblatt informiert über kritische Stimmen zum neudeutschen Leitbild Kriegstüchtigkeit. Dazu eine Information der IVA-Redaktion.

Deutschland steht im Zeichen von Kriegstüchtigkeit und Kriegsvorbereitung – auch wenn der Wahlkampf das Thema großzügig ausklammert und noch gar nicht klar ist, in welcher Konstellation nach dem Amtsantritt von Donald Trump und nach der Bundestagswahl die großartige westliche Waffenbrüderschaft fortgesetzt wird. Eins steht aber fest: Friedlich wird es auf dem Globus nicht. Der neue US-Verteidigungsminister Hegseth kündigt bei seinem Europabesuch an, er werde die NATO „aus einem ‚diplomatischen Club‘ zu einer ‚tödlicheren Kraft‘ machen“ (Junge Welt, 13.2.25). Und dass Europa eine veritable Militärmacht werden soll – Verteidigungsausgaben in Höhe von 5 % des Bruttoinlandsprodukt werden verlangt –, gehört mit zur Neubestimmung des transatlantischen Verhältnisses.

IVA hat bereits mehrfach auf den Prozess der umfassenden Militarisierung aufmerksam gemacht, der neben der geistig-moralischen Aufrüstung natürlich die militärischen Mittel und politischen Weichenstellungen betrifft und der der Nation einiges abverlangt. Bei aller Führung des westlichen Lagers durch die „einzig verbliebene Supermacht“ USA ist hier festzuhalten, dass die BRD sich ebenfalls Führung zutraut und für sich und für die EU die Rolle eines Hegemons in Anspruch nimmt, der auf dem europäischen Kontinent für die Ausschaltung einer russischen Großmacht sorgt.

Die Karriere eines Frontstaats

Dieser Aufbruch zu neuen Ufern hat natürlich seine Tradition. Vor 75 Jahren, unterm CDU-Kanzler Konrad Adenauer, wurde die Remilitarisierung der BRD in die Wege geleitet. Eine kriegsmüde Nation wurde innerhalb von fünf Jahren auf die Rolle eines Frontstaates umgestellt, der der östlichen Großmacht SU – natürlich im Bund mit den NATO-Spießgesellen und unter Führung des US-Hegemons – Paroli bieten sollte.

Vor gut 45 Jahren forcierte der sozialdemokratische Kanzler Helmut Schmidt die atomare Aufrüstung Westeuropas, die als „Nachrüstungs“-Bedarf firmierte und u.a. beim Juso-Chef Scholz auf Protest stieß: Bei ihm und der damaligen machtvollen Friedensbewegung kam der Verdacht auf, der US-Imperialismus (miss-)brauche Europa als – letztlich: atomares – Schlachtfeld zur Ausschaltung seines realsozialistischen Rivalen und zur Mehrung seiner eigenen Macht.

Vor gut 25 Jahren beteiligte sich dann der SPD-Kanzler Gerhard Schröder mit seinen grünen Koalitions-Kumpanen an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf Serbien, um in die Regelung der regelbasierten US-Weltordnung die gewachsenen Ansprüche eines wiedervereinigten Deutschlands einzubringen. Denn nach der Kapitulation des Systemrivalen unter Gorbatschow stand der ehemalige Ostblock zur Inbesitznahme offen: Von der Zerlegung des Balkans bis zur mehr oder weniger friedlichen NATO-Osterweiterung rückte man der – unter Putin wieder stabilisierten – östlichen Macht auf die Pelle, die sich nicht mit der ihr zugewiesenen Rolle als „Regionalmacht“ (Obama) abfinden wollte.

­Als nun vor drei Jahren die Russische Föderation auf die westliche Einkreisung mit einem Gegenschlag antwortete, begann die letzte Phase der deutschen Militarisierung. Der seit Beginn der Republik vorhandene politische Wille, Russland als Großmacht zu beseitigen und das auch – wenn der Feind sich nicht durch seine westlichen Gegner abschrecken lässt – mit einem Atomkrieg zu realisieren, schreitet jetzt zur Tat.

Und so fasst zuletzt Kanzler Scholz im Sommer 2024 gemeinsam mit der US-Regierung den Beschluss zu einer Stationierung von (eventuell auch atomar bestückbaren) Raketen in Deutschland, die „über deutlich größere Reichweite als die derzeitigen landgestützten Systeme in Europa verfügen“ (so die bilaterale Erklärung), also die Option eines Enthauptungsschlags aus der Nachrüstungsära wieder ins Spiel bringen. Und die nukleare Teilhabe der BRD wird ja sowieso ständig mit den US-Freunden geübt, die jetzt unter Trump bekanntgeben, wie prinzipiell feindlich sie allen anderen Nationalinteressen gegenüberstehen, und damit das deutscheuropäische Verlangen nach massiver Aufrüstung umso dringlicher machen.

Widerspruch aus der Gegenöffentlichkeit

Wie gesagt, die aktuelle Entwicklung seit den Präsidentschaftswahlen in den USA mischt jetzt die geopolitischen Kalkulationen der NATO-Mitglieder auf. Der Wille zum Krieg leidet darunter aber nicht, im Gegenteil. Das Programm, das Volk für die gi­gantische Aufrüstung in Form zu bringen und bluten zu lassen, ist Konsens bei den Verantwortlichen und denen, die Verantwortung übernehmen wollen. „Kanonen statt Butter“ heißt unver­blümt die Devise. Militärische „Resilienz“ ist das offizielle (Um-)Erziehungsziel.

Öffentlichen Einspruch gibt es aber – noch. Unter anderem von der etwas schwer bestimmbaren Größe „Gegenöffentlichkeit“, die mit den verschiedensten (An-)Klagen aufwartet, die aber in Sachen Antikriegsprotest eine wichtige Aufklärungsleistung beisteuert. IVA als Initiative zur Verbreitung von Aufklärung beteiligt sich an dieser Öffentlichkeitsarbeit, übernimmt kritische Beiträge oder veröffentlicht eigene Stellungnahmen. Um etwas in der Hand zu haben, wenn man bei Veranstaltungen der Friedensbewegung oder demnächst bei den Ostermärschen aufkreuzt, hat die IVA-Redaktion ein Flugblatt erstellt, das hier (Flyer IVA) abrufbar ist. Es steht unter der Überschrift „Gegen Kriegstüchtigkeit! Gegen die deutschen Hassprediger, die die Zivilgesellschaft mit Militarismus beglücken wollen!“ und gibt eine Übersicht zu Veröffentlichungen, Diskussions- und Veranstaltungsangebo­ten und will Interessenten helfen, Kontakte zu knüpfen und sich zu vernetzen.


Ein Stelldichein am „Tor zur Hölle“

Noch was zur Brandmauer. Ein Nachtrag zum letzten Beitrag über den Bundestagswahlkampf von Johannes Schillo.

„Aufstand der Anständigen – Demo für die Brandmauer“: Bundesweite Demonstrationen gegen Rechtsextremismus meldet die Tagesschau (tagesschau.de, 3.2.24). Ausgelöst durch „die von der Union initiierte Migrationsdebatte im Bundestag“ sollen sich laut Angaben der Veranstalter bis zu 250.000 Demo-Teilnehmer in Berlin, Köln, Bonn und anderen Städten eingefunden haben. Wie Anfang 2024, als das angebliche Potsdamer Geheimtreffen aufgeflogen war und gar nicht so geheime Pläne zur Begrenzung irregulärer Migration bekannt wurden (die im Grunde alle Parteien bis auf Linke teilen), ist also wieder ein antifaschistischer Aufschwung im Lande zu verzeichnen.

