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Textbeiträge 2025

An dieser Stelle veröffentlichen wir Texte und Debattenbeiträge. Wer Anmerkungen dazu hat, wende sich an die IVA-Redaktion (siehe „Kontakt“).

Juni

Ob heißer oder kalter Krieg – Die SPD bleibt stets Friedenspartei

Im Juni sorgt ein „Manifest“ aus „SPD-Friedenskreisen“ für Aufsehen. Aus der oppositionellen Verdi-Initiative „Sagt NEIN!“ kommt Kritik an dem Papier. Dazu hier einige Hinweise.

Seit Anfang Juni kursiert in Teilen der SPD und in DGB-Gewerkschaften ein „Manifest“, verfasst von „SPD-Friedenskreisen“. Diese verstehen sich als Beratungsgremium, „das in regelmäßigen Abständen zusammenkommt, um über Fragen der SPD-Friedenspolitik zu beraten“. Am 10. Juni bringt dann der „Stern“ das Papier mit einer gewissen Alarmrhetorik in die Öffentlichkeit, was für die passende Aufregung sorgt. Angeblich stellen sich hier „etliche prominente Genossen… frontal gegen die Pläne von Regierung und SPD-Spitze.“ (Stern)

Die „Frankfurter Rundschau“ (12.6.25) bringt das groß als Aufmacher. „Kampfansage mit Abrüstungsaufruf“ heißt die Überschrift. Zitiert wird natürlich gleich Verteidigungsminister Pistorius, der feststellt: „Dieses Papier ist Realitätsverweigerung“. Das sieht der Leitartikel so ähnlich, wenn er die Forderung zitiert, „wieder ins Gespräch mit Russland zu kommen, auch über eine von allen getragene und von allen respektierte Friedens- und Sicherheitsordnung für Europa“. Dazu heißt es dann abschließend: „Dass der russische Präsident Putin bisher kein Interesse an einem solchen Waffenstillstand zeigt, wird nicht erwähnt.“ (FR) Der Kommentar der „Frankfurter Allgemeinen“ weiß es natürlich sofort: „Realitätsverweigerung“ (FAZ, 12.6.25) Die Autoren des Manifests seien als „Sicherheitsrisiko für Deutschland und Europa“ einzustufen, als „Tauben am Tor zur Hölle“, wie der Spruch von Kanzler Scholz, Pazifisten seinen „Engel aus der Hölle“, zeitgemäß abgewandelt wird.

Zeter und Mordio kommt von der Bildzeitung. Im Kommentar heißt es: „Als hätte es Putin mitgeschrieben“. Was die SPD-Friedenskreise „hier fabriziert haben, liest sich wie ein Strategiepapier aus dem Kreml selbst. Ziel: den Westen schwächen und Russlands aggressive und expansive Außenpolitik rechtfertigen.“ Auch der „Spiegel“ sieht hier einen Affront gegenüber der Regierungslinie und posaunt groß ins Land: „Prominente SPD-Politiker stellen sich gegen Außenpolitik der Bundesregierung“, während andere Medien als besonderes Novum vermelden, dass SPD-Politiker „Gespräche mit Russland“ fordern.

Wenn also der kleinere Koalitionspartner will – oder genau so der größere –, kann man damit einen – kleineren oder größeren – Koalitionsstreit inszenieren, der die Öffentlichkeit dann mit Fragen der nationalen Interessenabwägung beschäftigt. Momentan sieht es freilich nicht so aus, als wollte die SPD-Führung daraus einen Skandal machen. Geteilt wird das Aufwärmen alter friedenspolitischer Ideale natürlich nicht. Aber dass in der Partei diskutiert wird, sei nicht zu beanstanden, hört man z.B. von maßgeblichen Leuten. Und demnächst ist SPD-Parteitag, da passt es doch ganz gut, dass das Profil der SPD in der Öffentlichkeit zum Thema wird.

Einspruch von „Sagt nein!“

In der Gegenöffentlichkeit, die es in Deutschland ja auch noch gibt, stieß das Manifest an vielen Stellen (NachDenkSeiten, Telepolis…) auf wohlwollende Aufnahme. Besonders gelungen der Kommentar bei Overton: „Kann die SPD ihren selbstzerstörerischen Niedergang noch aufhalten?“ So hieß dort die Überschrift und ließ die primäre Sorge der Manifest-Autoren erkennen: Es geht vor allem um das Erscheinungsbild der Partei, die sich im Niedergang sieht, um Probleme von Mitglieder- und Profilschwund.

Auf Mobilisierung von Protest ist das Manifest nicht berechnet, „sondern von Wählerstimmen“, hieß es dazu in kritischen Randglossen, die das Gewerkschaftsforum veröffentlicht hat. Es handle sich um denselben „Fall wie bei der grünen Jugend, wozu Ole Nymoen jüngst bei Jacobin seinen Kommentar ‚Nein, die Grünen haben nicht plötzlich ihr Gewissen wiederentdeckt‘ veröffentlichte. SPD-Miglieder entdecken Notwendigkeiten des Stimmenfangs. Ist man abgewählt oder – wie die SPD – eine Partei im Niedergang, muss man sich eben wieder um neue Wählerschichten oder verloren gegangene Stammwähler kümmern, mal alte Ideale aufwärmen, sich bei mal ‚progressiven‘ Jungwählern interessant machen, überhaupt eigene Duftmarken setzen. Für dieses trostlose Geschäft kann man dann auch abgehalfterte oder abgemeldete Parteipolitiker brauchen. Und davon soll man sich angesprochen fühlen? Das sollen oppositionelle Stimmen in Gewerkschaftskreisen unterstützen?“

So das Resümee der besagten Randglossen, die aus der antimilitaristischen gewerkschaftlichen Basisinitiative „Sagt NEIN!“ bei Verdi stammen an. Siehe dazu den Aufruf dieser oppositionellen Initiative, den bereits 25.000 Menschen unterzeichnet haben. IVA hat mehrfach auf die Initiative hingewiesen, zuletzt etwa unter „Antikriegsprotest von Gewerkschaften und Linken“. Die Randglossen gehen die Argumentation des Manifests im Einzelnen durch und weisen nach, dass es sich hier keinesfalls um eine Opposition gegen den gegenwärtigen deutscheuropäischen Kurs der Kriegsvorbereitung handelt, sondern um einen Versuch – das Bekenntnis zu Verteidigungsfähigkeit und Rüstungskontrolle steht ja an erster Stelle –, die gegenwärtige Regierungslinie mit einigen handelsüblichen Friedensidealen (bzw. Reminiszenzen an die gute alte Zeit) anzureichern.

P.S. Schon traurig, dass in der hiesigen Gegenöffentlichkeit eine solche Pseudoopposition Anklang findet. Doch kommen auch hier noch kritische Stimmen zu Wort. Overton z.B. nimmt einen Tag später in einem Kommentar die Ansage von „Vorkriegszeiten“ aufs Korn. „Die Regierung will in den nächsten vier Jahren Kriegstüchtigkeit erreichen“, heißt es da. Aufgeblättert wird das gigantische deutscheuropäische Aufrüstungsvorhaben und somit gerät die offizielle Regierungslinie ins Visier, mit der die SPD ungerührt von Stimmungen in der Bevölkerung oder an der Parteibasis die Konfrontation mit Russland vorantreibt. Und da wird ein Klartext geredet, den man in dem SPD-Manifest vermisst. Was Gegenbewegungen in Gewerkschaften betrifft, sieht es auch nicht ganz trostlos aus – zumindest wenn man sich kritische Stimmen aus anderen europäischen Ländern anhört. Aus Arbeiterorganisationen und Linksparteien, inklusive Sozialisten aus Frankreich oder England, kommt jetzt z.B. das Statement „Europäische Gewerkschafter und Politiker sprechen sich gegen Krieg, Aufrüstung und Kahlschlag aus.“ So lautet ein aktueller Aufruf, der sich „explizit an die Arbeiterklasse“ wendet und der kein Blatt vor den Mund nimmt.


Volk ans Gewehr!

Im Juni-Heft von Konkret erschien ein Beitrag von Johannes Schillo über die gegenwärtige Wehrdienst-Debatte. Dazu hier einige Nachträge.

Die Wehrpflicht kommt wieder, so der Einstieg eines aktuellen Kommentars zur Wehrdienst-Debatte, der in der Monatszeitschrift Konkret erschienen ist. Das Juni-Heft (Nr. 6/25) geht auch auf sonstige Maßnahmen zur „Militarisierung der Herzen“ und auf den Aufbruch der „Verantwortungs“-Koalition (z.B. deren „Nähe zur AfD“) ein.

Seit der „Zeitenwende“ wird ja die Notwendigkeit eines Wehrdienstes, der junge Menschen an die Bundeswehr heranführt, allenthalben betont, wobei eigentlich nur noch der Zeitpunkt der (Wieder-)Einführung offen ist. Zustimmung gibt es von rechts bis links. Sie reicht von der AfD ( Weidel: „Anstatt Waffen an die Ukraine zu liefern … eine zweijährige Wehrpflicht“) und der neuen Koalition, wie von Merz in seiner Regierungserklärung noch einmal bekräftigt, über die „Freiheitsdienst“-Idee der Grünen bis hin zu Bodo Ramelow, der schon im März 2022 für eine allgemeine Wehrpflicht votierte, während sich der Generalinspekteur der Bundeswehr dagegen aussprach. FDP-Lindner hatte seinerzeit auch widersprochen, doch mittlerweile können Liberale dem Pflicht-Gedanken ebenfalls einiges abgewinnen.

Seit dem Beginn des Ukrainekriegs sind dabei unterschiedliche Modelle, in Regierungskreisen mit Vorliebe nach Art des schwedischen Auswahlverfahrens, in der Diskussion. Im CDU/CSU-Wahlprogramm wurde eine „aufwachsende Wehrpflicht“ gefordert, während das Verteidigungsministerium, auch wenn seinem Kanzler das Vertrauen fehlte, schon mal am Aufwuchs zu arbeiten begann. Pistorius jedenfalls wies noch Ende 2024 seine Behörde an, „die Parameter zur Einführung eines neuen Wehrdienstes weiter auszuplanen und gemeinsam mit der Umsetzung zu beginnen“.

Am besten: Nur willige Helfer

Der Koalitionsvertrag hat jetzt – „zunächst“, wie es der Kompromiss der Koalitionäre formuliert – Klarheit geschaffen, auch wenn gleich aus CDU oder CSU Einspruch gegen die SPD-Auslegung des Vertragstextes kam. Dort heißt die einschlägige Passage: „Wir schaffen einen neuen attraktiven Wehrdienst, der zunächst auf Freiwilligkeit basiert.“ Die Freiwilligkeit gilt demnach nur vorläufig. Geschuldet ist das der Tatsache, dass, wie die Militärs vermelden, die notwendigen bürokratischen Strukturen, die Kasernen und Ausbilder fehlen – von Fragen der Arbeitsmarktsituation oder der Geschlechtergerechtigkeit ganz abgesehen.

Vielleicht geht aber alles auch viel schneller. Unionsfraktionsvize Röttgen z.B. will die Regierungspläne für die Rekrutierungsoffensive nachschärfen, wie er nach der Regierungserklärung in der Welt unter dem Aufmacher „Es ist eine Revolution nötig“ mitteilte: „Sollte Freiwilligkeit nicht ausreichen, müsse schon jetzt eine Wehrpflicht im Gesetz verankert werden. ‚Die Instrumente, auf die wir zurückgreifen, wenn der Versuch der Freiwilligkeit nicht zum Erfolg führen sollte, müssen jetzt schon geschaffen werden‘… Es müsse ‚im neuen Wehrdienstgesetz bereits ausformuliert werden, dass, sollte der Weg der Freiwilligkeit keinen Erfolg bringen, andernfalls eine Pflicht greift. Denn wir haben jetzt nicht die Zeit, es zwei Jahre zu versuchen und erst danach die Alternative vorzubereiten‘.“ (Junge Welt, 26.5.25)

Klar ist somit, dass die Wehrpflicht kommt, erneuert, erweitert, verbessert, wie auch immer. Der Koalitionsvertrag formuliert: „Wir werden noch in diesem Jahr die Voraussetzungen für eine Wehrerfassung und Wehrüberwachung schaffen.“ Zur Zeit ist erst einmal der Versand eines Fragebogens an die junge Generation vorgesehen: Beantwortung für Männer obligatorisch, für Frauen freiwillig! Gefragt wird, wie es mit Einstellung und Fähigkeiten in puncto Wehrwillen aussieht. Auf dieser Basis will die Bundeswehr dann entscheiden, wen sie nimmt – natürlich nur die Besten der Besten und die Willigen.

Eine Militarisierung der Zivilgesellschaft ist das so oder so, wie immer die Regelungen im Einzelnen aussehen. Ein umfassendes Bild der betreffenden Generation und ihrer Stellung zum neuen Leitbild Kriegstüchtigkeit wird verfügbar. Vielleicht braucht dann gar keine eigene Wehrerfassungs-Bürokratie mehr installiert zu werden; wie bei der Grundsteuerreform müssen die Betroffenen selber dafür sorgen, dass dem Staat alle Daten vorliegen. Entscheidend aber ist: So sind alle Jugendlichen – auch diejenigen, die von der Bundeswehrwerbung innerhalb und außerhalb der Schule noch nicht erreicht wurden – auf Stand gebracht, wissen also, dass militärische Resilienz, auch wenn sie noch individuelle Wahlmöglichkeiten zulässt, unabdingbar ist.

Und trostloser Weise reicht der Konsens, dass man fürs Vaterland einzustehen hat, bis in die Friedensbewegung. Deren Zeitschrift FriedensForum, die ihr KDV-Schwerpunktheft Nr. 2/25 mit dem kontrafaktischen Slogan „Kriegsdienstverweigerung ist Menschenrecht – immer und überall“ aufmachte, stellte als „das beste Buch zur Wehrpflicht“ die Erinnerungen eines Totalverweigerers vor (FF 2/25, S. 32). Der blickt auf seine Jugendideale zurück, mit denen er sich damals gegen die „vom Staat geforderte Pflicht“ wandte, „am Irrsinn der wechselseitigen Vernichtungsdrohung mitzuwirken“. Heute ist der Mann geläutert: Pazifismus sei passé, da die Welt „kriegerischer“ geworden sei und man sich nicht dem Imperialismus Putins unterwerfen dürfe; deshalb sei die „militärische Verteidigungsfähigkeit der BRD“ unverzichtbar samt Maßnahmen zu einem nationalen Schulterschluss. Nur eine Einschränkung macht der Ex-Pazifist: „Eine Wehrpflicht darf nicht zu diesen Maßnahmen zählen.“

Im Allgemeinen ist somit Konsens: Wenn das Vaterland ruft, muss man antworten. Und zur Propagierung des neuen militaristischen Leitbildes tut die Bundeswehr auch einiges. So wird am 15. Juni zum ersten Mal in der BRD der neu geschaffene nationale „Veteranentag“ begangen. Ab jetzt sollen, wie die Zuständigen mitteilen, jedes Jahr „die Veteraninnen und Veteranen der Bundeswehr geehrt und ihnen somit mehr Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit verschafft werden“. Ende des Monats folgt dann der Aktionstag der Bundeswehr 2025. Dazu vermeldet das Ministerium: „Die Bundeswehr steht ganz im Dienst der Bürgerinnen und Bürger Deutschlands. Als Armee der Demokratie ist sie in der Gesellschaft verwurzelt. Doch viele Menschen kommen nur selten mit dem Militär in Kontakt. Einmal im Jahr lässt sich das ändern: Am Tag der Bundeswehr öffnen die Streitkräfte ihre Tore für alle Interessierten.“