Wieder heißt es: „Den Anfängen wehren!“ Dazu kommentierte der Gegenstandpunkt bereits Anfang 2024 (Decker 2024, 85): „Welchen Anfängen? Wer gegen die schlechte Behandlung von Migranten ist, kann doch nicht erst bei der AfD anfangen. Und schon gar nicht für die Demokratie eintreten, die es in Deutschland gibt. Die ist mit ihrer Asyl- und Flüchtlingspolitik doch selbst der Anfang und eigentlich längst nicht nur der Anfang dessen, was schon jetzt, und zwar programmatisch, mit Deportationen endet: ‚Wir müssen endlich im großen Stil abschieben‘, sagt der demokratische Kanzler.“

Nach den Amoktaten von Solingen bis Aschaffenburg haben alle staatstragenden Kräfte diese Ansage bekräftigt – in der Sache knallhart, in der Tonlage mit einer gewissen Bandbreite von Bild bis zum hinterletzten Lokalblatt –, und mit dem Vorstoß des CDU-Kanzlerkandidaten Merz ist nun offiziell klargestellt: Die Brandmauer, die Demokraten fundamental von Rechtspopulisten und Rechtsradikalen trennen soll, gibt es in der Sache nicht. Sie muss künstlich hergestellt bzw. aufrecht erhalten werden. Sie verdankt sich einem parteitaktischen Kalkül, das einmal Abgrenzung verlangt, das andere Mal gemeinsames Vorgehen zulässt – natürlich alles nur, um dem Mehrheitswillen der Bevölkerung gerecht zu werden. Eine aufschlussreiche Lektion über faschistische Standpunkte, die mitten in der Demokratie hausen! Doch was sagen die maßgeblichen Volkserzieher dazu?

Gemeinsame Grundlagen

Explizit in Frage gestellt wurde die AfD-Ausgrenzungsstrategie in christdemokratischen und christlich-sozialen Kreisen zwar schon seit einiger Zeit. Aber jetzt erst, so erfährt man von Experten, soll die Gefahr drohen, dass der Rechtsradikalismus salonfähig wird. In konservativen Kreisen sieht man das etwas anders. Die FAZ konstatiert dabei auf ihre Weise, dass es die Brandmauer, also den fundamentalen Unterschied zwischen den demokratischen Parteien und ihren populistischen Rivalen, allen voran der AfD, eigentlich nicht gibt. Die rotgrüne Distanzierung vom Merz-Vorstoß, schreibt die „Zeitung für Deutschland“, verdanke sich ideologischer Borniertheit, die Polemik gegen das Wort „Begrenzung“ (vor einem Jahr war es der Terminus „Remigration“) sei in der Sache unbegründet. Es habe hier ja schon alles Mögliche mit SPD-Beteiligung gegeben – „wie die Aussetzung des Familiennachzugs“; und es ginge ja nur um pragmatische Dinge „wie ein größerer Aktionsradius für die Bundespolizei. Warum die SPD da nicht zustimmt, ist unbegreiflich. Nur das Argument, die Union mache gemeinsame Sache mit der AfD wäre ihr flöten gegangen. Aber ebendarum, um das ‚Tor zur Hölle‘, wie es Rolf Mützenich in geradezu grotesker Übertreibung nannte, ging es SPD und Grünen von Anfang an.“ (FAZ, 1.2.25)

Einen Beleg für den fiktiven Charakter der Brandmauer hat jüngst die Historikerin Daniela Rüther [1] mit ihrer Studie über „Die Sex-Besessenheit der AfD – Rechte im ‚Genderwahn‘“ (2025) geliefert. Es geht hier um die Polemik, die Rechtsradikale und Rechtspopulisten in Verbindung bzw. Übereinstimmung mit konservativen Kreisen gegen einen „Genderwahn“ der progressiven Kräfte betreiben. In der „Genderideologie“ sehen ja Rechte von Meloni bis Trump, aber auch Wertkonservative und christliche Traditionalisten den Angriff auf die nationalen Höchstwerte von Heimat, Familie und Gottesfurcht. Das traditionelle Familienmodell sei dagegen allein geeignet, die völkische Reproduktion sicherzustellen. Familienpolitik ist explizit Bevölkerungspolitik, die gegen das Aussterben des deutschen Volkes antreten muss. Und das will eine konservative Familienpolitik verhindern, wobei die AfD durchaus zu Modernisierungen bereit ist. Sie bekennt sich ja auch schon seit einiger Zeit zum Schutz von Homosexuellen, Transpersonen oder Frauen, die von sexueller Gewalt (natürlich durch Ausländer!) bedroht sind (vgl. dazu etwa den von Judith Goetz und Thorsten Mense herausgegeben Band „Rechts, wo die Mitte ist – Die AfD und die Modernisierung des Rechtsextremismus“, 2024).

Der Antifaschismus der Anständigen

Was man zu der jetzt öffentlich gemachten Brandmauer-Fiktion von den zuständigen Fachleuten hört, ist ansonsten wenig aufklärend. Ein Monat vor dem Wahltag legte – wie jedesmal bei solchen Anlässen – die Bundeszentrale für politische Bildung ihre „Informationen“ zur Wahl vor (bpb 2025). Der Autor, Politikprofessor Frank Decker, konnte natürlich Anfang des Jahres noch nicht wissen, dass der CDU-Kandidat mit seiner „Begrenzungs“-Initiative einen „Dammbruch“ einleiten würde, aber sonst waren, wie oben dargelegt, alle einschlägigen Informationen über die gemeinsamen Grundlagen bekannt. Dazu gab es ja auch in der politischen Öffentlichkeit immer wieder eindeutige Hinweise – sofern sich die Medien dafür interessierten und nicht, wie nach der Entlarvung des angeblichen Potsdamer „Geheimtreffens“, die Rechtspopulisten aus der demokratischen Gemeinschaft ausgrenzten, weil sie Pläne für eine ethnische Säuberung von NS-Format in den Schubladen hätten.

An der Dramatisierung des Migrationsproblems ‚nach Solingen‘ hätte man den ausländerfeindlichen Grundtenor des beginnenden Wahlkampfs unschwer erkennen können. Dass man die (irreguläre) Migration – noch vor Weltkriegsgefahr, Klimawandel, weltweiter, auch einheimischer Verelendung und Prekarisierung, die jetzt sogar unseren Wohlfahrtsstaat zum Abbau eines überzogenen Leistungskatalogs zwingt – als den eigentlichen Notstand betrachten soll, der alle betrifft, hat natürlich seine Wahlkampflogik (siehe unten den ersten IVA-Beitrag zur Brandmauer).

Was Decker dazu in den Informationen der Bundeszentrale zu vermelden hat, ist ein ziemlicher Fehlgriff. Klar sei, dass „die demokratischen Parteien der Mitte die Koalitions- und Regierungsbildung unter sich ausmachen“ würden. „Gänzlich Tabu ist für alle Parteien (mit gewissen Einschränkungen beim BSW) jedwede Zusammenarbeit mit der AfD.“ Da wundert es nicht, was der Mann zu den großen Themen des Wahlkampfs zu sagen hat. An erster Stelle stünden hier Wirtschaft und Soziales (einschließlich Klimaschutz), an zweiter der russische Krieg in der Ukraine. Natürlich kommt das alles in den Wahlprogrammen vor, sogar der Evergreen Bürokratieabbau hat hier seinen Platz. Aber die Rangfolge sieht bekanntlich anders aus.

Das Thema Migration wird von Decker am Ende auch noch aufgeführt. Hier sieht er eine Front, die zwischen den „linken Parteien“ (vor allem Rotgrün) und den „Mitte-Rechts-Parteien“ verläuft. Die einen seien „für Zuwanderung prinzipiell aufgeschlossen“, die anderen für „Begrenzung“. Dass Scholz seit einem Jahr zusammen mit seiner Innenministerin Faeser propagiert, man müsse „im großen Stil“ für Remigration sorgen, und, wie die FAZ bemerkte, auch schon allem Möglichen zugestimmt hat – nicht zuletzt auf europäischer Ebene (siehe dazu die Analyse von Joshua Graf bei 99zu1) –, geht dabei ganz verloren.

Wenig hilfreich sind auch die Einlassungen des Politikprofessors Hajo Funke, der bisher mit seinen Veröffentlichungen einiges an Aufklärung über die AfD beigesteuert hat. Im Zeitungs-Interview (Bonner General-Anzeiger, 1./2.2.25) erklärt er, Merz habe mit seinem „Tabubruch“ gezeigt, „dass er skrupellos die Macht will.“ Das kann man nicht bestreiten, ist aber nicht gerade eine Besonderheit dieses christlichen Politikers. Weiter heißt es: „Das, was Friedrich Merz durchgesetzt hat, ist ein Dammbruch. Das erste Mal seit 1949 haben demokratische Parteien mit einer antidemokratischen, rechtsextremen Partei bewusst und absichtsvoll zusammen eine Mehrheit erreicht.“ Das bietet noch weniger Aufklärung. Hier geht ganz verloren, was es an inhaltlichen Gemeinsamkeiten gegeben hat und was aus wahltaktischen Gründen zur Fiktion einer völligen Unvereinbarkeit hochstilisiert wurde. Da ist vielmehr Arnold Schölzels Kommentar (Junge Welt, 4.2.25) zuzustimmen: „AfD und Merz besorgen die Hetze, SPD, Grüne und FDP machen die Gesetze“. [2]

Am Schluss heißt es dann bei Funke: „Wir wissen aus Erfahrungen anderer Länder, aber auch aus unserer eigenen Erfahrung, dass eine Annäherung an Rechtspopulisten bei Wahlen eher dem Original hilft, also in diesem Fall der AfD.“ Schlussendlich steht also alles auf dem Kopf! Lernen kann man am Fall Zuwanderung und Demographie gerade etwas anderes: Nicht die AfD ist, wie gern behauptet, das Original, das jetzt bei den anstehenden Verschärfungen im Asyl- oder Ausländerrecht von den „Altparteien“ kopiert wird. Die demokratischen Bevölkerungspolitiker liefern vielmehr die Vorlage, die die Agenda des Nationalstaats in Sachen Intaktheit und Reproduktion(sfähigkeit) des Volkskörpers auf den aktuellen Stand bringt – und damit das Material, an dem die rechten Agitatoren dann immer den rücksichtslosen nationalistischen Geist vermissen.

Und der Protest?

Die antifaschistische Aufregung, die jetzt zu verzeichnen ist und zu erstaunlich breiten Protesten geführt hat, kann man jedoch nicht einfach mit einem Vertrauensbeweis für die etablierten Parteien gleichsetzen. Die Analyse des Gegenstandpunkt hat auf diesen Sachverhalt bereits bei der früheren Anti-AfD-Kampgane aufmerksam gemacht: „Es gibt diejenigen, die die deutsche und europäische Migrationspolitik auch ohne die AfD schon ziemlich schlimm finden. Und es gibt die anderen, die diese Politik unterstützen, sie aber nicht von der AfD gemacht sehen wollen. Der Dissens wird auf den Demonstrationen immer wieder laut – und dann schnell wieder leise. Teilnehmer rufen: ‚Merz, das gilt auch für dich‘ und vermissen bei CDU und SPD die berühmte Brandmauer gegen Xenophobie und Abschiebungspolitik. Es laufen auch Leute mit, die meinen, eine Demonstration für die Demokratie wäre eine Gelegenheit, an das Leiden der Palästinenser in Gaza und das ihnen verweigerte Recht auf eine eigene Demokratie zu erinnern.“ (Decker 2024, 86)

Das ist jetzt wieder genau die Lage, wie sich z.B bei der Bonner Demonstration – nach Berlin und Köln eine der größeren Veranstaltungen – zeigte. Da hier Amnesty International Mitveranstalter war, durfte das Thema Gazakrieg in einer Rede vorkommen, in Übereinstimmung mit der AI-Position, die den israelischen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser kritisiert. Als Rednerin trat eine – jüdische – Vertreterin der antizionistischen Organisation Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost auf. Für Lokalpresse und -politik war das ein Skandal, der auf die Notwendigkeit einer schärferen Kontrolle solcher Veranstaltungen verweist.

Eine systematische Kontrolle findet hier übrigens seit der Vorjahreskampagne statt, der ja damals vom CDU-Vorsitzenden Merz und von Bundespräsident Steinmeier der Weg in die konstruktive und damit allein zulässige Richtung gewiesen wurde: Tatkräftiges Vertrauen in die politische Klasse, die bisher den Laden ohne AfD-Beteiligung geführt hat, sollte am Schluss herauskommen. Notfalls muss hier der Staatsschutz einschreiten. Der operiert seit letztem Jahr etwa mit dem Paragraphen 86a des Strafgesetzbuches, der die „Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger oder terroristischer Organisationen“ unter Strafe stellt (Höchststrafe: drei Jahre).

Wenn Plakate bzw. Parolen mit zu viel antifaschistischem Elan gegen rechts einschreiten wollen oder sonstwie den zur Zeit geforderten Oppositionsgeist vermissen lassen, stattdessen etwa störende Aufklärung in Sachen rechte Gefahr vortragen, zieht die Polizei solche Dinge aus dem Verkehr. So jetzt in Bonn geschehen, wo zwei Demo-Plakate beschlagnahmt wurden, weil sie anscheinend den NS-Vorwurf an die Adresse der AfD zu plakativ vortrugen (wie gesagt nicht zum ersten Mal, bereits im Frühjahr 2024 fuhr die Polizei in einem Bonner Wohnviertel Streife und prüfte, welche Anti-AfD-Plakate zulässig und welche verboten sind). Die Urheber warten jetzt auf das Verfahren nach § 86a. Vielleicht sollten sich die Demonstranten einmal anhand solcher Fälle, aber auch im Blick auf die politische Großwetterlage klarmachen, für welche konstruktiven politischen Zwecke ihre antifaschistischen Ängste hergenommen werden.

Anmerkungen

[1] Die Autorin bringt umfangreiches Material zu ihrer These vom „Genderwahn“ und legt dar, wie die Propaganda für das heterosexuelle Leitbild von Ehe und Familie seine ehrwürdige familienpolitische Tradition hat, die nicht allein aus dem rechtsradikalen Lager gespeist wird. Im Grunde geht es hier ja um Bevölkerungspolitik, die jeder Nationalstaat – ob auto- oder demokratisch verfasst – betreibt. Bei Rüther bleibt jedoch die demokratische Tradition in Sachen Demographie etwas unterbelichtet. Bei ihr erscheint Bevölkerungspolitik als alleiniges Programm der AfD, während demokratische Politiker sich angeblich darum bemühen, die Selbstverwirklichung von Menschen mit Kinderwunsch in einem schwierigen politisch-ökonomischen Umfeld Wirklichkeit werden zu lassen. Dazu ist jetzt eine Rezension des Buchs im socialnet erschienen.

[2] Etwas milder ist der Kommentar von Albrecht von Lucke (2025) in den Blättern für deutsche und internationale Politik ausgefallen, er betont aber auch die grundsätzliche Übereinstimmung in der migrationspolitischen Linie: „Die anderen Parteien setzen der Radikalität der AfD kaum etwas entgegen. Das ist der Kern des AfD-Momentums in diesem Wahlkampf: Anstatt die Rechtsradikalen offensiv zu attackieren und ihre eklatanten Widersprüche aufzudecken, drohen die demokratischen Parteien sich aus eigener Schwäche selbst weiter zu kannibalisieren“. Der Kommentar wurde allerdings vor der neuesten Initiative des CDU-Vorsitzenden verfasst.

Nachweise


Die Brandmauer befeuert den Bundestagswahlkampf

„Bröckelt die Brandmauer?“ Das fragte ein Online-Kommentar von Johannes Schillo zu den jüngsten Entwicklungen ‚nach Aschaffenburg‘. Hier eine aktualisierte Fassung des Textes.