Der Werbung für die Bundeswehr ist also bei Jugendlichen Tür und Tor geöffnet, ob mit oder ohne Jugendoffizier. Der Dienst an der Waffe ist geboten und außerdem eine geile Sache. Denn bei uns – wir leben ja in einer freiheitlichen Marktwirtschaft – hat man die freie Auswahl, jedenfalls zur Zeit noch und in einem gewissen Rahmen. Da darf sogar ein Ole Nymoen mit seinem Buch „Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde“ in TV-Talkshows auftreten, um den Schein einer Wahlmöglichkeit in Sachen Vaterlandsliebe bzw. mögliche Verirrungen im Jungvolk zu illustrieren. Als junger Mensch soll man eben „sein Ding“ finden und den Bund auch mal als einen attraktiven Arbeitgeber betrachten, bei dem man als Halbwüchsiger mit einem Sold von 2.700 Euro einsteigt. So liebevoll nachgezeichnet im Bildzeitungs-Porträt eines „Vorzeigejungen“ (der bei Overton gewürdigt wurde): „Ich bin 16 und will zum Bund. Meine Eltern sind entsetzt“ (BamS, 6.4.25). Das passt zum Koalitionsvertrag, in dem es heißt: „Für die neue Ausgestaltung dieses Dienstes sind die Kriterien Attraktivität, Sinnhaftigkeit und Beitrag zur Aufwuchsfähigkeit leitend. Wertschätzung durch anspruchsvollen Dienst, verbunden mit Qualifikationsmöglichkeiten, werden die Bereitschaft zum Wehrdienst dauerhaft steigern.“

Gleichgültig übrigens dagegen, dass Jugendliche, wenn man sich ans Völkerrecht hielte, hier nichts verloren haben. Laut UN-Kinderrechtskonvention müssen Kinder – zu denen alle Minderjährigen unter 18 zählen – eigentlich vorm Militärdienst geschützt werden. Eine Konvention aus dem Jahr 1959, die die BRD 1992 nur mit Einschränkungen ratifizierte (was etwa die geringeren Rechte minderjähriger Flüchtlinge betraf) und bei der sie in puncto Wehrdienst jetzt wieder Ausnahmeregelungen in Anspruch nimmt. „Was viele nicht wissen“, meldete jüngst der Sender RBB: „Bereits mit 17 darf man Zeitsoldat werden – vorausgesetzt, die Eltern stimmen zu. Laut eigenen Angaben stellte die Bundeswehr im vergangenen Jahr 2.203 Soldatinnen und Soldaten im Alter von 17 Jahren ein. Sie machten damit rund zehn Prozent der Neueinstellungen aus.“

Für solche Ausnahmen, die mit dem besonderen Charakter dieses Minderjährigen-Dienstes begründet werden, rügte der zuständige UN-Ausschuss die Bundesregierung mehrfach Junge Welt, 29.1.25). Hierzulande stört das aber kaum jemand, auch nicht die RBB-Redakteure. Denn Aufregung über Kindersoldaten findet ihr Material doch nicht bei uns! Sondern in Afrika oder sonstwo im Busch. Da wird dann schon mal ein kongolesischer Milizenchef vom Internationalen Strafgerichtshof wegen der „Rekrutierung von Kindersoldaten“ verurteilt – „ein Meilenstein in der internationalen Rechtsprechung“, wie Amnesty International den Schuldspruch aus dem Jahr 2012 lobte…

Vaterland verpflichtet

Die Pflicht steht sowieso felsenfest und im Kriegsfall der Zwang, der nicht darauf wartet, bis sich die Nationalhelden melden. Die ganze Zivilgesellschaft wird auf diesen Fall hin jetzt durchgemustert. Greift in ihr an allen denkbaren Stellen – vom (Daten-)Verkehr über Wirtschaft, Bildung, Gesundheitswesen, Medien bis hin zur Seelsorge – die militärische Logik, ist also, wie es heißt, Resilienz gegeben? Dazu gibt es seit 2025 den neuen „Operationsplan Deutschland“ (OPLAN DEU). Dessen Ziel ist ein Gesamtverteidigungskonzept für die „Drehscheibe Deutschland“, bei dem es um den „Heimatschutz“ als Bestandteil neuer Rahmenrichtlinien für die Gesamtverteidigung geht. Der Plan versteht sich als Instrument der Herbeiführung einer gesamtgesellschaftlichen Kultur, in der Krieg akzeptiert und als Teil des gesellschaftlichen Lebens aktiv (mit-)gestaltet wird. Es gehe darum, zu begreifen, „dass militärische Gewalt überhaupt zum Wohle der Welt und zur Förderung legitimer nationaler Interessen Deutschlands eingesetzt werden sollte“, so Militärexperte Franz-Stefan Gady (zum einschlägigen Expertentum siehe auch die Übersicht im FriedensForum, Nr. 3/25).

Insofern läuft alles nach einer Übergangsphase auf die Allgemeine Wehrpflicht hinaus, wie das FriedensForum konstatiert: „Die Ausdehnung der Wehrpflicht auf Frauen ist ebenfalls zu befürchten. Auch das KDV-Anerkennunsverfahren könnte dann wieder für alle Verweigerer gelten“ – mit all den „Hürden und Beschränkungen“, die der Gesetzgeber im Adenauer-Staat vorausschauend eingebaut hat und die schon mal Ablehnungsquoten von 40 % ermöglichten. Hinzu kommen heute weitere Klarstellungen im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg: Schon im Vorkriegsfall – wenn geschossen wird, erst recht – ist alles unter einen militärischen Vorbehalt gestellt. Was das für praktische Konsequenzen hat, machen etwa die Asyl-Anträge russischer Kriegsdienstverweigerer beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) deutlich, die reihenweise abgelehnt werden. Ähnliche Signale gab es Anfang 2025 im Kontext eines Beschlusses zur Abschiebung eines ukrainischen Kriegsdienstverweigerers (siehe Nachdenkseiten vom 26.2.25). Der Bundesgerichtshof hielt dessen Abschiebung in ein Kriegsgebiet für rechtens – ein Beschluss mit „politischer Handschrift“, wie Kritiker monierten. Der BGH hält es „auch nach deutschem Verfassungsrecht nicht von vornherein (für) undenkbar, dass Wehrpflichtige in außerordentlicher Lage zusätzlichen Einschränkungen unterliegen und in letzter Konsequenz sogar gehindert sein könnten, den Kriegsdienst an der Waffe aus Gewissensgründen zu verweigern.“

Im Not-, also Kriegsfall, wird alles zur Front und wann dieser Fall eintritt, entscheidet die Obrigkeit. Die wird auch dafür sorgen, dass juristische Querelen, wie sie sich am BGH-Entscheid festmachen, die Kriegführung nicht stören. Die von der Friedensbewegung geäußerte Hoffnung, mit der Wiedereinführung der Wehrpflicht gäbe es auch wieder die Chance, „erneut für das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung ohne jegliche Einschränkung zu streiten“, täuscht sich also über die Möglichkeiten erlaubter Kriegsgegnerschaft. Erlaubt ist die nämlich gerade nicht, sondern nur die persönliche Ausnahme von einer anerkannten und anzuerkennenden Notwendigkeit. Zugelassen ist allein die gewissensmäßige Haltung zum staatlichen Zwang, wie sie in klassischer Form der genannte Totalverweigerer vorführt: Mitmachen beim Einsatz für Deutschland ist selbstverständlich, jetzt auch beim „Irrsinn“ der Vernichtung, aber wo der Einzelne seinen Platz findet und ob er eine Waffe oder Verbandszeug in der Hand hält, da darf er mitreden!

Verweigerung erlaubt, aber…

Verweigerung bleibt eine Möglichkeit, Sand ins Getriebe zu werfen. Das kann man zugestehen, jedenfalls gilt das für Friedenszeiten und für die Länder, in denen das Recht existiert. Im Kriegsfall sieht es anders aus. Die Menschenrechtsbeauftragte der Vereinten Nationen (OHCHR) hat z.B. Ende 2024 auf den Tatbestand verwiesen, „dass die Möglichkeit, den Kriegsdienst zu verweigern, in der Ukraine nicht besteht“. Theoretisch gibt es sie laut Verfassung (ähnlich wie in Russland, wo ein KDV-Antrag bis zur Einberufung gestellt werden kann), aber faktisch werde sie vom Kiewer Regime weitgehend außer Kraft gesetzt, sei nur als Ausnahmefall bei einem speziellen religiösen Bekenntnis möglich. Doch welche nennenswerte Religionsgemeinschaft verbietet ihren Mitgliedern schon den Dienst an der Waffe? Für Gewissensprobleme ist doch im Kriegsfall die Militärseelsorge zuständig. Und die christlichen Kirchen haben in zwei Weltkriegen eine veritable Kriegstheologie entwickelt, die dem Militärdienst treu zur Seite steht.

IVA hatte schon Anfang des Jahres darauf hingewiesen, was die Erlaubnis, den Dienst an der Waffe „aus Gewissensgründen“ zu verweigern, faktisch bedeutet. Verlangt ist eben ein Treuebekenntnis zum Dienst am Vaterland, das mit einer persönlichen Ausnahme, aber nicht mit einer Absage an eine kriegsträchtige Politik verbunden werden darf. Die Notwendigkeiten der Vaterlandsverteidigung dürfen dadurch nicht beeinträchtigt werden, wie noch einmal der oben genannte BGH-Beschluss klargestellt hat. Martin Singe von der Friedenskooperative hat die damit verbundenen juristischen Fragen jüngst aufgegriffen und gegen diese Auslegung, die sich auch auf einen Entscheid des Bundesverfassungsgerichts beruft, Stellung bezogen.

Der Autor aus der Friedensbewegung muss allerdings konzedieren, „dass die eine Einberufung aufschiebende Wirkung von KDV-Antragstellungen nach herrschender Gesetzeslage im Kriegsfall nicht mehr gilt“. Es treffe auch zu, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem einschlägigen Entscheid offen gelassen hat, ob nicht im Kriegsfall andere Regeln für das KDV-Anerkennungsverfahren zu erlassen wären. Aber die Konsequenz, die der BGH daraus zieht, sei nicht haltbar, so die Kritik. Hier werde ein Verfassungsbruch ins Auge gefasst. Moniert wird die Feststellung des BGH: „Angesichts dessen erachtet es der Senat für – jedenfalls prinzipiell – nicht undenkbar, dass ungeachtet des besonders hohen Rangs der in Art. 4 GG verbürgten Gewissensfreiheit auch die deutsche verfassungsrechtliche Ordnung es gestatten oder sogar erfordern könnte, den Schutz des Kriegsdienstverweigerungsrechts in außerordentlicher Lage gegenüber anderen hochrangigen Verfassungswerten zurücktreten zu lassen.“

Die Kritik an dieser Position beruft sich auf abweichende staatsrechtliche Meinungen, wie sie etwa die Verfassungsrechtlerin Kathrin Groh – ihres Zeichens Professorin an der Bundeswehrhochschule München – in einem Kommentar zu dem BGH-Beschluss dargelegt hat. Eine direkte Außerkraftsetzung des KDV-Rechts im Notstandsfall hält die Expertin für nicht vertretbar. Aber – dann kommt die große Einschränkung: Verfassungsrechtlich sei schon klar, dass der Schutz des Vaterlandes ein höchstrangiger Wert ist. Insofern liege der BGH nicht ganz falsch. Groh: „Es ist richtig, dass die Bürger eines Staates dessen geborene Verteidiger sind. Die Annahme dahinter ist, dass das Volk in Waffen für seinen Staat zuverlässig kämpfen wird, da es mit ihm zugleich auch den Schutz seiner eigenen Freiheiten und Werte gegen äußere Angreifer verteidigt.“ Das betreffende Rechtsbewusstsein gehe dann bei der konkreten Auslegung solcher Grundsätze mit der Zeit und müsste heute – eigentlich – mehr Respekt vor dem Grundrechte-Katalog im Grundgesetz zeigen, meint Groh.

Entscheidend ist aber, wie die Bundeswehrprofessorin mitteilt, dass das Prüfungsverfahren für die Verweigerer im KDV-Gesetz als Verwaltungsverfahren „ausgestaltet ist“. Es soll nicht nur sicherstellen, dass allein „diejenigen als Kriegsdienstverweigerer anerkannt werden, bei denen mit hinreichender Sicherheit die Ernsthaftigkeit ihrer Gewissensentscheidung festgestellt werden kann“, sondern bietet zugleich die verfassungskonforme „Stellschraube“, mit „der Einschränkungen des Grundrechts“ zu bewirken sind. Der „Strengegrad der Gewissenserforschung“ ist eben Sache der Behörden, die hier recht frei mit Ablehnung der Anträge bzw. Abschreckung der Kandidaten operieren können. „Um die kollidierenden Verfassungsgüter der effektiven Landesverteidigung und der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr zu schützen, durften früher inquisitorische Befragungen der Verweigerer durchgeführt werden.“ (Groh)

Und wenn die Militarisierung der Gesellschaft fortschreitet, ist es eine einfache Übung, auf dem Verwaltungswege an der Stellschraube zu drehen und Personal für die Prüfungsausschüsse zu finden bzw. einzuweisen, das im Verweigerer sofort den „Lumpenpazifisten“ (Spiegel) oder den „Engel aus der Hölle“ (Scholz) erkennt. Dass dieser Zeitgeist Platz greift, dass moderne Experten eine regelrechte Militärethik etablieren, die die „Dämonisierung des Krieges“ überwindet und damit pazifistische Gewissensregungen per se dubios erscheinen lässt, hat Norbert Wohlfahrt jüngst in seinem Beitrag „Geistige Verrohung ‒ ein Streifzug durch die aktuelle Kriegsliteratur“ (Z – Zeitschrift für marxistische Erneuerung, Nr. 142, 2025) dargelegt. Und dieser Zeitgeist dürfte sich dann auch in neuen Entscheidungen der Justiz, beim BGH oder Verfassungsgericht niederschlagen.


Mai

Ein Nachtrag zum Gedenktag 8. Mai

„Der 8. Mai in Deutschland“ lautet ein aktueller Kommentar von Renate Dillmann zur deutschen Erinnerungskultur. Dazu hier ein Nachtrag.

Unter dem Motto „Geschichtsvergessen? Von wegen!“ kritisiert Renate Dillmann im Overton-Magazin die diesjährigen Verrenkungen der deutschen Politik, das Ende des Zweiten Weltkriegs mit einem würdevollen Gedenken zu besülzen und das gleichzeitig ins erneuerte antirussische Feindbild einzubauen. In dem Kommentar gibt es auch zahlreiche Links zu früheren Beiträgen im Overton-Magazin, die sich mit dem Thema befassten. Von dort kann man dann weiter surfen, z.B. auf Beiträge, die bei Telepolis, dem Vorläufer von Overton, erschienen waren.

Das heißt, man kann das, sofern die Beiträge noch greifbar sind. Denn der neue Tp-Redakteur Neuber hat, wie er erklärte, Zehntausende ältere Texte mit einer Sperre aus dem Verkehr gezogen, um sie anhand der neuen redaktionellen Qualitätsmaßstäbe zu überprüfen. Ein Vorgang, der einige Mutmaßungen im Hinblick auf die Zensur in den sozialen Medien auslöste. Sogar die FAZ (27.3.25) zeigte sich von dieser „Qualitätsoffensive“ irritiert und hielt fest: „Welche Texte wieder veröffentlicht werden, bleibt unklar.“ Ein Kommentar aus der IVA-Redaktion zu diesem ungewöhnlichen redaktionellen Vorgang erschien unter dem Titel „Zensur auf dem Vormarsch. Auch bei Telepolis?“ im Overton-Magazin.

Wenn man von Dillmanns aktueller Wortmeldung ausgehend weitersurft, stößt man in den älteren Texten auch auf einen Fall, wo ein Link zu Telepolis, so wie es zur Zeit aussieht, nicht weiter führt, der betreffende Text also nicht mehr greifbar ist. Es handelt sich um „Kulturkampf von rechts“? von Johannes Schillo, erschienen im Februar 2020. Unter dem Motto „Bedenkliches Gedenken im heutigen Deutschland, jetzt auch angesichts der deutschen Opfer – der Fall Dresden“ wurde dort die Entwicklung der legendären deutschen Erinnerungskultur kommentiert, die mittlerweile weiter fortgeschritten ist und heute nur so vor Selbstgerechtigkeit strotzt. IVA macht hier diesen Text aus dem Jahr 2020 wieder zugänglich.

Kulturkampf von rechts?