Der Bundestagswahlkampf hat sein heißes Thema gefunden: Jenseits aller Sachfragen geht es um die brennende Frage, ob die Brandmauer gegenüber der AfD hält. So lautete die Eingangsthese des Overton-Beitrags. Mittlerweile hat es einige Kommentare gegeben, die auf denselben Punkt Nachdruck legen. Bei Telepolis hielt z.B. Harald Neuber fest: „Schwarz-blau ist jetzt: Wie die CDU sich nach rechts öffnet – und das als ‚Brandmauer‘ präsentiert“. Und mit Merkels Einspruch ist jetzt die Aufregung groß, ob wir nicht das Ende der liberalen Demokratie erleben.

Ausgangspunkt war die – sonst immer der AfD unterstellte – Praxis einer ‚disruptiven‘ Intervention. „Merz wagt den Tabubruch“, kommentierte die FAZ (25.1.25) zustimmend nach der letzten Amoktat in Aschaffenburg die Linie des CDU-Kanzlerkandidaten. Der hatte nach den Aufforderungen aus CDU/CSU, aber auch aus der Bildzeitung und anderen Medien angekündigt, rechtsstaatliche oder humanitäre Zimperlichkeiten in Sachen Migration endlich fahren zu lassen. „Das Votum der Deutschen ist klar: Die große Mehrheit will sofortige und drastische Maßnahmen gegen die illegale Migration“, meldete Bild (bild.de, 26.1.25). Die „faktische Schließung deutscher Grenzen für illegale Migranten und Asyl-Sucher“ (Bild) sollte endlich das gefährdete Gemeinwesen wieder zur blühenden Landschaft machen. Das goldene Zeitalter, das Trump seiner Nation versprochen hat, soll also auch hierzulande einkehren.

Das hat Folgen, weniger hinsichtlich der praktischen Konsequenzen, die die nationale Politik ergreifen kann und darf (siehe dazu Graf 2025), als im Blick auf ein ideologisches Konstrukt, das in der BRD höchste politische Priorität besitzt bzw. besaß: Angeblich gibt es einen fundamentalen Unterschied zwischen den demokratischen Parteien und ihren populistischen Rivalen, allen voran der AfD, die ja – in Teilen – als extremistisch zu gelten hat. Automatisch wirksam wird dieser Unterschied freilich nicht, die Demokraten müssen sich gegenseitig immer wieder dazu aufrufen, ihn wirklich zu beachten und die Konkurrenz von rechts aus dem normalen Parteienpluralismus auszugrenzen, eben durch besagte Brandmauer. Doch jetzt heißt es: „Plan zu Migrations-Stopp verändert ALLES“ (bild.de, 27.1.25).

Rechte gegen Genderwahn

Explizit in Frage gestellt wird diese Ausgrenzungsstrategie in christdemokratischen und christlich-sozialen Kreisen schon seit einiger Zeit. Zuletzt hatte die Brandenburger CDU-Politikerin Saskia Ludwig „eine Koalition ihrer Partei mit der AfD nach der Bundestagswahl für sinnvoll“ gehalten (Junge Welt, 24.1.25). Dabei wandte sie sich explizit gegen eine Brandmauer gegenüber der AfD, die nur dieser Partei und dem „linken Lager“ nutze. „Wenn über 50 Prozent Mitte-rechts wählen, dann muss es auch eine Mitte-rechts-Regierung geben für die Bürger“, sagte sie und warb dafür, „dass wir mit unserer Demokratie deutlich entspannter umgehen müssen und den Wählerwillen akzeptieren“. Arnold Schölzel resümierte zutreffend in der Jungen Welt (25./26.1.25): „Die lächerliche Brandmauer zwischen CDU und AfD, die es auf kommunaler Ebene nie gab und die auf Länderebene systematisch durchlöchert wurde, ist Geschichte.“

Ein Beispiel für diese Durchlöcherung hat jüngst die Historikerin Daniela Rüther mit ihrer Studie über „Die Sex-Besessenheit der AfD – Rechte im ‚Genderwahn‘“ (2025) vorgelegt. Es geht um die Polemik, die Rechtsradikale und Rechtspopulisten in Verbindung bzw. Übereinstimmung mit konservativen, gerade auch jüdisch-christlich-muslimischen Kreisen gegen einen „Genderwahn“ der progressiven Kräfte betreiben. Hier bewegt man sich natürlich auf der Ebene einer ideologischen Überhöhung, wo Leitbilder eines sittlich-geordneten Zusammenlebens gegeneinander gestellt werden und beide Seiten die Ebene der praktischen Maßnahmen verlassen, auf der um einzelne familien- oder sozialpolitische Änderungen gerechtet wird, stets kontrovers angesichts „knapper Kassen“ und „vielfältiger Herausforderungen“.

Der von rechts angegriffene Genderwahn soll das Werk eines „Kulturmarxismus“ sein. Sowohl Trump als auch Weidel verwenden diesen ideologischen Kampfbegriff, der den Urheber beim finalen Untergraben der nationalen Sittlichkeit benennen soll. Während der Marxismus politisch keine Rolle mehr spielt, hält er sich erstaunlich zäh als Feindbild – nicht nur rechts außen. Sachlich ist das nicht ganz falsch: Marx und Engels haben schließlich im Kommunistischen Manifest den Proletariern geraten, sich von der Nation und ihren Höchstwerten inklusive Kleinfamilie und Beschränkung der Frauen auf Hausarbeit zu verabschieden.

Der Witz ist nur: Das, was seit gut einem Vierteljahrhundert unter dem Ticket Gender Mainstreaming – ausgehend von UN-Konferenzen – in die europäische und nationale Gesetzgebung als Auftrag zur Gleichstellung von Männern und Frauen Eingang fand und zu verschiedenen (Pseudo-)Aktivitäten wie Genderforschung, gendergerechte Sprache, Anerkennung bislang tabuisierter Sexualpraktiken etc. führte, hat mit dem Marxismus nichts zu tun. Es geht in der Hauptsache darum, wie Menschen, die auf Lohnarbeit angewiesen sind, im Berufsleben oder dem öffentlichen Raum vor Diskriminierungen geschützt, also mit anderen Konkurrenzsubjekten rechtlich und damit dann irgendwie sozial gleichgestellt werden und wie sie das in ihrem Privatleben anhand partnerschaftlicher Leitbilder regeln sollen. Der familiäre Regelungsbedarf bezieht sich darauf, wie die lohnarbeitende Menschheit mit der großartigen Errungenschaft der bürgerlichen Frauenemanzipation fertig wird: dass nämlich die traditionelle Versorgerehe passé ist, in der das Einkommen des männlichen Verdieners den Lebensunterhalt bestritt, und dass mittlerweile beide Partner Geld verdienen müssen, um halbwegs über die Runden zu kommen.

Die politischen Bemühungen um Gendergerechtigkeit zeigen jetzt, wie viel an materiellen Vorleistungen des Staates eingesetzt werden muss, wenn es darum geht, die Folgen der gigantischen Lohndrückungsaktion in den Griff zu bekommen und Friktionen der Konkurrenzgesellschaft dauerhaft zu beseitigen. Von der Empfängnisverhütung und dem Steuersatz auf Babywindeln über frühkindliche Erziehung, Kitawesen, Ganztagsschulen, berufliche Bildung bis zu Regelungen des Karrierewesens, der Ausmalung von Leitbildern oder der Betreuung einschlägiger Kollisionen muss alles Mögliche getan werden, um eine halbwegs funktionierende Work-Life-Balance hinzukriegen.

Wozu Leitbilder verleiten

Die praktischen Maßnahmen, die politisch ergriffen werden, um das Privat- und Familienleben funktional zu halten, sind das eine. Die Idealvorstellungen, die den Familienmenschen dazu nahe gebracht werden, stehen auf einem anderen Blatt. Auch das traditionelle Familienbild hat dabei schon einige Konjunkturen erlebt. Das weibliche Arbeitskräftereservoir staatlich zu erschließen ist ja nichts Neues, sondern seit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg eine Selbstverständlichkeit: Wenn Not am Mann ist, muss die Frau als Krankenschwester oder Rüstungsarbeiterin ihren Dienst leisten, und auch die Faschisten hatten keine Hemmungen, eine Leni Riefenstahl als ihre Starpropagandistin zu beschäftigen oder das weibliche Fußvolk als Funknachrichtenhelferinnen an die Front oder als Aufseherinnen in die KZ‘s zu schicken. Egal, welche idyllische Hausfrauenrolle im Nazi-Leitbild der Familie eigentlich vorgesehen war!

Das moderne Gender Mainstreaming gehört in die Abteilung der übergeordneten Leitbilder. Wie dargelegt ist es – ganz anders, als die Rechten sich das vorstellen – ein Programm, das den nationalen Erfolg sicherstellen soll. Es tut dies mit einem gewissen idealistischen Überschuss, der sich ganz dem Dienst an den weiblichen, männlichen, diversen oder sonstwie sexuell orientierten Konkurrenzsubjekten verpflichtet weiß. Dass eine materielle, soziale Gleichstellung mit dem supranationalen Verbindlichmachen dieser Strategie erreicht worden sei, können die Vertreterinnen und Vertreter dieser Politik nicht gerade behaupten. Aber das spornt anscheinend nur dazu an, auf dem Ideal noch nachdrücklicher zu bestehen, polemisch gesagt: einen regelrechten Genderwahn zu entwickeln. So gesehen, können sich beide Seiten mit diesem Vorwurf beharken.

Und die wertegeleitete, „feministische Außenpolitik“, wie sie unter der Außenministerin Baerbock Kariere machte, schafft es ohne Weiteres, andere Länder (natürlich nur, wenn es politisch opportun ist) daran zu messen, ob in ihnen irgendeine sexuelle Orientierung aus dem LGBT*-Regenbogen auch angemessen respektiert wird. Und die AfD-Vorsitzende Weidel schafft es, den Wahlerfolg des mächtigsten Mannes der Welt deshalb als globalen Hoffnungsschimmer, weil er mit der „Genderideologie“ Schluss machen will.

„Schluss mit der Genderideologie!“

Unter dieser Überschrift standen die Glückwünsche an die Adresse von Donald Trump, die die AfD-Vorsitzende Alice Weidel am 6. November 2024 über diverse Nachrichtendienste mitteilte. „Nicht das woke Hollywood hat diese Wahl entschieden, sondern die arbeitende amerikanische Bevölkerung.“ So begann ihr erstes Statement zur US-Wahl. Im Interview erläuterte sie: „Vor allen Dingen haben junge Leute Donald Trump gewählt. Warum? Weil sie vernünftig ausgebildet werden wollen und nicht mehr diesen ganzen woken linken Genderquatsch gelehrt bekommen wollen… Ich werde Ihnen sagen, was passiert, wenn die AfD in der Regierung sitzt, sie wird genau diesen ganzen Genderquatsch aus dem Bildungsplan rauswerfen.“

Der „Genderquatsch“ lähmt die Tatkraft junger Leute, verhindert den wirtschaftlichen Aufschwung und lässt stattdessen Massenmigration mit ihrer Gefährdung der inneren Sicherheit zu – so das Credo der AfD-Vorsitzenden, die das totalitäre Gender-Projekt auch schon im Bundestag als totalitären Umbau der Gesellschaft brandmarkte: „Die sogenannte ‚gendergerechte‘ Sprache ist ein Orwell-Projekt. Sie … will über die Manipulation der Sprache auch unser Denken im Sinne der Gender-Ideologie beeinflussen und kontrollieren.“

Vom Gender zur Migration

Was die Studie von Rüther schlüssig darlegt, ist die Verbindung dieser Propaganda für das frühere Familienideal und seine klare heterosexuelle Orientierung an naturgegebenen bzw. naturrechtlichen Daten mit der Hetze gegen Migration. Und dabei wird auch deutlich, dass man es hier mit einem gemeinsamen ideologischen Besitzstand zu tun hat, den das konservative Lager, etwa CDU/CSU, mit radikaleren Vertretern von rechts teilt; dass hier von den grundsätzlichen Überzeugungen her gesehen überhaupt keine Brandmauer existiert, dass sie vielmehr erst künstlich hochgezogen werden muss – sei es, um parteipolitischen Konkurrenten eine Grenze zu setzen, sei es aus einem gewissen Modernisierungsbedarf heraus, den etwa eine Kanzlerin Merkel bei ihrem Agieren in Koalitionsfragen oder der Staatenkonkurrenz sah.

Migration gilt den heutigen Rechten als Bedrohung der Volkssubstanz. Ins humanitäre Extrem getrieben – so lautete die damalige Polemik gegen die „Willkommenskultur“ Merkels, an der sich auch konservative Teile der CDU beteiligten und zu der Innenminister Seehofer (CSU) die Anklage vom „Unrechtsstaat“ beisteuerte – laufe sie mittels des initiierten „Bevölkerungsaustauschs“ auf einen nationalen „Volkstod“ hinaus. Eine Schreckensvision, die nicht nur Faschisten, sondern auch Demokraten umtreibt. So hat ja die postfaschistische Staatengemeinschaft nach dem Ende des Nationalsozialismus in einer eigenen Konvention den „Völkermord“ als das größte denkbare Verbrechen verurteilt. Die Ungeheuerlichkeit dieser Untat macht sich nicht an einem Massenmord fest, der hier geplant oder ausgeführt wird. Es kommt darauf an, dass der Täter oder die Täterin ein Volk zum Verschwinden bringen wollen, unabhängig davon, ob gegen viele Angehörige des Feindvolks vorgegangen wird oder nicht. So reicht ja auch schon der Hinweis auf die chinesischen Reeducation-Lager, in denen islamistische Uiguren gezwungen werden, Schweinefleisch zu essen und sich ins nationale Volksleben einzureihen, als Verdacht, dass hier ein „kultureller Genozid“ unterwegs ist.

Zuwanderung und Nachwuchsproduktion gehören – vom Standpunkt des Staates aus – zusammen. Es sind zwei Optionen, dem Bedarf nach einer brauchbaren Bevölkerung nachzukommen. Auf der Website des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) kann man nachlesen (bmfsfj.de), dass es natürlich zu den Aufgaben demokratischer Politik gehört, „den Herausforderungen des demografischen Wandels“ – auch bekannt als die Überalterung unserer Gesellschaft – zu begegnen. Und bekanntlich hat ja Anfang der 2000er Jahre die CDU einen Landtagswahlkampf mit der Parole „Kinder statt Inder“ bestritten. Das könnte eine AfD unmittelbar für ihr Wahlprogramm benutzen! Wobei die AfD sich heute (s.u.) selber an notwendigen Modernisierungen beteiligt. Der Slogan von Rüttgers aus dem nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf des Jahres 2000 würde den Rechtspopulisten heute vielleicht zu sehr nach der Festlegung auf die Rolle „Gebärmaschine“ klingen?

Früher war diese Rolle selbstverständlich. Als „1953 die Regierung Adenauer die Familienpolitik in den Rang eines Ministeriums“ erhob, das erfährt man auch auf der Website des BMFSFJ, galt eine BGB-Praxis, die mit ihrer Benachteiligung von Frauen eindeutig verfassungswidrig war – wie man heute weiß. Die Berufstätigkeit der Frau war ständiger Kritik ausgesetzt, auch und gerade durch den ersten Familienminister Wuermeling (CDU), den das BMFSFJ mit folgenden Äußerungen zitiert: „Für Mutterwirken gibt es nun einmal keinen vollwertigen Ersatz“. Oder: „Eine Mutter daheim ersetzt vielfach Autos, Musiktruhen und Auslandsreisen“. Laut Wuermeling war auch „der Frau die Aufgabe der ‚Selbsthingabe und Selbstverleugnung‘ zugewiesen, ein Dienst an ‚höheren Zielen‘: Fürsorge für Mann und Kinder“.