Die deutsche „Erinnerungskultur“ lobt sich über den grünen Klee. Beim Auschwitz-Gedenktag 2020 [1] wurde es regelrecht peinlich, als Bundespräsident Steinmeier im Deutschen Bundestag das „Wunder der Versöhnung“ beschwor und diese Selbstbeweihräucherung allseits – die AfD eingeschlossen – unwidersprochen durchging. Steinmeier hatte bereits bei seinem Auftritt in Israel auf dem World Holocaust Forum das Leitmotiv geliefert. Demnach war damals „das Böse“ für die Ermordung der europäischen Juden verantwortlich; es wurde zwar 1945, als das Gute siegte, weitgehend ausgerottet, aber irgendwo fanden die „bösen Geister der Vergangenheit“ Unterschlupf und machen sich heute wieder bemerkbar.

Apropos „Gepriesen sei der Herr“, wie Steinmeier seine Rede in Yad Vashem begann. Mal von Mensch zu Mensch gefragt: Wer würde damit an einem Ort antreten, wo der Ermordung von Millionen Menschen gedacht wird? Statt Trauer, Erschütterung, Zerknirschung an erster Stelle Lobpreisung! Und wenn man sich schon auf einen Urheber und Lenker aller menschlichen Geschicke beziehen (und dies bei einem Staatsakt zur Sprache bringen) will, wie wär‘s mit: Herr, wo warst du? Herr, wie konntest du das zulassen? Herr, warum schweigst du? Herr, was bist du für einer – derselbe vor, während und nach Auschwitz, per saecula saeculorum? Selbst Jesus soll am Kreuz gerufen haben: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Herrgott noch mal, tausend Fragen oder Stoßseufzer würden einem einfallen, aber doch nicht ein Preis des Herrn!

Israels Staatspräsident Rivlin stellte Deutschland bei der Feierstunde im Bundestag ein wohlwollendes Zeugnis aus, das schon arg nach Lobhudelei roch: „Leuchtturm“ freiheitlicher Werte in Europa und international, Merkel „die Führerin der freien Welt“, Verantwortung für alles Gute, namentlich beim Schutz freiheitlicher Werte, beim Klimaschutz oder bei der Sorge um Geflüchtete. Letzteres war natürlich eine Provokation in Richtung AfD-Bundestagsfraktion, die aber bei allem brav mitklatschte – und die sich am Schluss sogar, als Rivlin Differenzen zur deutschen Regierung in der Iranfrage ansprach, bestätigt sehen konnte. Dass mehr Schutz für Israel, also im Klartext mehr Hass und Gewalt gegen das iranische Regime nötig sei, hatte sie ja vorher schon verlautbart. So führte sich die AfD dann im Bundestag ganz manierlich auf, ließ alles über sich ergehen und saß die Feierstunde einfach ab. Wenn die Erinnerungskultur zu national aufbauenden Ergebnissen führt, kann anscheinend auch die AfD Positives an ihr entdecken? Dann muss vielleicht nicht die von Höcke angekündigte 180-Grad-Wende erfolgen, dann reichen ein paar neue Akzentsetzungen?

Gestörtes Gedenken

Für das rechte Lager, für die AfD, aber auch für die rechtsintellektuelle Szene, die sich parteiübergreifend bemerkbar macht, für militantere Gruppierungen wie die NPD oder die Identitären, bleibt aber die von Höcke und Co. als „Schuldkult“ angegriffene Vergangenheitsbewältigung weiterhin eine Herausforderung – der sie sich stellen und die sie nicht einfach wie bei den Gedenkveranstaltungen im Januar 2020 übergehen wollen. Deutlich wurde dies zuletzt noch einmal, als die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin [2] am 6. Februar 2020 Alarm schlug. Sie legte eine Handreichung „Zum Umgang mit dem Kulturkampf von rechts in Gedenkstätten und Museen“ vor, die sich den zahlreichen Angriffen auf die etablierte historisch-politische Bildung in Sachen NS widmet und Praxisanregungen für den Umgang mit rechtsextremen oder rechtspopulistischen Störversuchen bei Führungen gibt, Reaktionsweisen auf öffentliche Provokationen vorschlägt sowie auf parlamentarische Initiativen der AfD, die „disruptiv“ in bestehende Förderstrukturen eingreifen.

Der rechte Angriff – das ist wohl der wichtigste Punkt der neueren Entwicklung – erschöpft sich heute nicht mehr in schlichter Holocaustleugnung. Als vor mehr als 40 Jahren das Adolf-Grimme-Institut Pädagogen und Pädagoginnen, Vertreter des Bundesjugendrings, der Erwachsenenbildung etc. einlud, um über Interventionsmaßnahmen der Bildungsarbeit angesichts rechtsradikaler Umtriebe bei der Ausstrahlung der US-amerikanischen TV-Serie „Holocaust“ zu diskutieren, stand die Klarstellung der Faktenlage im Vordergrund: Gegen die pure Leugnung der Judenvernichtung, gegen die Behauptung von der (in Hollywood produzierten) Propagandalüge sollten Zeitzeugen, Filme, Fotos und andere Dokumente aufgeboten werden. Heute ist die Lage anders – und das nicht nur, weil Holocaustleugnung inzwischen unter Strafe steht. Heute stellen Schüler und andere Besucher „gezielt geschichtsrevisionistische Fragen“, wollen die Mitarbeiter der Gedenkstätten „provozieren und aufs Glatteis führen“, sind mehr an „Relativierungen“ interessiert, leugnen z.B. nicht die Zahl der Toten, sondern führen fallweise als „hauptsächlichen Grund dafür die Bombardierung der Verkehrswege durch die Alliierten an – das hätte zu einer Lebensmittelkrise geführt, sodass die SS die Häftlinge gar nicht habe retten können“. Das führte ein Verantwortlicher der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten als Beispiel für aktuelle Zwischenfälle an (vgl. Der Spiegel, Nr. 3, 2020).

Die MBR-Veröffentlichung bestätigt diese Einschätzung. Immer wieder würden in Gedenkstätten rechtsextreme oder -populistische Besucher „die nationalsozialistischen Verbrechen verharmlosen oder sogar leugnen oder die heutige BRD mit der DDR gleichsetzen“; sie würden zudem Gedenkveranstaltungen stören oder instrumentalisieren, wobei „zentraler Akteur in diesem ‚Kampf um die Geschichte‘ gegenwärtig vor allem die AfD“ sei. Das Fazit von MBR lautet: „Der Kulturkampf ist in vollem Gange, und mit ihm der massive Angriff auf die kritische Geschichtskultur“. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Gedenkstätten wollen natürlich nicht aufgeben, sie wollen ihre Anstrengungen verstärken; sie wollen „Haltung“ (auch so ein Modewort der neueren Debatte) zeigen. Der niedersächsische Experte konkretisierte das im „Spiegel“: Die historisch-politische Bildung müsste sich umstellen; das „würdigende Gedenken“ sei zwar die Hauptsache, doch müssten jetzt auch weitere Fragen – „Wie konnten diese Verbrechen eigentlich geschehen? Wie funktionierte die Gesellschaft im Nationalsozialismus?“ – hinzukommen.

Wie geht historische Bildung?

Diese Beschwerden und Aufforderungen haben allerdings etwas Merkwürdiges an sich. Erstens stellt sich gleich die Frage: Was soll denn eine Gedenkstätte Anderes vermitteln als die Aufklärung darüber, woher das politische Programm der nationalsozialistischen Judenvernichtung stammte und wie es gesellschaftlich umgesetzt wurde? Der ganze Sinn und Zweck einer vernünftigen Erinnerungskultur (im Unterschied zur Trauer der Angehörigen oder zum Totenkult religiöser Gemeinschaften) besteht doch darin, Aufschluss über die Schrecken der Vergangenheit zu gewinnen, damit die Triebkräfte von Krieg und Massenmord dingfest gemacht und von den heute Lebenden – falls solche Kräfte weiter eine Rolle spielen – aus der Welt geschafft werden können. Das ist anscheinend in der deutschen Erinnerungskultur nicht selbstverständlich. Das diesjährige Auschwitz-Gedenken hat ja, siehe oben, gezeigt, dass eher an Mystifikationen von der Macht des „Bösen“ gearbeitet wird – jedenfalls von den Auftraggebern, die die betreffenden Aktivitäten institutionalisieren und mit Leitlinien versehen.

Bei denjenigen, die historisch-politische Bildung betreiben, sind da schon seit längerem Zweifel laut geworden [3], ob z.B. die deutsche „Vergangenheitsbewältigung“, wie sie in der alten Bundesrepublik hieß, das dicke Lob, das ihr von oben gespendet wird, überhaupt verdient. Ist der Erinnerungsbetrieb wirklich – wie er von sich behauptet – frei von geschichtspolitischen Instrumentalisierungen ist? Zeigt nicht die Art und Weise, wie die Politiker sich seiner bedienen, dass es vor allem um den Nutzen für die Selbstdarstellung des heutigen Deutschland geht?

Zweitens – und damit kommt man zu einem brandaktuellen Thema des hiesigen Gedenkens, das am kommenden Wochenende Dresden anlässlich des 75. Jahrestags der Bombardierung durch die Alliierten beschäftigen wird – ist das pädagogische Problem, das aus der niedersächsischen Gedenkstätte mitgeteilt wurde, verräterisch: Wie geht man mit der Tatsache um, dass die Alliierten gezielt die deutsche Zivilbevölkerung (plus Infrastruktur) bombardierten? Also das Verbrechen begingen, das heute immer Völkermördern wie Assad als das prinzipiell Böse vorgehalten wird und das sie als „Schurkenstaaten“ aus der Gemeinde der Good Governance exkommuniziert: Zivilisten töten, mit Massenvernichtungsmitteln Wohnviertel und Infrastruktur zerstören und dies fortführen, bis alles in Schutt und Asche liegt.

Für einen historisch bewanderten Menschen müsste die erste Antwort auf die oben genannte Schüler-Provokation eine leichte Übung sein: Es gab damals das NS-Programm der Endlösung der Judenfrage und der Ausmerzung sonstigen unwerten Lebens, dafür und für die Beseitigung jedes Widerstandes wurden KZ‘s eingerichtet – und nicht um Menschen zu versorgen. Die Anti-Hitler-Koalition kämpfte dieses Regime – wegen seines großenteils schon realisierten imperialistischen Anspruchs – nieder, und da bis zuletzt kein nennenswerte Widerstand in Deutschland aufkam, setzte sie alle Kriegsmittel wie gehabt ein. Aber da beginnt das Problem.

Der Fall Dresden

Der „Spiegel“ (Nr. 7, 2020) benennt es im Vorfeld des Dresdener Gedenkens. Der Bundespräsident muss ja wieder auftreten, aber „in Berlin heißt es, er tue sich schwer, den richtigen Ton zu finden: deutsche Opfer, deutsche Schuld. Der Kampf um die Deutungshoheit über das Gedenken an Dresden – er geht in die nächste Runde“. Mit diesem Kampf ist der Streit mit den Rechten und mit deren Ansinnen gemeint, Dresden und die deutsche Bevölkerung als Opfer eines alliierten „Bombenholocausts“ in Szene zu setzen. Interessanter Weise informiert der „Spiegel“ aber als Erstes darüber – ist das die neue Ehrlichkeit nach Relotius? –, dass er selber maßgeblich daran beteiligt war, eine solche Inszenierung auf den Weg zu bringen; 1963 schrieb er unter Angabe falscher Zahlen (bis zu 200.000 Todesopfer sollten es gewesen sein) von einem „sinnlosen Terrorakt“; ein Jahr später sprach die „Zeit“ vom „wahrscheinlich größten Massenmord der gesamten Menschheitsgeschichte“. Neben solchen Anschuldigungen nehmen sich die heutigen Rechtspopulisten, die auf die Anerkennung deutscher Not pochen, eher wie brave Bürger aus!

Die Zahlen sind mittlerweile korrigiert. Auch wenn letzte Sicherheit wohl nicht herzustellen ist, soll nach der sechsjährigen Arbeit einer Historikerkommission, die von Dresdens Oberbürgermeister berufen wurde, die Opferzahl – wie auch in den ersten, internen NS-Meldungen weitergegeben – bei rund 25.000 liegen. Insofern wäre alles geklärt, für den „Spiegel“ aber nicht, denn „Trauer bemisst sich nicht an Zahlen, Trauer ist Trauer.“ Das Problem steckt nämlich gar nicht in den Zahlen, sondern in einer anderen Gefahr: „Mit Dresden konnte man den Eindruck erwecken, die Sieger des Krieges seien auch nicht besser als die Verlierer.“ In der Tat, man kann das nicht nur. Aus der Kenntnisnahme des militärischen Vorgehens der Alliierten ergibt sich vielmehr die banale Tatsache, dass sie genau dieselben Kriegsmittel einsetzten wie die Gegenseite.

Das „Moral Bombing“ der deutschen Städte durch RAF und USAAF war ein Mittel im totalen Krieg. In ihm werden Staaten als Feinde definiert und damit ihr gesamtes Potenzial, ihr Land und ihre Leute, zum Abschuss freigegeben. Dabei gibt es, seitdem der Krieg total geworden ist, noch das Kuriosum eines Kriegsvölkerrechts, das nur die auf militärische Notwendigkeiten, also den Erfolg, bezogenen Maßnahmen für zulässig erklärt, was hin und wieder (nachträglich) zu Kriegsverbrecherprozessen führt. Im Flächenbombardement der Alliierten wurde genau die übliche Kriegslogik exekutiert, als Notwendigkeit einer erfolgreiche Durchsetzung: Man greift das Volk als Basis der Herrschaft an, setzt auf maximale Zerstörung, die sich an keinem humanitären Gesichtspunkt relativiert.

Über diese Kriegskalkulationen können Geschichtslehrer und -lehrerinnen natürlich ohne Weiteres Auskunft geben. Was bei solchen Auskünften aber unterbleibt, ist die Moralisierung, wie sie jetzt wieder beim Auschwitz-Gedenken zur Hochform auflief. Mit dem Bild vom „absolut Bösen“ soll ja gleich das Gegenbild von der Güte der Demokratie erzeugt werden – also einer politischen Herrschaft, die nur so von Werten und Humanität strotzt. Wenn man historisch korrekt die Kriegskalkulationen der damaligen Mächte nachverfolgt, geht diese Mystifizierung als Kampf der Guten gegen die Bösen verloren. Dann stößt man auf die Machenschaften konkurrierender Großmächte, auf die Rivalitäten imperialistischer Weltordnungsansprüche, auf Störenfriede, die vom Standpunkt der etablierten Mächte als „revisionistisch“ (d.h. um Revisionen der bestehenden Staatenhierarchie bemüht) einzustufen waren etc. Dass die Rote Armee das KZ Auschwitz befreite und die Anti-Hitler-Koalition die deutsche Bevölkerung den Klauen eines rassistischen Regimes entriss, war dabei sicher nicht das Kriegsziel. (Diese Dinge zählten zu den Wirkungen, über die man als Nachgeborener natürlich erleichtert sein dürfte.)

Die Abwendung vom üblichen Moralismus durch sachliche Aufklärung hat aber noch eine andere Seite. Der Publizist Eric Schlosser, allem Anschein nach ein braver amerikanischer Patriot, hat 2013 eine aufwändige Studie über die amerikanische Atomrüstung seit dem Zweiten Weltkrieg vorgelegt, in der er – vor allem zur Aufklärung jüngerer Leser – die Verdienste der „ordinary man and women“ würdigen will, „who helped to avert the nuclear holocaust“, indem sie ständig am Rande des Kriegsausbruchs lavierend die Interkontinentalraketen beaufsichtigten, warteten, reparierten etc. Im ersten Kapitel zeigt Schlosser, wie aus den Auseinandersetzungen um das „area bombing“, aus den Erfahrungen der „Feuerstürme“ beim (konventionellen) Bombardement Hamburgs, Dresdens oder Tokios, die amerikanische Atomstrategie hervorging, die immer auf eins berechnet war: auf maximale Zerstörungs- und Tötungskraft.