Die Verbindungslinie zum normalen Konservatismus – und damit der fiktive Charakter der besagten Brandmauer – hat übrigens FAZ-Redakteur Patrick Bahners in seinen Publikationen über die Ausländerfeindlichkeit („Die Panikmacher“, 2011) oder über den neuen deutschen Nationalismus der AfD („Die Wiederkehr“, 2023) besonders hervorgehoben. Die letztgenannte Studie sucht nach den intellektuellen Wurzeln der rechten Partei und wird dabei – wie schon in der Untersuchung zu den antiislamischen, migrationsfeindlichen „Panikmachern“ – im eigenen, nämlich konservativen Lager, speziell in einem von der FAZ geförderten Geistesleben fündig. Und da dürfte Bahners sich ja auskennen!

Ein letzter Punkt sei noch erwähnt: Auch die AfD versteht sich darauf – wie seinerzeit Merkel –, notwendige Modernisierungen vorzunehmen. Man wird sehen, wozu das im Wahlkampf (und danach dann in eventuellen Koalitionsverhandlungen) noch führen wird. In puncto EU hat es ja schon einige Anpassungsmaßnahmen gegeben, ein Dexit ist wohl nicht mehr vorgesehen, eher eine Umwandlung der EU zu einem Bund der Vaterländer (eine nicht gerade brandneue Idee); und auch zur NATO hat es gewisse Treuebekundungen gegeben.

Darüberhinaus bekennt sich die AfD schon seit einiger Zeit zum Schutz von Homosexuellen, Transpersonen oder Frauen, die von sexueller Gewalt (natürlich durch Ausländer!) bedroht sind. Judith Goetz, Mitherausgeberin des Sammelbandes „Rechts, wo die Mitte ist – Die AfD und die Modernisierung des Rechtsextremismus“ (2024), spricht in einem Interview (Konkret, 2/25) von „strategischen Anpassungen“, die der AfD dazu verhelfen sollen, „sich als offen, tolerant und modern zu inszenieren“. Andere Autoren konstatieren das Auftreten eines neuen „Femonationalismus“ oder „Homonationalismus“, der in den betreffenden Szenen – begrenzt – Anklang findet. Dazu passt ja, dass die Kanzlerkandidatin der AfD in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft mit einer Migrantin lebt.

Auf in den Wahlkampf!

Migration als Wahlkampfthema – das schlägt jetzt nach der letzten Amoktat Wellen und „die Parteien überbieten sich in Sachen Schikane von Asylbewerbern, Kriegs- und sonstigen Flüchtlingen“, wie es zuletzt in dem Beitrag „Wenn sich Brandstifter als Feuerwehrleute anbieten“ bei Overton hieß. CDU-Merz preschte aber auch schon Anfang Januar vor und versuchte der AfD die Vorreiterrolle zu nehmen. Er wolle, so sein Votum ‚vor Aschaffenburg‘ (siehe Bild am Sonntag, 5.1.25), selbst Deutsche abschieben, die eingebürgert sind, wenn sie zwei Straftaten begangen haben. Die AfD denkt erst einmal, so die Entscheidung ihres Wahlparteitags, „nur“ an die Abschiebung krimineller oder unberechtigt anwesender Personen…

Eine solche Dramatisierung des Migrationsproblems im Wahlkampf hat in der Tat etwas Wahnhaftes. So als ob hier angesichts von Weltkriegsgefahr, Klimakatastrophe, weltweiter, auch einheimischer Verelendung und Prekarisierung, die jetzt sogar unseren Wohlfahrtsstaat zum Abbau eines überzogenen Leistungskatalogs zwingt, der eigentliche Notstand, der alle betrifft, ausgemacht wäre. Aber sie hat ihre Logik. Wo das Volk sich sowieso keine sozialen Wohltaten mehr von der nächsten Regierung erwarten soll, höchstens die Beseitigung von ein paar Gerechtigkeitslücken (wie vor allem die SPD verspricht), die mit Respekt vor den sozialen Härtefällen ausgefüllt werden sollen, kann man den Leuten auch einmal den eigentlichen Lohn ihrer Dienstbeflissenheit vor Augen führen: Er besteht darin, was Overton schon in den letzten Wahlkampf-Analysen herausstellte, dass man mit anderen, den Migranten und denen, die nicht hierhergehören, noch rabiater umgeht als mit den eigenen Leuten. Das ist das tolle Angebot: Das treue, „privilegierte“ Eigenvolk, das sich alles gefallen lässt, darf beim Wahlkampf dabei zuschauen, wie sich die Parteien mit ihren Vorschlägen zur Schlechterstellung anderer überbieten.

Und lernen kann man am Fall Zuwanderung und Demographie auch noch eine andere Lektion: Nicht die AfD ist, wie gern behauptet, das Original, das jetzt bei den anstehenden Verschärfungen im Asyl- oder Ausländerrecht von den „Altparteien“ kopiert wird. Diese liefern vielmehr die Vorlage, die im Grunde jedem Nationalstaat vertraute Sorge um Intaktheit und Reproduktion(sfähigkeit) seines Volkskörpers. Die Konjunkturen, die sie dabei in arbeitsmarkt-, renten- oder industriepolitischer Hinsicht, bei Kriegen, Umsiedlungen oder sonstigen transnationalen Händeln zu bewältigen haben, liefern dann das Material, an dem sich rechtspopulistische Schmarotzer bedienen können – immer mit dem billigen Vorwurf, man könnte und müsste das Ganze noch mehr im nationalen Interesse gestalten.

P.S. Wie eingangs erwähnt, war der fiktive Charakter der Brandmauer nicht schwer zu erkennen. Dazu gab es ja auch in der politischen Öffentlichkeit immer wieder eindeutige Hinweise – sofern sich die Medien dafür interessierten und nicht, wie nach der Entlarvung des angeblichen Potsdamer „Geheimtreffens“, die Rechtspopulisten aus der demokratischen Gemeinschaft ausgrenzten, weil sie Pläne für eine ethnische Säuberung von NS-Format in den Schubladen hätten und mit der Errichtung einer faschistischen Diktatur beginnen würden, wenn sie an die Macht kämen. Bei Overton hieß es dazu in einem Kommentar im Sommer 2023: „Fragt sich nur, wie lange diese Abgrenzungsstrategie hält, hatte doch auch der frühere SPD-Ministerpräsident Börner zunächst den Grünen mit der Dachlatte gedroht, bevor seine Partei mit ihnen eine Koalition bildete. Bei so viel inhaltlicher Nähe zwischen AfD und den ‚etablierten‘ Parteien kann nach einer Wahl das politische Klima auch schnell kippen, denn schließlich geht es allen – auch der AfD – immer nur um eins: um Deutschland.“

Nachweise

  • Patrick Bahners, Die Panikmacher – Die deutsche Angst vor dem Islam. Eine Streitschrift. München 2011.
  • Patrick Bahners, Die Wiederkehr – Die AfD und der neue deutsche Nationalismus. Stuttgart 2023.
  • Suitbert Cechura, Umfragehoch für die AfD – oder was die Wähler falsch machen, in: Overton-Magazin, 24. August 2023.
  • Suitbert Cechura, Wenn sich Brandstifter als Feuerwehrleute anbieten, in: Overton-Magazin, 19. Januar 2025.
  • Judith Goetz, „Transpersonen fungieren als Kronzeug*innen“ – In der AfD engagieren sich erstaunlicherweise auch Transpersonen. Interview in: Konkret, Nr. 2, 2025, S. 40-41.
  • Judith Goetz/Thorsten Mense (Hg.), Rechts, wo die Mitte ist – Die AfD und die Modernisierung des Rechtsextremismus. Münster 2024.
  • Joshua Graf, Flucht – Asyl – Abschottung und das GEAS. 99 zu Eins, Episode 463, 23.1.25.
  • Daniela Rüther, Die Sex-Besessenheit der AfD – Rechte im „Genderwahn“. Bonn 2025.

Januar

Was verweigern eigentlich KDVler?

Die Wehrpflicht kommt wieder, damit auch das Recht der Kriegsdienstverweigerung (KDV), das im Grundgesetz verankert ist, zu neuer Bedeutsamkeit. Dazu ein Kommentar von Johannes Schillo.

Im Overton-Magazin erschien jüngst der Beitrag „Von der Kriegsdienstverweigerung zur Kriegstreiberei“. Er fragte: „Wo sind sie hin, die Anhänger der Gewaltfreiheit im friedenspolitisch geläuterten Deutschland, all die Verweigerer, die es einmal gab?“ Ja, sag mir, wo die Typen sind, wo sind sie geblieben, könnte man mit Pete Seeger anstimmen. Die Antwort ist natürlich ganz einfach, sie sind an der Macht, saßen z.B. im Kabinett der Ampelregierung, wo es kaum jemanden gab, der gedient hat. Kanzler Scholz und Vizekanzler Habeck konnten es z.B. vor Jahrzehnten nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren, auf Menschen zu schießen, und erinnern sich heute – irgendwie distanziert, auch belustigt – an ihre pazifistisch infizierte Jugendphase.

Habeck steht zu seiner Biographie, wie er dem Spiegel Ende 2024 mitteilte: Er „absolvierte einst den Zivildienst – und erinnert diesen als gute Zeit. Zwar sei er mit seiner damaligen Entscheidung im Reinen. Aber: ‚Ob ich das heute so tun würde in einer anderen Situation, das weiß ich nicht, beziehungsweise ich vermute, ich würde es nicht tun‘.“ Genial verlogen das Bekenntnis zur eigenen Geradlinigkeit, aber auch sachgerecht das Kokettieren mit der Gewissensentscheidung, von der man nur mutmaßen kann, wie sie in der konkreten Situation ausfällt.

Das passt zum KDV-Recht. Hier ist ja eine innere Stimme verlangt, die man sich als Instanz im Menschen denken muss. „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“ So das Grundgesetz. Nicht die Vernunft, der Widerwille gegen das Töten wildfremder Leute oder gar die eigene Bequemlichkeit, die von Aufenthalten in Schützengräben lieber Abstand nimmt, dürfen hier geltend gemacht werden. Ein „ich will das nicht“ hat hier keine Berechtigung, auch dann nicht, wenn ein „weil…“ folgt und die Gründe ausführlich dargelegt werden, wie Ole Nymoen das für sein neues Buch bei Rowohlt angekündigt hat. Die Stimme des Gewissens ist gefragt und dieser innere Vorgang muss in der glaubwürdigen Inszenierung einer sittlichen Persönlichkeit dem Prüfungsausschuss präsentiert und von dort abgesegnet werden.

Pazifismus aus nationaler Verantwortung

Damit ist das ganze KDV-Wesen – wie immer demnächst das Bundesgesetz das „Nähere“ regeln wird, ob per vereinfachtem Antragsverfahren mit schriftlicher Begründung oder aufwändiger mit dreistufigem Prüfungsausschuss etc. – auf eine individualisierende, irrationale Schiene gesetzt, die jedenfalls einen oppositionellen Geist gegen staatliche Indienstnahme unterbinden will. Dass die Friedensbewegten und Verweigerer von gestern die Kriegstreiber von heute sind, kann man trotzdem als Widerspruch festhalten. „Nur ein Ampelminister hat Wehrdienst geleistet“, vermeldet bei Gelegenheit immer noch erstaunt die Presse, sogar „Finanzminister Christian Lindner (FDP) leistete Zivildienst.“

Wer sich darüber wundert, hat allerdings zwei Dinge übersehen. Erstens die Vorgeschichte des neuen deutschen Militarismus und zweitens den systematischen Grund, der politisch denkende Menschen zu diesem eigenartigen Übergang – von der Verweigerung militärischer Notwendigkeiten zum glatten Gegenteil – bewegt. Der Overton-Beitrag hat dies im Blick auf die grundsätzlichen Triebkräfte, nämlich den Nationalismus der damaligen Friedensbewegung und den staatstreu eingefärbten Pazifismus, zu erklären versucht. Dazu hier einige Nachträge.

Der erste Punkt dürfte den heutigen Resten der Friedensbewegung kein Geheimnis sein, haben sie doch in den 90er Jahren hautnah erlebt, wie sich realpolitisch bzw. verantwortungsvoll denkende Weggefährten in den Mainstream bzw. in neue Politkarrieren verabschiedeten. Es war ja gerade der grüne Anspruch auf „robuste“ Durchsetzung von Menschenrechten, der neue „Bellizismus“ von Gutmenschen, der nach der Wende im Osten die Weichen hin auf Kriegsbeteiligung stellte und der schließlich im Bündnis mit der Sozialdemokratie 1999 – in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, wie Kanzler Schröder später einräumte – Serbien zur Räson brachte. Eine Analyse in Sachen „konsequente Karriere von Kriegsgegnern zu gewissenhaften Militaristen“ kann man übrigens im Gegenstandpunkt nachlesen. Der Text, der bereits Anfang 1996 erschien, also lange bevor unter Rotgrün die Entscheidung in Sachen Kosovokrieg fiel, legt auch im Einzelnen den antikritischen Geist des staatlich konzessionierten Pazifismus dar.

Dessen zentraler Fehler besteht in der Bereitschaft, sich der Instanz, die mit Krieg und Frieden als Optionen ihrer Selbstbehauptung wie auswärtigen Durchsetzung kalkuliert, als dienstbereites Individuum zu unterstellen, das nur an einer Stelle, quasi aufgrund eines persönlichen Defekts, beim loyalen Mitmachen behindert ist. „Die Tatsache des Krieges entdeckt der Pazifist, die Frage nach dem Grund des Krieges ist für ihn irrelevant. Er verurteilt den Krieg, nicht aber die Politik, die die Kriegsgründe schafft und für die Durchsetzung ihrer Vorhaben bisweilen zu dieser letzten Konsequenz schreitet. Dabei ließe sich dem politischen Getriebe in der Zeit zwischen den Kriegen durchaus einiges über deren Gründe entnehmen…“ (Held 1996, 154)

Wie gesagt, das ist eine Analyse, die sich auf die Entwicklung bis 1995 bezog, als die Großtaten des grünen Bellizismus noch gar nicht stattgefunden hatten. Außerdem wäre daran zu erinnern, dass die Marxistische Gruppe, der Vorläufer des Gegenstandpunkt, mit ihrer Kritik am Nationalismus der Friedensbewegung bei den einschlägigen Demos der 80er von Anfang an vertreten war, sogar selber eine Großdemo in Bonn veranstaltete; dass diese Kritik also in der Republik öffentlich präsent war (siehe auch Held/Ebel 2023), von den friedensbewegten Aktivisten jedoch entschieden zurückgewiesen wurde, da die Herstellung eines „breitesten Bündnisses“ Priorität habe. Die nationale Borniertheit der damaligen Friedensbewegung war aber auch Thema an anderer Stelle, etwa beim März-Verleger Jörg Schröder, der später mit der Rubrik „Schröder erzählt“ sein erzählerisches Talent unter Beweis stellte.

Schröder konnte wirklich viel erzählen, wenn der Tag lang wurde, und seine Oral History „COSMIC“, die er zusammen mit dem Journalisten Uwe Nettelbeck verfertigte, wartete mit der steilen These auf, er, Schröder, sei der Erfinder der westdeutschen Friedensbewegung gewesen. Denn er habe das Schreckensszenario „Atom-Rampe Deutschland“, so der reißerische Stern-Titel von 1981, in die Welt gesetzt und damit den Startschuss für die öffentliche Aufregung gegeben. Was er in der Tat belegen kann ist ein allgemeines Totschweigen der konkreten Atomkriegsgefahr, das Ende der 70er Jahre in der westdeutschen Öffentlichkeit vorherrschte. Qualitätsmedien wie Spiegel, FR, FAZ wollten von Atomwaffen, die bereits auf deutschem Boden lagerten und das atomare Risiko für Deutschland auch ohne die neuen Pershings und Cruise Missiles der Nachrüstung erhöhten, nichts wissen (vgl. Schröder/Nettelbeck 1982, 145f).