Davon ist übrigens nichts veraltet. Wenn man sich die offiziellen US-Dokumente wie die National Security Strategy (2017), die National Defense Strategy (2018), die Nuclear Posture Review (2018) oder die Missile Defense Review (2019) ansieht, dann ist die Massenvernichtung weiter im atomaren US-Programm, ergänzt um eine Kriegsführungsoption, die die Abschreckung der anderen Seite – das ist heute vor allem wieder Russland – um die Sicherheit ergänzen will, dass man selber vom Einsatz der ultimativen Waffe nicht abgeschreckt wird. An solche aktuellen Vorgänge zu erinnern – die zur Zeit im einem gigantischen, gegen Osten gerichteten Manöver der NATO [5] als Übung anstehen – und so den Krieg als aktuelles Problem namhaft zu machen, wäre natürlich unanständig in einer Erinnerungskultur, die die Guten von den Bösen trennen will.

Nachweise

[1] Siehe: „Das Böse“ – Teil der deutschen Identität, Migazin, 2.2.2020, https://www.migazin.de/2020/01/30/auschwitz-gedenken-das-boese-teil/)

[2] MBR – Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin, Nur Schnee von gestern? Zum Umgang mit dem Kulturkampf von rechts in Gedenkstätten und Museen. Berlin 2019 (Zitate: S. 1, S. 45), online: mbr-berlin.de, die Broschüre ist als Download erhältlich.

[3] Siehe: Alles bewältigt? Eine „Erinnerungskultur“, die Deutschland dient, Auswege-Magazin, 27.11.2019, https://www.magazin-auswege.de/2019/11/eine-erinnerungskultur-die-deutschland-dient/; Pädagogik gegen rechts, ächz, IVA, Juni 2017, https://www.i-v-a.net/doku.php?id=texts17#paedagogik_gegen_rechts_aechz.

[4] Eric Schlosser, Command and Control – Nuclear weapons, the Damascus Accident and the illusion of safety (deutsche Ausgabe bei C.H.Beck), New York 2013 (Zitate: S. XIV, S. 45). Siehe vor allem den Abschnitt „Megadeath“ (S. 119ff) über die Atomkriegsplanung der USA und den Experten Fred Charles Iklé, der die Bombardierung von deutschen Wohngebieten im Zweiten Weltkrieg untersuchte und die Mängel einer bloßen „Dehousing“-Strategie herausstellte, da sie immer noch einen gewissen Prozentsatz an Überlebenden zuließ; diese Überlebenschance galt es in einer auf Totalvernichtung ausgelegten Nuklearstrategie möglichst zu beseitigen.

[5] Es handelte sich um das Manöver „Defender Europe 2020“, das von westlicher Seite die neueste Zuspitzung in Osteuropa mit vorbereitete.


Ein Diskussionsvorschlag in Sachen Rüstungs-„Wahnsinn“

Zur Diskussion um den Aufruf „Den Wahnsinn stoppen!“ aus der Gewerkschaftsopposition gab es zuletzt einen Beitrag von der „Sagt-nein!“-Initiative. Hier ein Vorschlag zur Fortsetzung der Diskussion von Johannes Schillo.

Den Aufruf „Den Wahnsinn stoppen!“, der sich gegen den Kurs der Aufrüstung und Kriegsvorbereitung in Deutschland wendet, veröffentlichte IVA samt einigen kritischen Anmerkungen im März 2025. Dem schlossen sich im April weitere Debattenbeiträge an, zuletzt eine Stellungnahme von Andreas B., Mitinitiator von „Sagt Nein!“, anknüpfend an die Replik von IVA auf Fritz H. Hier ein Vorschlag zur Fortsetzung der Diskussion, der versucht, Konsens- und Dissens-Punkte zu benennen.

Faschistische Gefahr nicht verharmlosen!

Andreas B. stimmt einerseits der Kritik von IVA zu, die davor warnte, sich gerade in der gegenwärtigen Lage der Kriegsplanung gegen Russland an die Regierenden – d.h. zuletzt die Ampel, mittlerweile die neue große Koalition – zu wenden und ein Verbot aller faschistischen Organisationen zu fordern. Eine derartige überparteiliche Initiative, bezogen auf die AfD, gab es ja im alten Bundestag und gibt es jetzt auch im neu gewählten, forciert von einem CDU-Politiker. Dabei wird eine entsprechende Antragstellung zur Zeit von einem Gutachten des Verfassungsschutzes abhängig gemacht und bedarf wohl auch noch der Abstimmung mit dem neuen Innenminister. An diese „politisch Verantwortlichen“, also u.a. an einen CSU-Politiker Dobrindt (Verfasser des „Konservativen Manifests“, das seinerzeit mit seiner Bezugnahme auf die „Konservative Revolution“ der AfD den Rang ablaufen wollte), zu appellieren und von ihnen ein solches Verbot zu fordern, hält auch Andreas B. für einen Fehler.

Andererseits kann er der Forderung – „taktisch“ gesehen – dann doch etwas abgewinnen, wenn sie „im Rahmen einer zu formulierenden antiautoritären, antimilitaristischen und emanzipatorischen Gesamtstrategie“ stattfände; und er wendet sich ebenfalls gegen die von IVA zur Charakterisierung der AfD gewählten Begriffe „rechtspopulistische Querschläger“, „Störenfriede“ oder „Vertreter eines dissidenten Standpunkts“, da diese der „verharmlosenden bürgerlichen Propaganda entsprechen und damit desorientierend wirken“. Frage: Ist damit wirklich eine sachlich begründete Differenz zur IVA-Kritik ausgedrückt?

  • Der Aufruf fordert ein staatliches Verbot, also eine Aktion des Rechtsstaates, so wie wir sie in der BRD mit der in der Verfassung vorgesehenen Möglichkeit eines Parteienverbots (praktiziert bei SRP, KPD) kennen. Käme dieses Verbot, würde es mit Sicherheit ins Extremismuskonzept des Staatsschutzes eingebaut, wäre also eine weitere Maßnahme, mit der (wie Andreas B. an anderer Stelle beklagt) „die Gesellschaft autoritär formiert wird“. Also wäre die Linke davon doch erstens genauso betroffen? Und wenn zweitens aus der Arbeiter- oder Gewerkschaftsbewegung eine antifaschistische Aktion entstehenden würde, müsste diese doch einen ganz anderen Charakter haben? Dann wäre doch nicht ein repressiver Akt des Staates angezeigt, sondern eine überzeugende Ansprache der Bevölkerung, sich gegen Nationalismus in Wort und Tat zur Wehr zu setzen?
  • Die IVA-Rede von den „rechtspopulistische Störenfrieden“ ist nicht als abschließende Analyse des deutschen Rechtsradikalismus Anno Domini 2025 gemeint, sondern soll das aufspießen, was den offiziell angesagten „Kampf gegen rechts“ motiviert: Bei den politischen Inhalten gibt es zwischen den etablierten Parteien und der AfD kaum einen Unterschied, die legendäre Brandmauer ist „halluziniert“ (Andreas B.); sie ist eine Simulation, wie IVA zuletzt in Beiträgen zur Bundestagswahl ausgeführt hat. Bekämpfung der „irregulären Migration“ war ja das einigende Band aller Parteien (bis auf die Linke) im Bundestagswahlkampf. Was „die Etablierten“ also stört, ist die Tatsache einer nationalen Opposition, die eine gewisse Breitenwirkung erzielt und die die AfD parlamentarisch zu vereinnahmen versucht. Bei Andreas B. wird das unter Nr. 2, 7 und 8 auch angesprochen: Ein „allgemeines Unwohlsein“ stellt sich der forcierten Aufrüstung zwar nicht direkt in den Weg, weiß aber eine nationale Alternative anzugeben (kurz gesagt: mit Russland verhandeln und von dort wieder billige Energie beziehen statt teure aus den USA), was sowohl der offiziell angesagten antirussischen Feindschaft wie dem betreffenden Feindbild in die Quere kommt. Also wird so etwas, genau wie Andreas B. formuliert, „vom Verfassungsschutz entsprechend direkt als ‚demokratiegefährdend‘ identifiziert“. Und in diesen Streit um nationale Erfolgswege soll man sich konstruktiv, für eine Seite parteiergreifend einmischen? Sind die schwarz-rot-grünen Kriegsplaner harmloser, für den Aufwuchs einer antikapitalistischen Bewegung besser als eine Herrschaft von Weidel und Co.?

Streitpunkt „Mörderische Marktwirtschaft“

Wahrscheinlich von größerem theoretischen Kaliber ist die Differenz, die bei der Erklärung der Kriegsgründe vorliegt. Genauer gesagt: bei der Antwort auf die Frage, warum im Kapitalismus, ob er jetzt auto- oder demokratisch regiert wird, Krieg permanent auf der Tagesordnung steht; also jeder Staat Aufrüstung betreibt, weil er virtuell von aggressiven Nachbarn bzw. global anspruchsvollen Rivalen/Hegemonen bedroht ist, sich daher vorbeugend gegen sie verteidigungsfähig machen muss, Eskalation bis zum nuklearer Holocaust inbegriffen – sofern die Waffen verfügbar sind und sei es auch nur auf dem Wege „nuklearer Teilhabe“ wie in der BRD. Dass dieses Bedrohungsszenario, das immer den andern (dem „bösen Nachbarn“) die Schuld gibt, eine Ideologie ist, kann man wohl als Konsens unter den Unterzeichnern und Unterzeichnerinnen des Aufrufs festhalten. Das Faktum dieser Kriegsträchtigkeit selber ist ja auch fast eine Trivialität; also die Tatsache, die der französische Sozialist Jean Jaurès vor dem Ersten Weltkrieg so gefasst hat: „Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.“ Selbst ein klerikal bornierter Mensch wie Papst Franziskus wusste: „Diese Wirtschaft tötet“ (was übrigens nicht, wie IVA in mehreren Beiträgen dargelegt hat, siehe zuletzt hier, mit Antikapitalismus zu verwechseln ist).

IVA hatte sich aber in dem Zusammenhang entschieden gegen die Rede von den „Kriegen des Kapitals“ gewandt und festgehalten: Kapitalisten sind geil auf Profit, nicht auf Krieg (selbst die Rüstungsindustrie wäre damit zufriedengestellt, wenn Waffen endlos angehäuft und moralischem oder reellem Verschleiß ausgesetzt wären); der Staat agiert dabei als „ideeller Gesamtkapitalist“ und macht sich in dieser Funktion seine ökonomische Grundlage, deren kapitalistische Haltbarkeit er hinten und vorne bedient, zur Verfügungsmasse, die er inklusive des zugehörigen Menschenmaterials und der natürlichen Lebensgrundlagen aufs Brutalste verheizt und verschleißt. Insofern ist die Montage „Kriege und Leichen – Die letzte Hoffnung der Reichen“ von John Heartfield (der mit seinem Bruder Wieland in der Weimarer Republik die moderne Kunst zur kommunistischen Agitation veredelte) zwar beeindruckend, politisch aber falsch. Die Montage findet man übrigens im Netz hier: Auf ihr schleicht die Bourgeoisie als Hyäne mit Zylinder und dem Orden „Pour le mérite“ übers leichenübersäte Schlachtfeld und sucht nach Beute. Der „Pour le mérite“ war übrigens, wie die betreffende Website anmerkt, der höchste preußische Kriegsorden. „Heartfield macht ihn zum ‚Pour le profit‘.“ Die Montage war ein Cover der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung (AIZ), die Ausgabe wurde 1932 beschlagnahmt „und erst auf Protest namhafter Schriftsteller und Künstler wieder freigegeben.“

In dieser Frage des Verhältnisses von Politik und Ökonomie gibt es Konsens mit Andreas B. und gleich wieder Dissens. Ja, der Staat ist der ideelle Gesamtkapitalist, wie die berühmte Formulierung von Friedrich Engels lautet; aber das sei dann, vor allem unter Krisenbedingungen, wieder zu präzisieren: „Im faulenden Stadium des Imperialismus“ werde der Krieg „systemisch“; im „Krisen- und Kriegsimperialismus“ übernehme der Staat „die zentrale Rolle zur Stimulierung, Dirigierung und teilweise auch Substituierung der Kapitalinvestitionen“, so dass er im Grunde zum reellen Gesamtkapitalisten wird. So heißt es dann nachher auch ganz konkret im Blick auf den Ukrainekrieg, das gegenseitige Abschlachten der Völker finde „auf Geheiß des Kapitals“ (Nr. 4) statt.

Nun könnte man hier in die Diskussion einsteigen und etwa danach fragen, ob sich denn das deutsche Kapital, das ja gerade von billigen russischen Energielieferungen profitierte, diesen Krieg bestellt hat? Konnten denn daran, wie es gleich weiter unter Nr. 4 heißt, „Energiekonzerne sowie die finanzierenden Banken und Investementfonds‘ Milliarden verdienen“? Mussten nicht einige Branchen enorme Verluste einstecken, die„uns“ jetzt zum Ärgernis aller guten Deutschen im dritten Jahr eine „Rezession“ bescheren? Und ist es nicht überhaupt so, dass das Kapital keine einheitliche Größe darstellt, vielmehr eine Einheit feindlicher Brüder ist, deren Gesamtinteresse vom Staat auch gegen einzelne durchgesetzt wird? Was Rheinmetall nützt, schadet eventuell VW etc. Dass Kapitalisten das gleiche Interesse – nach Profit – gegen die Arbeit vertreten, stiftet doch keine Identität in dem Sinne, dass sie ansonsten auch einen einheitlichen Standpunkt vertreten?

Das sollen aber nur einige Andeutungen sein, was sich an den bisherigen Diskussionsstand anschließen würde. Der Einfachheit halber hier bloß ein Vorschlag zum weiteren Vorgehen. Beim Videopodcast „99zu1“ haben Ole Nymoen und Fabian Lehr eine Diskussion geführt, die sich – im Schwerpunkt – genau mit diesen Fragen befasste ( Episode 503). Es ging darum: Wie sieht das Verhältnis der kapitalistischen Ökonomie zu einem Staat aus, dessen Räson darin besteht, genau dieser Ökonomie zu dienen? Wie kommt es hier zum ständigen bzw. ständig in Rechnung gestellten Übergang vom mehr oder weniger friedlichem Handel & Wandel zum Einsatz der Waffen?

Moderiert hat das Gespräch Arian Schiffer-Nasserie, der eingangs an das oben benannte Faktum der Kriegsträchtigkeit erinnert – aber auch an die frühbürgerliche Hoffnung, es werde mit Warenproduktion, -tausch und grenzüberschreitendem -handel eine Ära der allgemeinen Friedfertigkeit anbrechen. Wie gesagt, dass das eine Illusion ist, weiß heute im Grunde jeder. Antikapitalisten wissen zudem, wo die allgemeine Triebkraft für diesen monströsen Weltzustand zu finden ist. Aber was das konkret heißt – das zeigt die Debatte über den Aufruf gegen den Rüstungswahnsinn wie das Gespräch bei „99zu1“ – ist dann gar nicht so einfach zu bestimmen. Im betreffenden Videopodcast trat ein ähnliches Gemenge von Differenz und Übereinstimmung zu Tage wie in der hier angesprochenen Diskussion. Deshalb der Vorschlag an alle Interessenten: Schaut Euch den Beitrag bei „99zu1“ an. Dort werden wahrscheinlich weitere Sendungen folgen. Und IVA wird auch die Diskussion fortsetzen. Vorschläge oder Statements dazu sind willkommen.

P.S. Zum „Rüstungswahnsinn“

Ich weiß, wie die Rede vom „Wahnsinn“ der Rüstung gemeint ist: Der Aufruf appelliert an die arbeitende Menschheit, sich einmal im Blick auf die eigenen Interessen zu überlegen, zu welch ungeheuerlichem Unternehmen die Herrschenden sie abkommandieren wollen; für das Fußvolk, sagen wir, gibt es keinen vernünftigen Grund, bei Krieg und Kriegsvorbereitung mitzumachen. Die Rede vom Wahnsinn ist aber leider nahe bei dem erzbürgerlichen Topos von der „Sinnlosigkeit“ des Kriegs (mit dessen Kritik übrigens Ole Nymoen in seiner neuen Streitschrift einsteigt). Diese Klage hat ja sogar in Kriegszeiten Konjunktur: Immer sind es „Irre“ (Millossowitsch, Gaddafi, Saddam, Putin…), die grundlos Kriege vom Zaun brechen, so dass die auf eine regel- bzw. wertebasierte Ordnung eingeschworenen Staatenlenker Friedenseinsätze befehligen müssen, um diesem Wahnsinn Einhalt zu gebieten. Das wäre etwa – zusammen mit anderen Punkten – zu berücksichtigen, wenn weitere Initiativen zum Aufbau einer antikapitalistischen Antikriegsfront anstehen.


April

„Den Wahnsinn stoppen“ – Eine Debatte unter Kriegsgegnern

Gegen den atemberaubenden Aufrüstungskurs formiert sich Protest in deutschen Gewerkschaften. IVA hat den Aufruf „Den Wahnsinn stoppen!“ unterstützt, gleichzeitig aber Kritik angemeldet, was zu einer Korrespondenz geführt hat. Die wird hier mit einem Statement von Andreas B. aus der „Sagt-nein!“-Initiative fortgesetzt.

Kritische Gewerkschaftsinitiativen wie „Sagt nein!“ aus Verdi haben jüngst gemeinsam mit anderen oppositionellen Stimmen, vorwiegend aus dem antikapitalistischen Lager, den Aufruf „Gegen Krieg, Hochrüstung und Kriegswirtschaft!“ veröffentlicht. IVA hat diesen Aufruf unterstützt, aber auch Kritik angemeldet und diese unter „Den Wahnsinn stoppen!“ veröffentlicht. Daraufhin kamen Einwände von Fritz H., die zusammen mit einer Stellungnahme von IVA im April unter „Korrespondenz“ veröffentlicht wurden. Dazu gibt es jetzt eine weiteres Statement von Andreas B., Mitinitiator von „SAGT NEIN!“, das im Folgenden veröffentlicht wird. IVA wird diese Diskussion demnächst fortsetzen.

Liebe Genoss*innen,

„Den Wahnsinn stoppen!“ ist, wie sowohl Fritz als auch die Genoss*innen von IVA zu Recht feststellen, ausdrücklich ein Versuch, Gräben in der aktuellen Mobilisierung gegen die Kriegsunterstützung und die aktiven Kriegsvorbereitungen des EU- und BRD-Imperialismus zu überwinden und auf mögliche „gemeinsame“ Positionen zuzuspitzen. Dabei ist es dann nun einmal erfahrungsgemäß genau so, wie ihr schreibt, dass ein solcher Aufruf notwendigerweise Kompromisscharakter trägt und zugleich das Angebot beinhaltet, die weiter bestehenden Kontroversen auszutragen. Die bisherige Diskussion zeigt wichtige Differenzen im Verständnis des Verhältnisses von Staat, Kapital und Krieg – und verdient deshalb eine präzise, zugespitzte Antwort.

1. Die sogenannte „Zeitenwende“ ist kein zufälliger oder gar vermeidbarer Kurswechsel in der Politik, sondern der spezifisch „deutsche“ Ausdruck der strukturellen Transformation des Kapitalismus imperialistischen Stadiums im Krisenmodus der Auflösung der bipolaren in eine – wie auch immer geartete – multipolare globale (Un-)Ordnung, also des Übergangs vom libertären Neoliberalismus zur offenen Kriegswirtschaft. Dabei teile ich mit IVA die Einschätzung, dass der bürgerliche Staat nicht „einfach eine Marionette einzelner Kapitalisten“ ist, sondern als „ideeller Gesamtkapitalist“ agiert/agieren muss – doch der entscheidende Unterschied liegt in der Bewertung dieser Rolle: Die Rolle und Funktion des „ideellen Gesamtkapitalisten“ ist eben nicht nur abstrakter und systemimmanenter Sachzwang, sondern auch konkreter Ausdruck bürgerlicher Klassenherrschaft, deren Krise sich heute auch in den bisher davon eher wenig getroffenen Metropolen in zunehmender kriegerischer Eskalation, aggressiver weiterer Kriegsvorbereitung, Aufrüstung, sozialer und politischer Repression und fortschreitender gesellschaftlicher Faschisierung (da sind die AfD, FdI, RN, PiS & Co. nur die Spitze des Eisbergs) zuspitzt und entlädt.

2. Die Rolle des Staates wird mit der Zunahme der Krise und der innerimperialistischen Konkurrenz immer zentraler, um eine Wirtschaftsentwicklung im „nationalen Interesse“ zu garantieren. Und er bekommt auch wieder ein ideologisches Programm:

  • Statt des neoliberalen Selbstlaufes wurde (beginnend) in der „Coronapandemie“ der Staat zum autoritären Zuchtmeister zur „Sicherung des kollektiven (Über-)Lebens“ und des Schutzes plötzlich entdeckter „vulnerabler Gruppen“ – wie zynisch angesichts der millionenfach weltweit in Kriegen, vor Hunger und Durst und auf der Flucht Verreckenden!!
  • Von der letzten Bundesregierung wurde die „Einheit von Wirtschaft und Klimaschutz“ propagiert.
  • Heute sind es nackt die Anforderungen der Kriegsfähigkeit, gemäß denen die Gesellschaft autoritär formiert wird.

3. Genauso wie der patriarchale Kapitalist im Imperialismus zum funktionalen Agenten des Finanzkapitals geworden ist, übernimmt der kapitalistische Staat im Krisen- und Kriegskapitalismus die zentrale Rolle zur Stimulierung, Dirigierung und teilweise auch Substituierung der Kapitalinvestitionen, um die imperialistische Entwicklung zu garantieren. Die Kriegswirtschaft ist dabei der Keynesianismus der ökonomisch und militärisch schwachen Staaten (wie ehedem Nazideutschlands, um sich kriegsfähig zu machen, während die USA den New Deal hatten). Heute sind die USA militärisch (noch) dominierend und nutzen ihre Stellung, um ihre ökonomische Basis auf Kosten der Konkurrenz zu verbessern; seit MAGA auch ganz unmaskiert innerhalb der innerimperialistischen Konkurrenz mit der EU, was die so genannten Transatlantiker gerade noch erkennbar „verunsichert“… Der Plan Deutschlands und der EU namens „Green New Deal“ ist nicht zuletzt am chinesischen Vorsprung (Solaranlagen, Elektroautos…) gescheitert, so dass die EU/BRD jetzt auf den Panzer gekommen ist, während China seine Autoindustrie subventioniert…

4. IVA bleibt – bei aller ökonomiekritischen Klarheit – letztlich analytisch und politisch defensiv. Ihr beschreibt das Arrangement von Staat und Kapital, stellt bezüglich der zunehmenden globalen militärischen Eskalation und der Rolle der Regierenden als „mögliche Adressaten politischer Forderungen“ richtige Fragen, aber Ihr stellt dem keine für mich erkennbare Idee oder gar ein Konzept einer möglichen eigenständigen Klassenpolitik oder zumindest Orientierung entgegen. Genau das halte ich aber für dringend erforderlich. So, wie es 1916 auch Rosa Luxemburg mit ihrer „Juniusbroschüre“ versuchte, deren Aktualität heute unübersehbar ist. Aus ihrer Analyse folgt: „Die bloße Beendigung eines Krieges“ – sei sie durch Diplomatie, Waffenstillstand oder Sieg einer Seite erreicht – führt unter kapitalistischen Bedingungen zwangsläufig in die nächste militärische Eskalation. Denn der Militarismus ist kein Betriebsunfall, sondern ein notwendiges Produkt des kapitalistischen Klassenstaates. Das gilt umso mehr, je länger er sich historisch im faulenden Stadium des Imperialismus befindet. Die Forderung nach Abrüstung unter diesen Bedingungen erklärt Luxemburg daher zu Recht für „völlig utopisch“.

Was bedeutet das für unsere Debatte? Es reicht m.E. nicht, präzise zu analysieren, wie die imperialistischen Staaten – also die jeweiligen nationalen „ideellen Gesamtkapitalisten“ – jeweils die „nationalen“ wirtschaftlichen Interessen durchsetzen. Wir müssen begreifen, dass der imperialistische Krieg spätestens in der jetzt begonnenen historischen Phase selbst systemisch ist. Der Kapitalismus imperialistischen Stadiums hat eben nicht „versagt“, im Gegenteil: Er funktioniert gerade in der aktuellen Eskalation genauso, wie er funktionieren muss – in der Krise eben fast ausschließlich noch über Umweltvernutzung bis hin zu Klimakollaps, Aufrüstung, Eskalation, ideologischer Mobilmachung und in letzter Konsequenz: permanenter globaler Krieg; ohne dabei selbst die atomare Eskalation zu scheuen; sie im Gegenteil zunehmend technisch umsetzbar und damit politisch realisierbarer zu machen. Die Orientierung auf die staatlich induzierte Rüstungsproduktion kann zwar die Wirtschaft temporär ankurbeln und über den Waffenexport auch Profit generieren, die vorerst in den Kasernen verbleibenden Panzer können ihren Wert allerdings erst im Krieg zur Eroberung neuer Märkte oder der vernichtenden Vorbereitung des Wiederaufbaus realisieren. Insofern ist der Kriegskeynesianismus auch die direkte Vorstufe der kriegerischen Krisenlösung des Kapitals. Und gerade deshalb halte ich auch die von IVA kritisierte Heartfield-Zuspitzung „Krieg und Leichen, die Hoffnung der Reichen!“ ebenso wie Fritz nicht nur für sprachlich und politisch, sondern auch analytisch am Ende für präzise. Und eben darin offenbart sich die tödliche Konsequenz für die Arbeiter*innenklasse. Luxemburg schreibt: Der Krieg ist „nicht bloß ein grandioser Mord, sondern auch Selbstmord der europäischen Arbeiterklasse“. Auch heute sterben junge Menschen (überwiegend immer noch Männer) – Ukrainer*innen, Russen*innen und, eher früher als später, genau so wieder Deutsche – auf Geheiß des Kapitals, mit Nationalfahnen im Rucksack und Freiheitsparolen im Ohr, während Rüstungs- und Energiekonzerne sowie die finanzierenden Banken und Investmentfonds Milliarden verdienen.

5. Hierzulande wird der Ukrainekrieg zur „Verteidigung der Demokratie“, der „westlichen Werte“ oder gar „unserer Kultur“ verklärt – doch was wirklich verteidigt wird, ist ein ökonomisches und geopolitisches Herrschaftssystem in der Überlebenskrise. Die bürgerliche Demokratie ist der politische Ausdruck der bürgerlichen Warengesellschaft und nicht der sozialen Emanzipation. Schon 1844 schrieb Friedrich Engels: „Die demokratische Gleichheit ist eine Chimäre, der Kampf der Armen gegen die Reichen kann nicht auf dem Boden der Demokratie oder der Politik ausgekämpft werden.“ Vor diesem Hintergrund teile ich die berechtigten Zweifel von IVA an den Überlegungen von Fritz über die mögliche Bedeutung von „mehr oder weniger Demokratie“ als denkbarem Möglichkeitsraum für die Emanzipation der Arbeiter*innenklasse.

6. Die zunehmenden Kriegsherde weltweit sind die sich formierenden Fronten des dritten imperialistischen Weltverteilungskrieges. Auf den jeweils spezifisch geprägten Konfliktfeldern wirkt eine Gemengelage durchaus auch divergierender imperialistischer Interessen großer und kleiner Akteure, die sich – der im Kapitalismus zwangsläufigen Dynamik von Konkurrenz und Konzentration folgend – um die beiden dominierenden Machtblöcke (USA/NATO und ihre Verbündeten sowie China/Russland und ihre Verbündeten) gruppieren. In den ideologischen Argumentationslinien der Kriegsparteien gefangen, die tieferen ökonomischen Hintergründe des sich ausbreitenden Weltgemetzels ignorierend und vor allem bar jeder materialistischen Klassenanalyse dilettiert demgegenüber die sogenannte „Linke“ als ein Möchtergerndiplomat auf dem – im wahrsten Sinne des Wortes – in hellen Flammen stehenden weltgeschichtlichen Parkett. Sich daran zu beteiligen, führte nicht nur in die falsche Richtung, sondern direkt in den Sumpf der imperialistischen Diplomatie und des imperialistischen Krieges!

7. Gegen das sich immer offener und ungenierter selbst entlarvende kapitalistische Krisenregime der totalen warenförmigen Zurichtung und Hinrichtung wird zunehmend, auch in den Gewerkschaften und sogar auf den Straßen ein allgemeines, nationales Unwohlsein sicht- und hörbar; und vom so genannten Verfassungsschutz entsprechend direkt als „demokratiegefährdend“ identifiziert. Dieses bisher weitestgehend unorganisierte „Unwohlsein“ und „Aufmucken“ ist politisch ambivalent und reicht vom empörten Reflex gegen die aktuellen Verbrechen der verschiedenen Kriegsparteien bis zum Wunsch nach der Rückkehr in die „gute alte Zeit“ (zu Willy Brandt oder Erich Honecker oder gar noch weiter zurück, je nach den verwirrten Projektionen der Protagonist*innen). Abstrahiert von den beschriebenen ökonomischen Entwicklungsgesetzen des Kapitalismus und den tatsächlichen sozialen Klasseninteressen wird dabei meistens auf „Volksbewegungen“ orientiert oder die Nation als politischer Referenzrahmen konstruiert (gegen atomare Erstschlagswaffen auf DEUTSCHEM Boden, weil dadurch Deutschland zum Kriegsschauplatz würde; für die NATIONALE Befreiung Palästinas oder Kurdistans etc.). Hier mischen sich dann nicht selten die so klassischen wie „klassenlosen“ politischen Vorstellungen von „links und „rechts“.

8. Die tonangebenden Kapitalfraktionen des Militärisch-Industriellen-Digitalen-Komplexes in EU/Deutschland nutzen über ihre Einpeitscher*innen in der EU-Kommission, der Bundesregierung und insbesondere auch den Regierungen Polens und der baltischen Staaten die Ukraine als Frontstaat, nicht um das Völkerrecht zu schützen, sondern um geopolitisch verlorenes Terrain gegenüber Russland und China und mittlerweile auch ganz offen den USA zurückzuerobern – mit allen Mitteln, auch auf Kosten der eigenen Bevölkerung. Während Reallöhne sinken, Heizkosten explodieren und Sozialsysteme ausbluten, steigt der Aktienkurs von Rheinmetall & Co. um mehr als tausend Prozent, während die Gewerkschaften sich trotz zunehmenden Widerstandes in den eigenen Reihen mit ihrer kapitulantenhaften Burgfriedenspolitik erneut im vorauseilenden Gehorsam ihrer jeweils nationalen Bourgeoisien unterwerfen. Es gilt heute wie zur Zeit Luxemburgs: „Die Dividenden steigen, und die Proletarier fallen.“

9. Luxemburgs zentrale Erkenntnis bleibt unverzichtbar: Die Arbeiter*innenklasse darf „weder schweigen noch sich unterordnen“. Sie darf sich nicht von „Friedensappellen“ der Herrschenden einlullen lassen, denn „auch ein Waffenstillstand im Kapitalismus bedeutet bloß: Atempause vor der nächsten Aufrüstung“ (Luxemburg). Und sie darf sich nicht auf „diplomatische Rezepte“ einlassen, wie sich der Imperialismus „zähmen“ lasse. Deswegen bin ich persönlich zusammen mit IVA auch politisch inhaltlich anders als Fritz gegen jedwede Forderungen an die nationalen „politisch Verantwortlichen“. Aus den unter Nr. 6 genannten Gründen betrifft das insbesondere Forderungen nach „mehr Diplomatie“, „Abrüstung“ oder auch nach der „Durchsetzung des Völkerrechts“. Ebenso betrifft es aber die an den bürgerlichen Staat gestellte Forderung nach einem „Verbot der AfD“ – ganz jenseits der Tatsache, dass ich (wie Fritz) die von IVA in Bezug auf die AfD gewählten Begriffe „rechtspopulistische Querschläger“, „Störenfriede“ oder „Vertreter eines dissidenten Standpunkts“ irritierend finde, weil sie der verharmlosenden bürgerlichen Propaganda entsprechen und damit desorientierend wirken. Das schließt für mich bezüglich der „AfD-Verbotsforderung“ allerdings nicht aus, diese „taktisch“ im Rahmen einer zu formulierenden antiautoritären, antimilitaristischen und emanzipatorischen Gesamtstrategie und Generalkampflinie und ausschließlich zum Zwecke einer möglichen breiteren Mobilisierung wegen erwarteter „Anknüpfungsfähigkeit an das Alltagsbewusstsein“ in Erwägung zu ziehen; insofern komme ich nach wie vor mit dieser Forderung im Aufruf klar… Die von Seiten der Regierung und des „demokratischem Parteienkanons“ unter Verwässerung und Umdrehung des Schwurs von Buchenwald orchestrierten „Nie wieder ist jetzt!“-Demos im Vorfeld der Bundestagswahlen – bei gleichzeitigem finalen Abräumen der sowieso immer nur halluzinierten „Brandmauer gegen rechts“ am 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz im Deutschen Bundestag – lassen für mich jedoch auch die unverkennbaren Grenzen solchen „taktischen Verständnisses“ erkennen. Da bin ich dann wieder sehr bei IVA.