Der März-Verlag teilt resümierend über den „Politskandal“ von 1980 mit: „Schröder entdeckt die Depots von Mininukes entlang der Zonengrenze, welche in sogenannten ‚Wasserwerken‘ lagern, erzählt davon in ‚Transatlantik‘ und der ‚taz‘. Verfassungsschutz und CIA reagieren panisch, der ‚Stern‘ steigt ein mit ‚Atomrampe Deutschland‘, Beginn der neuen Friedensbewegung.“ Der nationalistische Geist der Bewegung wird bei Schröder deutlich, wenn auch eher in gehässigen Bemerkungen über einzelne Aktivisten und über den provinziellen Geist dieses Heimatschutzes, Entwicklungen zum Ökofaschismus inbegriffen: „es muß dieser ganze Müslimuff und Moralmuff und Bewegungsmuff sich nicht unbedingt wie schon einmal gehabt transformieren, aber weiß der Teufel, aus welchem Ei es kriechen wird“ (Schröder/Nettelbeck 1982, 257).

Wir verweigern uns!

Man wird in der BRD jetzt natürlich abwarten müssen, wie die Neufassung oder Wiederinkraftsetzung der Wehrpflicht im Einzelnen aussieht und welche Neuerungen (Einbeziehung des weiblichen Nachwuchses, Einführung eines allgemeinen Dienstjahres…) sich eventuell ergeben. Die Abschaffung des KDV-Rechts ist dabei kaum zu erwarten. Wenn es bei der bisherigen gesetzlichen Regelung bleibt, unterstützt es ja auch die Herstellung einer individualistischen Haltung, die nicht zu Opposition anregt. Und das mehrstufige Prüfverfahren ist so angelegt, dass auf dem Verwaltungswege die Anerkennungskriterien ohne großen Aufwand verschärft werden können. Die Ausschussmitglieder prüfen ja eine innere Einstellung und haben daher ziemliche Freiheiten, um sich vom persönlichen Auftreten des Prüflings und seiner moralischen Inszenierung beeindruckt zu zeigen oder auch nicht.

Der Bundeskongress der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG/VK) fand Ende 2024 unter dem Motto „Kriegsdienstverweigerung ist Menschenrecht! Weltweit!“ in Halle statt. Man kam zusammen, um über die gegenwärtigen Kriege und eine mögliche Reaktivierung der Wehrpflicht zu diskutieren. „Mit der Debatte über die von Pistorius im Juni vorgestellten Pläne für einen sogenannten Neuen Wehrdienst rückt auch hierzulande das Thema Verweigerung wieder auf die Tagesordnung“, resümiert das Neue Deutschland die Einschätzung der Kongressteilnehmer. Der DFG-Geschäftsführer erklärte dazu: „Wir bieten schon wieder Beratung an und wir bekommen auch Anfragen“. „Wehrpflicht ohne mich“ lautet denn auch das Motto einer Kampagne, die die Friedensorganisation „in der nächsten Zeit“ durchführen will.

Natürlich kann man Kriegsdienstverweigerung als Möglichkeit zum antimilitaristischen Einspruch nehmen, d.h. das KDV-Recht tendenziell missbrauchen. Es gab ja sogar eine Zeit, als Kriegsdienstverweigerung, die von Anfang an mit gewissen bürokratischen Hürden versehen war, eine Verbindung mit einer Protestbewegung einging. In den zehn Jahren nach der Wiederbewaffnung führte sie zunächst ein Schattendasein und stieg erst danach, im Zuge der Unruhen von APO und antiautoritärer Revolte, zu einer Massenbewegung auf. Sich „dem System“ zu verweigern, wurde zum Programm einer lautstarken und tonangebenden Minderheit, die nach dem Urteil der Jugendforschung damals das Profil der „protestierenden Generation“ bestimmte.

Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt haben zuletzt in ihrem Videopodcast „Wir diskutieren über Herbert Marcuse!“ (2024) an diese Zeit erinnert. Sie beschäftigen sich mit Marcuses „Versuch über die Befreiung“ (1969), in dem sich der Kritische Theoretiker aus dem Kreis um Adorno und Horkheimer mit dem herrschenden „korporativen Kapitalismus“ auseinandersetzte und mit dem damaligen Protestpotenzial – mit Studentenbewegung, Bürgerrechtsprotesten, antiautoritärer Rebellion in den Metropolen, mit Revolten oder Aufständen im globalen Süden. All das müsste man miteinander verbinden, Chancen dazu gebe es. „Die Große Weigerung nimmt verschiedene Formen an“, hieß es eingangs in Marcuses Statement (Marcuse 1969, 9). Der Widerstand beschränke sich nicht auf die Front gegen die Kapital-Interessen, sondern ziele auch darauf, „Frieden zu verwirklichen“, denn die „jungen Rebellen wissen oder fühlen, daß es dabei um ihr Leben geht, um das von Menschen, das zum Spielball in den Händen von Politikern, Managern und Generälen wurde.“ (Ebd., 12)

Das Duo Nymoen/Schmitt, das den Podcast Wohlstand für alle betreibt, diskutiert Marcuses Hauptthese, die „korporativ“ ins System integrierte Arbeiterbewegung müsse durch weitere Protestbewegungen wiederbelebt, verstärkt und erweitert werden – aber ohne dass der Gegensatz von Kapital und Arbeit aus dem Blickfeld gerate und ohne dass ein Abgleiten in reformistische, kultur- oder konsumkritische Verbesserungsprogramme stattfinde. Marcuses Vorschläge erweisen sich, so könnte man das Fazit der Diskussion ziehen, als wenig hilfreich; im Grunde werde ein Wunschtraum ausgebreitet, der gleichzeitig wieder mit „realistischen“ Argumenten ein Dementi erfahre.

Am Schluss bleibt vielleicht als wichtigster Punkt aus Marcuses Überlegungen die Warnung, nicht im Vertrauen aufs Völker- oder Menschenrecht der Staatsautorität entgegenzutreten – so als könnte man sie auf die Einhaltung höherer Normen verpflichten. Wenn die DFG Kriegsdienstverweigerung zum Menschenrecht – „Weltweit!“ – erklärt, dann ist das eben auch nur ein Wunschtraum. Die UN-Charta der Menschenrechte kennt kein spezifisches Recht auf Kriegsdienstverweigerung, das weiß auch die heutige Protestbewegung. Wenn es wirklich zu einer Großen Weigerung kommen soll, dann bedarf es des Oppositionsgeistes und nicht der Vertrauensbildung in die dem Volk gewährten Grundrechte.

Nachweise

  • Karl Held/Theo Ebel: Krieg und Frieden – Politische Ökonomie des Weltfriedens. (Edition Suhrkamp, Neue Folge, Nr. 149, 1983) 2. Auflage, Gegenstandpunkt, München 2023. Siehe die Rezension im socialnet.
  • Karl Held (Red.), Das Elend des Pazifismus – Die konsequente Karriere von Kriegsgegnern zu gewissenhaften Militaristen, in: Gegenstandpunkt, Nr. 1/2, 1996, S. 147-160, online: https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/elend-pazifismus
  • Herbert Marcuse, Versuch über die Befreiung. Edition Suhrkamp 329. Frankfurt/Main 1969.
  • Ole Nymoen, Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde – Gegen die Kriegstüchtigkeit. Rowohlt, Hamburg 2025 (erscheint Anfang März).
  • Ole Nymoen/Wolfgang M. Schmitt, Frankfurter Schule: Wir diskutieren über Herbert Marcuse! Wohlstand für alle, Episode 278, 4.12.2024 https://www.youtube.com/watch?v=MraFDEMrNHA&t=187s
  • Jörg Schröder/Uwe Nettelbeck, COSMIC. In: Die Republik, Nr. 55-60, 3. Juni 1982, S. 54-340.

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texts25.txt · Zuletzt geändert: von redcat

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