10. Internationale Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung scheiterten 1914 daran, den Krieg vom Klassenstandpunkt aus und mit dem „Blickwinkel des Proletariats“ zu kritisieren – und sie scheitern heute erneut. Statt sich dem bürgerlichen „Kampf für (mehr) Demokratie“ anzuschließen, muss eine emanzipatorische Linke endlich „den eigenen Klassenstandpunkt“ geltend machen. Sie muss aufhören, der Zeitenwende hinterherzurennen. Sie muss ihr etwas entgegensetzen – nicht taktisch, sondern grundsätzlich. Nicht reformistisch, sondern konkret revolutionär.

11. Solange die Arbeiter*innenklasse gespalten bleibt – national, ethnisch, ideologisch – wird sie zwischen den Fronten der imperialistischen Blöcke zerrieben. Was es braucht, ist nicht ein Appell für „mehr Diplomatie statt Aufrüstung“, nicht ein Verbot von AfD, FdI, RN, PiS & Co. oder ein „besseres Krisenmanagement“ durch „sozialere Politik“, sondern eine klassenbewusste, internationalistische Kraft, die sich allen Kriegsparteien entgegenstellt.

Krieg dem Kriege! Für die Überwindung der Verhältnisse, die ihn hervorbringen. Die Schlussworte aus der Juniusbroschüre bleiben daher das politisch Notwendige wie das moralisch Unverzichtbare: „Der Wahnwitz wird erst aufhören, und der blutige Spuk der Hölle wird verschwinden, wenn die Arbeiter in Deutschland und Frankreich, in England und Russland endlich aus ihrem Rausch erwachen, einander brüderlich die Hand reichen und den bestialischen Chorus der imperialistischen Kriegshetzer […] überdonnern: Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“


Antikriegsprotest von Gewerkschaften und Linken

Ende März gab es die Antikriegsdemo in Wiesbaden, jetzt stehen die Ostermärsche an und für den 1. Mai sind weitere Aktionen zu erwarten. Dazu ein Mitteilung der IVA-Redaktion.

Die neue Ansage der „Kriegsertüchtigung“ mit ihrer Konsequenz der Militarisierung „durchdringt alle zivilen Einrichtungen. Begleitet wird diese Drohkulisse von einer Verächtlichmachung angedachter Konzepte einer erneuerten europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung. Das erfüllt viele Menschen mit Sorgen und Ängsten. Diese Sorgen und Ängste finden in den Ostermärschen ein politisches Ventil.“ Das schreibt das Gewerkschaftsforum kurz vor den diesjährigen Ostermärschen. Es listet zudem alle einschlägigen Termine auf und betont die Notwendigkeit, sich an den Protesten zu beteiligen – auch wenn hier unterschiedliche Positionen zusammenkommen, die man nicht unbedingt teilt.

IVA sieht das ähnlich und hatte letztens anlässlich der Demo in Wiesbaden den Aufruf „Den Wahnsinn stoppen“ unterstützt und gleichzeitig Kritikpunkte benannt, was mittlerweile zu einer Diskussion geführt hat. Wichtig ist eben, dass die Differenzen, die beim Protest zu Tage treten, als Chance genutzt werden. Nämlich dazu, die betreffenden Kontroversen auszutragen. Und das sowohl im Kreis derjenigen, die eine antiimperialistische Kriegskritik befördern wollen, sowie in der Auseinandersetzung mit anderen friedensbewegten Positionen, die an die „eigentlich“ vorhandene Friedensfähigkeit und -willigkeit der Politik appellieren. Dazu hier einige Hinweise.

Droht ein Rüstungswettlauf?

Dass die Sorgen der Menschen im Protest, wie es heißt, „ein politisches Ventil“ finden, benennt gerade ein Problem der derzeitigen Friedensbewegung: Ja, man kann beim Aufmarschieren etwas Dampf ablassen und danach mit dem Gefühl nach Hause gehen, dass man seine Sorgen den Regierenden zu Gehör gebracht hat. Das ist dann quasi eine vertrauensbildende Maßnahme. Der Aufruf von Verdi Hamburg zum diesjährigen Ostermarsch lässt z.B. einen solchen Vertrauensvorschuss erkennen; er betont, dass es „gerade jetzt dringend intensiver Bemühungen Deutschlands und der internationalen Staatengemeinschaft um allgemeine und weltweite kontrollierte Abrüstung“ bedarf. Dort, wo gerade entschieden aufgerüstet wird, soll man also die Adresse finden, der man die Abrüstungsaufgabe zutraut? Müsste man nicht vielmehr Misstrauen in die Obrigkeit säen angesichts der Entschiedenheit, zu der die Macher (und nicht zu vergessen Macherinnen) der Kriegsvorbereitung übergegangen sind?

Bei dem Verdi-Aufruf wird natürlich auch die Zweideutigkeit gewerkschaftlicher Unterstützung für friedensbewegte Aktionen deutlich (sofern es sie überhaupt noch gibt, im neuen Senioren-Rundbrief von Verdi z.B. kommen zwar allerlei Aktivitäten aus dem Monat April vor, aber keine Ostermärsche). Im Hamburger Aufruf heißt es: „In diesen Zeiten globaler Umbrüche und zunehmender internationaler Spannungen ist es wichtiger denn je, dass wir als Gewerkschaften unsere Stimme für den Frieden erheben. Wir stehen fest zu unserer Überzeugung: Dauerhafter Frieden kann letztlich nur ohne Waffen geschaffen werden. Gleichzeitig erkennen wir an, dass Europa in der aktuellen Weltlage die Fähigkeit zur Selbstverteidigung stärken muss, ohne sich auf externe Bündnispartner verlassen zu können.“

Mit einem solchen glasklaren Bekenntnis zu den gegenwärtigen Aufrüstungsbeschlüssen in Deutschland und Europa kann man sich also in den friedensbewegten Protest einreihen! Gleichzeitig wird hier der Aufwuchs zu einer europäischen Großmacht befürwortet, also die Weltmachtkonkurrenz, aus der seit über 100 Jahren die modernen Kriege hervorgehen, als das Feld der Politik benannt, das gewerkschaftliche Unterstützung verdient. Für Frieden setzt man sich so ein, dass man die Bemühungen der eigenen Nation „anerkennt“, mit einer gigantischen Aufrüstung eine Politik der Stärke zu realisieren. Die Tarifabschlüsse, die Verdi angesichts der neuen Leitlinie „Kanonen statt Butter“ zustandebringt, sehen dann auch entsprechend aus. Man denke nur an den Abschluss im öffentlichen Dienst – ein einziges „Armutszeugnis“!

Kritische Stimmen aus den Gewerkschaften gibt es aber noch – oder wieder – in der Republik. IVA hat schon mehrfach auf die Verdi-Opposition hingewiesen, die sich unter dem Aufruf „Sagt nein!“ zusammengefunden hat. Das Forum Gewerkschaftliche Linke Berlin vernetzt ebenfalls einen solchen Antikriegsprotest und lässt Einsprüche gegen den Kurs der Kriegsvorbereitung zu Wort kommen. Dort ist etwa im April die zweiteilige Reihe „Deutschland und Europa – Sieg ist möglich“ von Manfred Henle erschienen ( Teil 1: „Die frohe Botschaft- Russland ist besiegbar“, Teil 2: „Die Empfehlungen der Koalition der Freiheitsverteidiger“; Text auch bei Overton).

Henle macht darauf aufmerksam, dass die EU-Kommission jetzt unter dem ideologischen Propaganda-Schlagwort „RearmEurope“ (inzwischen abgeändert zu „Readiness 2030“) mit einer Wiederaufrüstung kommt – „als hätten Deutschland und Europa unter US-Führung jahrzehntelang etwas anderes gemacht als die konsequente militär- und geostrategische Vorwärts-Einkreisung der Sowjetunion und Russlands“. „Russia is not invincible… we also need to prepare for war… (and) we must prepare for the worst“, heißt es jetzt von der zuständigen Militär-Kommissarin der EU, Kallas, während man in Deutschland von CDU-Kiesewetter hört: „Russland ist besiegbar“. Und die Großsprecherei des Bundeskanzlers in spe, Merz, ist ja bekannt: „Angesichts der Bedrohungen unserer Freiheit und des Friedens auf unserem Kontinent muss jetzt auch für unsere Verteidigung gelten: whatever it takes.“

Koste es, was es wolle. Hier darf es keine Hindernisse geben. Jetzt zählt der Triumph des Willens. Und die Experten stimmen diesem Programm zu, wie Henle anhand eines aktuellen Positionspapiers der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) darlegt: „Die planmäßige Herbeiführung der ‚extremsten militärischen Eventualitäten‘ seitens Europas und seines notfalls auch ohne US-Führerschaft weltweit ausgreifenden NATO-Expansionismus eröffnet für die Entscheidungsbefugten über Krieg und Frieden in Gestalt der ‚Freiheitsverteidiger‘ die zwar nicht ganz neue, aber dennoch rhetorisch gestellte heiße Frage: ‚Abhängigkeit oder Selbstbehauptung: Deutschlands und Europas Rolle im 21. Jahrhundert entscheidet sich jetzt‘ (DGAP)“.

Was Henle herausarbeitet ist der traditionsreiche Wille der NATO, einen Systemrivalen auszuschalten. Das findet heute unter veränderten weltpolitischen Bedingungen seine Fortsetzung sowie seine planmäßige Vorbereitung. In den Klagen über eine „grenzenlose Aufrüstungsspirale“ (Verdi HH) wird dieser harte politische Gegensatz zum Selbstlauf von Rüstungsprozessen verfremdet, die dann als ein Aufgabenfeld für Abrüstungsmaßnahmen der eigenen Obrigkeit erscheinen. Eine solche Warnung vor einem allgemeinen Trend der „Militarisierung“, der irgendwie über die Menschheit und die Staatenwelt gekommen ist – etwa in Folge der „multiplen Krisenlage“, die den Globus beherrscht –, findet man aber auch in linken Aufrufen. So die Kritik des Zimmerwald-Komitees an einer Stellungnahme der Interventionistischen Linken, die kürzlich im Untergrund-Blättle ( „Nationalstaaten auffällig unbesprochen“, 15. April 2025) erschienen ist.

Die eingangs zitierte Erkenntnis „Militarisierung durchdringt alle zivilen Einrichtungen“ kann man nicht bestreiten. Fatal wird es aber, wenn dies wie zu den legendären Zeiten des Ost-West-Gegensatzes als die Fehlentwicklung eines Rüstungswettlaufs beklagt wird, den die Politik doch bitte wieder in den Griff bekommen sollte.


Neues von Red & Black Books

Hermann Lueer betreibt in Hamburg den Verlag Red & Black Books. Hier eine Information zu den Neuerscheinungen.

Publikationen von Red & Black Books wurden bei IVA zuletzt im April 2024 vorgestellt (siehe Texte2024). Es ging dort vor allem um die Streitschrift „Klassenkampf und Nation“ des Rätekommunisten Anton Pannekoek aus dem Jahr 1912. Sie wurde im Gewerkschaftsforum als ein Blick zurück auf die Wende des Jahres 1914 vorgestellt, als sich die Arbeiterbewegung auf den Weg ins Zeitalter der Weltkriege begab. Die Neuausgabe der Streitschrift, so hieß es bei der Vorstellung, rufe eine historische Zeitenwende in Erinnerung, nämlich die Zäsur, als die Arbeiterbewegung ihre Kapitalismuskritik beendete und aus ihrer internationalistischen Programmatik heraus den Weg zur Bejahung der Nation fand, somit das „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) möglich machte.

Die Editionen zu Anton Pannekoek hat der Verlag in 2024 fortgesetzt, und zwar mit der dreibändigen Reihe „Die Grundlagen der sozialen Revolution“. Band 1 thematisierte „Die Arbeiterräte“, Band 2 „Das falsche Bewusstsein“. Band 3 folgte 2025: „Der Dritte Weltkrieg“ (siehe die Vorstellung unter Bücher). Pannekoek, der 1960 verstarb, hielt als eine Art Einzelkämpfer die Tradition des Rätekommunismus aufrecht. Zu den einschlägigen Veröffentlichungen aus dieser – nicht-leninistischen – Strömung des Marxismus gibt es auch die Website Rätekommunismus. Dort finden sich zahlreiche Neueditionen, z.B. Texte aus der alten „Rätekorrespondenz“.

Die Neuauflage der „Großen Depression“

Lueer hat 2016 das Buch „Das Gespenst der Deflation geht um“ veröffentlicht, in dem die strukturellen Widersprüche kapitalistischer Produktionsverhältnisse und deren Krisendynamik analysiert wurden. Das Buch liegt seit 2024 in einer Neuausgabe vor: „Große Depression 2.0 – Argumente gegen den Kapitalismus“ (ISBN 978-3-9823797-7-7, 147 Seiten, 10 Euro). Der Autor schreibt zu dieser Neuausgabe: Die Analyse der großen Wirtschaftskrisen – von der Weltwirtschaftskrise 1929 über die Ölkrisen der 1970er Jahre und die Finanzkrise 2008 bis hin zu den aktuellen Entwicklungen – verdeutlicht, dass kapitalistische Wirtschaftskrisen keine isolierten Ereignisse sind, sondern Ausdruck eines sich entwickelnden Widerspruchs der kapitalistischen Produktionsweise.

Klassische nachfrage- oder angebotsorientierte wirtschaftspolitische Maßnahmen – das will die Neuausgabe an verschiedenen Experten-Statements zeigen – können diesen Widerspruch nicht überwinden. Die Weltfinanzkrise von 2008 habe hier einen wirtschaftspolitischen Wendepunkt markiert, der das kapitalistische Dilemma immer deutlicher werden lasse: Trotz massiver staatlicher Rettungspakete und eines Paradigmenwechsels in der Geldpolitik (Null- und Negativzinsen, massive Anleihekäufe der Zentralbanken) konnte keine nachhaltige wirtschaftliche Erholung erreicht werden. Vielmehr führten diese Maßnahmen zu einem weiteren Anstieg der Staatsverschuldung im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung und zum Entstehen neuer Spekulationsblasen.

Lueer zitiert dazu die Aussagen von Marx und Engels aus dem Kommunistischen Manifest: „Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktionskräften; andererseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung der alten Märkte. Wodurch also? Dadurch, dass sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.“ Angesichts dieses Dilemmas kapitalistischer Produktion will „Die große Depression 2.0“ zwei mögliche Entwicklungspfade aufzeigen: eine zunehmend autoritäre Steuerung der Wirtschaft durch den Staat oder die Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse.

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Die Red & Black Books können über die Website https://redblackbooks.de/ direkt beim Verlag bestellt werden.


„Den Wahnsinn stoppen“ – Korrespondenz

Gegen den atemberaubenden Aufrüstungskurs formiert sich Protest in deutschen Gewerkschaften. IVA hat den Aufruf „Den Wahnsinn stoppen!“ unterstützt, gleichzeitig aber Kritik angemeldet. Das hat zu einer Korrespondenz unter Kriegsgegnern geführt, die IVA hier dokumentiert.

Kritische Gewerkschaftsinitiativen wie „Sagt nein!“ aus der Verdi-Opposition haben jüngst gemeinsam mit anderen oppositionellen Stimmen, vorwiegend aus dem antikapitalistischen Lager, den Aufruf „Gegen Krieg, Hochrüstung und Kriegswirtschaft!“ veröffentlicht. IVA hat diesen Aufruf unterstützt, aber auch Kritik angemeldet und diese im März unter „Den Wahnsinn stoppen!“ veröffentlicht. (Dort findet sich außerdem der eigene Aufruf von IVA „Gegen Kriegstüchtigkeit“, der Medien- und Kulturschaffende, Lehrkräfte, Seelsorger und sonstige Volkserzieher bzw. -betreuer dazu aufruft, dem neuen Leitbild der Kriegstüchtigkeit eine Absage zu erteilen.) Daraufhin gab es Einwände, die wir hier zusammen mit einer Stellungnahme von IVA veröffentlichen.

Post von F.H.

Liebe Genossinnen und Genossen, als einer der Initiatoren des Aufrufs „Den Wahnsinn stoppen!“ möchte ich auf eure kritischen Anmerkungen antworten. Der Aufruf versteht sich ausdrücklich als ein Beitrag, um Gräben zu überwinden. Und es ist genau so, wie ihr schreibt, dass ein solcher Aufruf notwendiger Weise ein Kompromiss ist und zugleich das Angebot beinhaltet, die weiter bestehenden Kontroversen auszutragen.

Ist das Kapital nicht an Krieg interessiert?

Ihr seht hier – pointiert ausgedrückt - einen Interessengegensatz zwischen Staaten und Kapitalisten. Wenn die Kapitalisten die herrschende Klasse sind und sich heute den Staat nicht nur untergeordnet haben, sondern auch mit ihm verschmolzen sind, dann gibt es einen solchen grundlegenden Unterschied nicht. Wenn der Blackrock-Manager Friedrich Merz Bundeskanzler wird, dann streift er seine Mission als Vertreter des Finanzkapitals nicht ab, sondern vertritt sie in einer neuen Rolle weiter. Dem liegt die Gesetzmäßigkeit des Imperialismus zu Grunde, dass Kapital expandieren muss und dass die Welt unter den Monopolen und Staaten bereits aufgeteilt ist. Wenn sich die Stärke der verschieden imperialistischen Gruppen verändert, dann wird die Aufteilung der Welt notwendigerweise in Frage gestellt. Heute ist es so, dass Maximalprofit nur mit einer weltmarktbeherrschenden Position erzielt werden kann. Die Neuaufteilung wird verfolgt mit wirtschaftlichen, diplomatischen und schließlich unweigerlich mit militärischen Mitteln. Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Wenn also das Kapital als herrschende Klasse die Politik dirigiert, dann gibt es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Profitinteressen und Krieg. Das war zur Zeit Heartfields bereits richtig – die führenden Monopole wollten den Krieg gegen die Sowjetunion – und ist es heute noch mehr.

Faschisten verbieten?

Ich stimme eurer Ausgangsthese vollkommen zu, dass bürgerliche Demokratie und Faschismus zwei Formen bürgerlicher Herrschaft sind. Es entspricht dieser Tatsache, dass heute auch bürgerliche Demokraten mehr und mehr faschistoide und faschistische Elemente in ihrer Politik verfolgen. Man kann das Rechtswende nennen oder auch Faschisierung des Staatsapparats. Ihr fragt nun, an wen sich die Forderung des Verbots faschistischer Parteien richtet. An den Staat natürlich, konkret an die Regierung. An wen soll sich eine politische Forderung sonst richten? Wenn man es ablehnt, vom Staat demokratische Rechte und Freiheiten zu fordern, dann begeht man genau den Fehler, den Lenin so vehement kritisiert: Man verzichtet darauf, um die Möglichkeit offener politischer Betätigung der Arbeiterklasse zu kämpfen. Es ist eben für die Arbeiterklasse nicht egal, ob bürgerliche Demokratie oder Faschismus herrscht, ob man sich legal versammeln und organisieren kann, denn ein solcher politischer Reformkampf ist eine Schule des gesellschaftsverändernden Kampfes und zielt auf Bedingungen für diese Schule ab.

Ich bin für das Verbot faschistischer Parteien auf der Grundlage des Potsdamer Abkommens, welches die NSDAP und alle Nachfolgeorganisationen verbietet. Diese Bestimmungen sind Bestandteil des Grundgesetzes geworden und können von der Regierung ohne ein Verfahren beim Bundesverfassungsgericht umgesetzt werden.

Eure Begrifflichkeiten zur AfD als „rechtspopulistische Querschläger“, „Störenfriede“ oder „Vertreter eines dissidenten Standpunkts“ finde ich irritierend, weil genau so eine verharmlosende Begrifflichkeit heute von der verharmlosenden bürgerlichen Propaganda geprägt werden. Wenn ihr der Ansicht seid, dass die AfD keine faschistische, sondern eine „rechtspopulistische“ Partei sei, dann würde sich die Forderung nach einem Verbot erübrigen. Dem ist aber nicht so.

Eine Antwort von IVA

Hallo F.H., danke für Deine Anmerkungen zu unserer Kritik am Flugblatt „Den Wahnsinn stoppen“. Du gehst auf zwei Aspekte ein, die Dir bei den Ausführungen nicht einleuchten. Dazu einige Überlegungen.

Zum ersten Punkt: „Ist das Kapital nicht an Krieg interessiert?“

Der Interessengegensatz zwischen Staaten und Kapitalisten ergibt sich aus den jeweils unterschiedlichen Zwecken, die sie verfolgen. Jeder Kapitalist strebt nach größtmöglichem Profit – gegen seine Konkurrenten im In- und Ausland. Entsprechend haben Unternehmen nur ihre Bilanzen im Blick und sind daran interessiert, dass ihnen dafür die besten Bedingungen geschaffen werden. Und zwar im Inland vom Staat mit dem Schutz des Eigentums, der Scheidung von Besitzern von Produktionsmitteln und Besitzlosen, die nur ihre Arbeitskraft haben, und mit der Herstellung materieller Bedingungen (siehe weiter unten). Gegenüber dem Ausland soll der Staat beste Bedingungen für Im- und Export herstellen, für die Nutzung von Arbeitskräften im Ausland, für Investitionen, für den Abtransport von benötigten Rohstoffen usw. Dabei stößt jeder Staat natürlich auf das ähnlich gelagerte Interesse der restlichen Staatenwelt, wo es immer darum geht, dass das eigene Kapital sich möglichst viele Vorteile aus den auswärtigen Geschäftsbeziehungen verschafft. Am Ende entscheiden die ökonomische und die sie flankierende militärische Gewalt, wer den Kürzeren zieht. Deutschland z.B. ist nicht „Exportweltmeister“ geworden, weil hierzulande so nette, disziplinierte und schlaue Menschen leben… Aber wem sagen wir das.

Soweit das grundsätzliche Interesse des Kapitals. Die Geschäfte sollen laufen, Störungen jeglicher Art sind nicht erwünscht. So sieht das auch der jeweilige Staat, der seine Kapitalisten tatkräftig dabei unterstützt. Damit erschöpft sich aber der Job der herrschenden Politik nicht. Diese will und muss die Bedingungen dafür schaffen, dass die gesamte Akkumulation funktioniert, die Wirtschaft kontinuierlich wächst. Um elementare Dinge wie Gesundheitsversorgung, Infrastruktur (der gegenwärtige Schlager neben Rüstung), Energie, Bildung und Forschung, die dafür notwendig sind, kümmert sich der einzelne Kapitalist nicht. Und auf so Sachen wie Arbeits- oder Umweltschutz und vor allem Sozialleistungen kommt ein Unternehmer ohne Druck der Politik schon mal gar nicht. Der Staat handelt hier im Sinne des Kapitals im Allgemeinen, denn er erhält damit den Unternehmen die Masse an Arbeitskräften, die sie für eine dauerhaft erfolgreiche Ausbeutung brauchen. Allerdings muss er eben dafür diesen Unternehmen Auflagen erteilen, damit sie dem Folge leisten. Weil sie aus ihrem Geschäftsinteresse heraus die damit verbundenen Kosten freiwillig nie aufbringen würden.

Der Staat zwingt also mit Gesetzen und Verordnungen sein Kapital, dem in seinem Sinne übergeordneten Interesse an den Bedingungen der Akkumulation Rechnung zu tragen. Der Staat fungiert als „ideeller Gesamtkapitalist“. Und insofern setzt er sich mit diesem übergeordneten Standpunkt gegen Einzelinteressen von Unternehmern durch. Regelmäßig abzulesen an den Klagen der Wirtschaftsverbände über zu hohe Belastungen durch Steuern und Abgaben, zu viele Vorschriften und überhaupt eine „verfehlte Wirtschaftspolitik“ – ganz gleich, wer gerade in der Regierung am Ruder ist, der Ruf nach Bürokratieabbau passt immer.

Auch ein ehemaliger Blackrock-Aufsichtsrat Friedrich Merz wird als Bundeskanzler diese Perspektive des „ideellen Gesamtkapitalisten“ einnehmen. Das geht auch gar nicht anders: Dafür sorgen Grundgesetz und alle sonstigen rechtlichen und administrativen Grundlagen des deutschen Staates. Die Kapitalisten ordnen sich nicht den Staat unter. Sie sind vielmehr die Lieblingsbürger, weil sie für den Reichtum und damit die Macht der herrschenden Politiker sorgen. Entsprechend werden sie hofiert, dürfen auch um besondere Berücksichtigung ihrer Einzelinteressen konkurrieren ( Lobbyismus) – aber werden auch dort in ihre Schranken gewiesen, wo sie den staatlichen Interessen, siehe oben, im Wege stehen.

Das kann dazu führen, dass gedeihliche Wirtschaftsbeziehungen zerstört werden. Bestes Beispiel der Ukraine-Krieg: Das Russlandgeschäft vieler Unternehmen wurde von der Bundesregierung gestoppt, der größte Gasversorger Uniper stand vor der Pleite, und mit günstiger Energie für die Wirtschaft war Schluss. Weil eben der deutsche Staat entschied, in diesem Krieg einzugreifen auf Seiten der Ukraine – auf dass der Kontrahent Russland, den Deutschland und die deutsche EU als Konkurrenten um die Macht auf dem europäischen Kontinent ausgemacht haben, möglichst großen Schaden nimmt. Und es akzeptieren muss, vor seiner Haustür einen schwer bewaffneten, gegen ihn gerichteten NATO-Stützpunkt zu bekommen. Für diesen Zweck ist Deutschland tatsächlich bereit, gewichtige wirtschaftliche Verluste zu erleiden. Und es zwingt das Kapital, diese hinzunehmen. Und das ist kein Novum einer zugespitzten weltweiten Krisenlage. Auch früher schon hat der deutsche Staat etwa seine Textilindustrie geopfert, um Zugang zu auswärtigen Märkten zu erhalten.

Insofern sind wir nicht Deiner Meinung, Kapital und Staat seien miteinander „verschmolzen“. Um im Bild zu bleiben: Sie sind schon zwei verschiedene Parteien, aber Kumpane im Interesse an möglichst großem Gewinn. Die einen sorgen für die bestmöglichen Rahmenbedingungen, auch gegen einzelne Unternehmer-Interessen, damit die Wirtschaft insgesamt, wie es so euphemistisch heißt, „wächst“.

In puncto Krieg sind dementsprechend die Interessenlagen ebenfalls nicht gleich. Die Zerstörung von Mensch und Material ist kein „Geschäftsmodell“. Selbst die Rüstungsindustrie hätte kein Problem damit, endlos weiter Panzer und Raketen zu produzieren, wenn nur die Aufträge kommen. Was damit passiert, hat keinen Einfluss auf die Bilanz. Im Gegenteil: Im Kriegsfall würden zwar die Aufträge nicht versiegen, dürfte aber auch die Gefahr steigen, von Bomben und Raketen vernichtet zu werden. Und der Auftraggeber kann ausfallen, wenn er den Krieg verliert. Für die zivile Wirtschaft bedeutet Krieg den Einbruch vieler Geschäftsbeziehungen, den Verlust an Arbeitskräften, die Zerstörung von Betrieben und Ressourcen. Krieg ist für sie geschäftsschädigend, nicht fördernd. Natürlich, wenn es um „das große Ganze“ geht, ordnen sich die national gesinnten Manager den Ansagen „von oben“ unter. Wiewohl sie, wie Du weißt, von ihrem Interesse an weltumspannendem Geschäft her „vaterlandslose Gesellen“ sind. Ein Zähneknirschen ist dann gelegentlich bei manchem Unternehmenslenker nicht zu überhören: die schönen Märkte im Osten nicht vergeigen und China bitte nicht zu sehr reizen!

Soweit erst einmal zum Interessengegensatz zwischen Staaten und Kapitalisten. Über das Thema Macht der Monopole, Verdienste der Heartfield-Brüder oder überhaupt den Zusammenhang von Geschäft und Gewalt können wir uns gern noch gesondert austauschen. Hier nur unser Versuch, die grundsätzlichen Einwände zu erläutern.

Zum zweiten Punkt: „Faschisten verbieten?“

Warum halten wir es für keine gute Idee, dem Staat ein Verbot der AfD anzutragen? Zunächst einmal von der logischen Seite: Man lehnt bürgerliche Herrschaft ab, bittet bzw. unterstützt sie indes dabei, einen Konkurrenten um eben diese Herrschaft zu eliminieren? Das passt schon mal nicht zusammen.

Was haben Gegner dieses Herrschaftsapparates davon, sich in den Wettbewerb der Parteien um ihn einzumischen? Da meinst Du: Durchaus vorteilhaft, weil in der Demokratie kann die Arbeiterklasse sich offener politischer Betätigung erfreuen, im Faschismus nicht. Ergo müsste man sich für die Demokratie als bessere Bedingung des Klassenkampfs einsetzen. Da malst Du ein ziemlich rosiges Bild der hiesigen Verhältnisse: Ein politischer Generalstreik ist hierzulande sowieso verboten, Klassenkampf, das wissen alle, passt überhaupt nicht mehr in unser Gemeinwesen. Gegen Demonstrationen wird eingeschritten, wenn sie der „Staatsräson“ zuwiderlaufen – Stichwort Gaza-Krieg –, und unliebsame Stimmen verlieren ihren Job oder Redner ihre Auftrittsmöglichkeiten – Stichwort „Putin-Versteher“. Erinnert sei nur daran, wie in Berlin behördlicherseits die UN-Sonderberichterstatterin für die Palästinensergebiete, Francesca Albanese, daran gehindert wurde, öffentlich aufzutreten, sodass sie letztendlich zu einem linken Podcastsender wechseln musste. Was in dieser Demokratie wohl los wäre, wenn die Gewerkschaften es tatsächlich darauf anlegten, dass alle Räder still stehen, weil ihr starker Arm das will und kann?

Gut, im Faschismus würde der Staat gar nicht erst darauf vertrauen, dass die Gewerkschaften weiter so brav alles mitmachen. Er würde sie einfach zur Sicherheit gleichschalten, wie damals im Dritten Reich. Das funktioniert aber nur, wenn die Masse der Werktätigen und ihre Organisationen das mitmachen – wie damals die Gewerkschaftsbewegung in der Deutschen Arbeitsfront. Es muss ihnen einleuchten, dass „die Nation“ jetzt über alles geht und daher jeglicher Zweifel oder Widerstand gegen die wirtschaftliche und militärische Aufrüstung zu unterbinden ist. Kommt Dir das irgendwie bekannt vor? Ach, das beschreibt ja die aktuelle Propaganda zur Kriegsertüchtigung der Deutschen! Ganz ohne Faschismus wird gerade das Volk auf Krieg und die damit zusammenhängenden „Opfer“ eingestimmt.

Und diesen Herrschaften soll man darin folgen oder sie drängen, die AfD zu verbieten? Das ist eine Option, über die die etablierten Parteien einerseits ja durchaus selbst laut nachdenken, und zwar als Mittel gegen eine unangenehme neue Konkurrenz. Andererseits stimmen sie in ziemlich vielen politischen Ansichten mit der AfD überein und haben sich in der Migrationsfrage für einen Überbietungswettbewerb im Wahlkampf entschieden. Aber auch in der Wirtschafts- und Sozialpolitik trifft das zu, genau so beim Anliegen, eine starke Bundeswehr zu haben. Ist es nicht vielleicht so, dass an der AfD (neben dem, dass man sie sich als Konkurrenz nicht bestellt hat und nur zu gerne wieder loswerden möchte) vor allem eines stört: dass sie eine alternative außenpolitische Linie verfolgt und die kompromisslose Feindschaftserklärung an Russland nicht teilt (ebenso wenig wie das BSW)? Dass sie also in den Streit um die deutscheuropäische Führungsrolle eine momentan störende Disruption einbringt?

Was an der AfD „faschistisch“ oder „faschistoid“ ist, können wir gern noch einmal gesondert besprechen. An dieser Stelle nur der Hinweis: Auch diese Partei will ein mächtiges und reiches Deutschland, das auf prächtiger Ausbeutung des arbeitenden Volks und auf das Grundgesetz baut. Und auch diese Partei wird sich aller Mittel bedienen, Widerstand dagegen auszumerzen. Wie es die anderen Parteien tun, wie es kurz nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Verbot der KPD geschah. Auch Letzteres – als Leistung einer frisch gebackenen Demokratie – sollte zu denken geben, wenn man als Linker das Verbot einer rechtsradikalen Partei fordert. Das käme eh als eine Maßnahme gegen Extremismus und dann weiß man als Linker, was folgt…


Pavet ablata – Europa in Angst

Die IVA-Feuilleton-Redaktion hat einen 20 Jahre alten Text ausgegraben, der damals zu einer – mittlerweile vergessenen – europäischen Affäre erscheinen sollte und der hier zum ersten Mal veröffentlicht wird.

2024 verstarb im Alter von 79 Jahren der Kommunist und Avantgardist Hans-Joerg Tauchert (https://www.kunstforum.de/nachrichten/hans-joerg-tauchert-gestorben/), der an zahlreichen Projekten und Aktionen beteiligt war und der von 1992 bis 2005 die avantgardistische Kunstzeitschrift „Der Stillstand“ (https://www.derstillstand.de/) herausgab. In der letzten von ihm verantworteten Ausgabe Nr. 13 erschien von Hans Lukas der Beitrag „Die dunkle Seite der Macht – Das Imperium schlägt seine Verfassung vor“, der sich mit dem eigenartigen Fall befasste, dass angeblich ein – nicht existentes – europäisches Volk dabei war, sich eine Verfassung zu geben. Der „Stillstand“-Artikel bemerkte dazu eingangs:

Die Verfassung, die wir haben, heißt Demokratie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist. – So beginnt, ungelogen, der Vorspruch zur Präambel des Entwurfs eines Vertrags über eine Verfassung für Europa. Zitiert wird der 2.500 Jahre alte Kriegsberichterstatter Thukydides, der damals mit seinen Reportagen vom peloponnesischen Schlachtfeld Furore machte – und noch heute von nachdenklichen Weltherrschaftsstrategen gerne gelesen wird. Denn unser europäisches Erbe hat ja so viele Denkanstöße zu bieten! Wie damals Athen, so kämpft heute Brüssel für die Einigkeit des Staatenbündnisses und gegen die böse Gegenmacht von Dark Vader und Konsorten…“

Ein weiterer Beitrag von Hans Lukas, der an die fast zu einer Staatskrise hochgekochte Affäre um den belgischen Kinderschänder Dutroux anknüpfte, konnte damals nicht erscheinen und wird hier zum ersten Mal veröffentlicht.

Pavet haec litusque ablata relictum respicit

„Es zagt die Entführte und blickt zum verlassnen Ufer zurück“, übersetzt Erich Rösch Ovids Metamorphosen (II. Buch, Vers 873f), nämlich den Schluss des Berichts einer berühmten Entführung. Göttervater Zeus taucht am phönikischen Strand auf, in einen Prachtstier verwandelt, und becirct Europa, die junge Tochter des Königs Agenor, auf Bullenart, mit strammen Schenkeln, weichen Weichteilen etc. Seine gierige Zunge macht die Jungfrau an, sie greift ihm an die Hörner, wirft sich auf seinen Rücken, und, zack, hast du nicht gesehen, setzt sich der Stier mit seiner süßen Last in Bewegung, mitten in die Brandung hinein und immer weiter, immer weiter.

So fing alles an. Europa, das Abendland, die Wiege der Zivilisation. Vom Frauenraub zur Kopfgeburt Pallas Athene, von Pontius zu Pilatus, von der Völkerwanderung zur industriellen Revolution, von dort zum Moloch Brüssel mit seinen Bullenzuchtverordnungen und Strandbefestigungsvorschriften. Apropos Brüssel, was haben eigentlich die berüchtigten belgischen Verhältnisse für eine tiefere Bedeutung? Im Blick auf den Ursprung dürfte die Sache klar sein, Marc Dutroux ist ein wahrer Nachfahre des alten Gottvaters: Mädchen entführen, um mit ihnen bestialischen Sex zu machen, das ist Europa in nuce oder ab ovo, jedenfalls in Reinkultur. Ja, pavet ablata…

Aber will uns das der Mythos wirklich sagen? Glücklicher Weise gibt es die klugen Köpfe, die hinter der FAZ stecken. Einer von ihnen, der als besonders klug gilt, ist Dirk Schümer, Fachmann für Hochgeistiges, für europäische Fragen und darüber hinaus – wie das passt – für Belgien. Er hat das natürlich alles tiefgründig recherchiert und nicht nur 1997 ein Buch über Belgiens Obermonster Dutroux („Die Kinderfänger – Ein belgisches Drama von europäischer Dimension“) geschrieben, sondern 2000 den kompletten Hintergrund („Das Gesicht Europas – Ein Kontinent wächst zusammen“) gezeichnet. Das zweite Buch präsentiert denn auch gleich auf dem Umschlag eine nackte (blonde?) Europa, die ihrem Bullen den Bart krault, während im Hintergrund eine zerklüftete, hochhausgeschwängerte Zivilisation dräut. Alles klar!

Oder doch nicht. Denn bei der Lektüre verwirrt sich das seltsam, der Tiefsinn reicht dem Schwachsinn die Hand, aus der arschnackten Oberflächlichkeit des Feuilleton-bedingten Zusammenschreibens und Anreicherns von Tagesmeldungen über belgische Kriminalaffären stürzt man in Abgründe mythologischer oder verschwörungstheoretischer Art, so dass man sich in Zusammenhänge und Netzwerke verstrickt wie weiland Agamemnon ins Netz der Klytämnestra, die dann später mit Medea und Prokne die erste hellenistische Kinderschänder-Organisation gründete. Aber der Reihe nach, so weit das bei Schümer geht.

Ja, Europa ist erlegen -
Wer kann Ochsen widerstehen?
(Heinrich Heine, Mythologie)

„Es sollen die lieblich mediterranen Gestade der Insel Kreta gewesen sein, an der Zeus, der sich aus erotischen Gründen gerade einmal in Form eines zahmen Stiers manifestierte, mit seiner reizenden Auserkorenen, der Königstochter Europa, anlandete. Er hatte sie am Strand von Phönizien, also im heutigen Libanon entdeckt, sie kurzerhand zwischen die Hörner genommen und war mit dem irritierten Mädchen westwärts in die untergehende Sonne geschwommen – eine beachtliche konditionelle Leistung.“ (Das Gesicht Europas) Stimmt, das war schon eine Leistung: auserkoren, zwischen die Hörner genommen und nach Kreta expediert. Da wird das entführte Mädchen sicher irritiert geguckt haben, um das Mindeste zu sagen. Aber was will uns das Ganze sagen? Schümer fährt fort:

„Am Strand der griechischen Kultur also entstieg eine orientalische Schönheit – wir dürfen in ihr getrost den ersten, wenn auch unfreiwilligen Bootsflüchtling sehen – den Fluten des Mare nostrum und sicherte dem Kontinent damit ein Fortleben jenseits der Barbarei.“ Na ja, die griechische Kultur, weil von Fräulein Europa und ihrer Sippschaft begründet, kam eigentlich erst später. Schümers „sichern“ ist da etwas rätselhaft, vor allem, wenn man den Inhalt betrachtet: Der Kontinent hat seitdem „jenseits der Barbarei“ fortgelebt. Sind wir hier schon wieder im Reich der Mythologie? Hat der Autor die nachfolgenden Monster – Hitler, Stalin, Dutroux, Ulla Schmidt – vergessen? Anscheinend nicht, denn auf europäische Monstrositäten wie das schwere Los der Bootsflüchtlinge wird angespielt. Solch ein Flüchtling soll die phönikische Königstochter gewesen sein, wenn auch unfreiwillig – wohl im Unterschied zu den heutigen boat people, die sich ganz freiwillig aufmachen, um irgendwo anzulanden, gelegentlich auf dem Grund des Golfs von Otranto. Also sagt der Mythos recht besehen Folgendes: Ihr Barbaren, lasst die Barbarei sein und kommt zu uns, zur Wiege der Zivilisation!

Aber so einladend will Schümer nicht sein, er schreibt schließlich für ein nationales Blatt. Und realistisch betrachtet fallen ihm doch noch einige unschöne Seiten ein: „Die platte Deutung des Mythos, gemäß derer aus der machtvollen Zeugungskraft eines europäischen Zuchtstiers und der zierlich-verwöhnten Schönen aus dem Morgenland nichts anderes als eine Missgeburt entsprießen konnte, verbieten wir uns hier. Die Griechen jedoch schrieben dem Paar Europa-Zeus als Erstgeburt das Monstrum Minotaurus zu; dieser Mischling aus Vieh und Mensch machte den Kretern lange das Leben schwer, bis ihn der griechische Held Theseus mit Hilfe des Ariadnefadens in seinem Labyrinth aufstöberte und erlegte. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte, und es gibt von ihr, wie immer, wenn es um Europa geht, die verschiedensten Versionen.“

Das ist in der Tat eine andere Geschichte, die Schümer hier auftischt. Der Erstgeborene von Zeus-Europa war Minos, der spätere Herrscher über Kreta und düstere Unterweltsrichter, und da gibt es verschiedene Versionen. Bei Ovid klagt jedenfalls die von Minos schmählich zurückgelassene Königstochter Skylla, der Kreter sei gar kein Göttersproß, sondern ein dreckiger Bastard: Die Mutter habe sich mit einem ordinären Rindvieh eingelassen, so dass der Junior besonders unausstehlich wurde, was sogar seine Gattin Pasiphae abstieß und – wer hätte das gedacht – in die Arme eines Stiers trieb. Bei der diesbezüglichen Begattung gab es natürlich Probleme. Der geschickte Dädalus schaffte Abhilfe, baute eine hölzerne Kuh, in der sich Pasiphae versteckte, bis die Besamung gelang. Daraus ging dann besagter Minotaurus hervor, der von Theseus ausgeschaltet wurde, weil er den Griechen, speziell den Athenern, das Leben schwer machte. Da ist sich das Altertum ziemlich einig, auch wenn Ovid mitunter an dem überlieferten Quark zweifelt. (Die FAZ aber vom 24.3.04 weiß es genau: „Die minoische Kultur machte Kreta vor neuntausend Jahren zur Wiege Europas. So erzählt es der Mythos…“)

Immerhin, den Gedanken an ein monströses Europa hat Schümer aufgebracht, sich verboten und damit die Synthese seines Besinnungsaufsatzes eingeleitet: „Wie wir sehen, kommt aber schon zu Beginn einiges zusammen:“ (nämlich dann, wenn man Halbwissen, Beschönigungen und harte facts zusammenrührt) „Halb göttlicher, halb königlicher Abstammung, bereitet Europas Sippe sogleich Unfrieden und frühes Leid, fordert kriegerische Heldentaten und weibliche Listen heraus und richtet den Blick unverdrossen nach Westen. Der wahre Kern der Sache, den wir niemals aus den Augen verlieren sollten, liegt in der Herkunft unserer Zivilisation aus den orientalischen Hochkulturen mit ihren nützlichen und zukunftsweisenden Erfindungen wie Schrift, Mathematik, Astronomie, Landbau, Musik et cetera. Europa war und blieb lange ein Kind des Orients. Allerdings sollte es noch eine Weile dauern, bis sich diese kultivierte Lebensform in Europa bis zum Nordkap, bis Irland und in die Hochalpen, die der mächtige Galan Zeus der Königstochter verhießen hatte, durchsetzen konnten.“

Etwas verquer, auch syntaktisch. Die Hochalpen hatte Zeus der Königstochter verheißen, also prophezeit, versprochen? Aber halten wir uns an den wahren Kern. Von Anfang an ging es bunt zu, und der Ursprung hatte seine Vorgeschichte. Danke Geschichte! Ohne das Früher hätte es das Später nicht gegeben, und die kultivierte Lebensform hätte sich möglicherweise gar nicht über Jahrtausende durchsetzen müssen, um sich zum heutigen Niveau hochzuarbeiten – das dann aber immer noch an die Ursprünge gemahnt.

Die Vermutung, es existierten vollkommen reuelose
Gruppierungen, die ihr Hobby, Kinder zu missbrauchen und
zu töten, akribisch organisieren, die viel dafür bezahlen, die
sich gesellschaftlich so unerschütterlich wie effektiv helfen
und Gesetzeslücken wie die Milde des Rechtsstaates bewusst
einkalkulieren, trifft an die Wurzel unserer Zivilgesellschaft.
(Schümer, FAZ, 28.2.04)

Aber hallo, Schümer, die Wurzel unserer Zivilgesellschaft ist doch längst bloß gelegt. Es ist Zeus, der alte Schwerenöter, der Mädchenentführer und Kinderschänder. Siehe z.B. die Abteilung Päderastie in den Metamorphosen: „Für Ganymedes entbrannte in Liebe der Himmlischen König einst … und raubt den troischen Knaben, der jetzt noch im Becher den Trank ihm mischt und, Juno zu leide, den Nectar Juppitern einschenkt.“ (X, 155-161)

Was haben denn da die „Auswirkungen des liberalen Strafrechts in einer sich immer mehr kriminalisierenden Gesellschaft“ (Kinderfänger) zu suchen, wo man selbst in der FAZ („Dämonisierung des Bösen“, 5.3.04) nachlesen kann, dass heutzutage das Strafrecht immer antiliberaler wird und die Zahl der Straftaten abnimmt. „Eine Blütezeit für Kriminalität auf jedem Niveau steht dem vereinigten Europa bevor.“ So lautet das Fazit im Kinderfänger-Buch. Doch was hat das, wie kapitelweise ausgebreitet, mit „ineffizienten Bürokratien“, mit der „Durchdringung des Staatsapparates“ durch „Sonderinteressen“, mit „Politikverdrossenheit“ und „gesamteuropäischer Mafia“ zu tun? Was soll denn da die Hoffnung auf die „uralte Technik der europäischen Zivilisation: die Volksjustiz“ (FAZ, 28.2.04), die angeblich im belgischen System des Geschworenengerichts fortlebt?

Das ganze Projekt ist doch von Anfang an korrupt. In „Europas Sippe“ ist der Wurm drin, oder war die ganze historische Gewissenserforschung back to the roots umsonst? Nein, Europa ist nicht zu helfen. Am besten, der Kontinent wird unter die Kontrolle eines sittenstrengen Islam gestellt - denn aus dem Morgenland kommt schließlich die Hochkultur. Ex oriente lux, old europe goodbye!

(Anm. d. Red.: Die Erwähnung der Gesundheitsministerin Ulla Schmidt in der Aufzählung bekannter Monster verdankt sich wohl der Tatsache, dass sie damals im Rahmen der Agenda 2010 maßgeblich am „Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung“ beteiligt war, so dass seit 2004 auf die betriebliche Altersvorsorge der volle Krankenkassenbeitrag gezahlt werden muss, was viele Rentner ins Elend getrieben hat.)


März

Make Europe great again

Die Wiederaufrüstung Europas („Rearm Europe“, neuerdings „Readiness 2030“ genannt) ist seit März 2025 offizielles EU-Programm. Dazu einige Hinweise der IVA-Redaktion.

Anfang März 2025 stellte Kommissionspräsidentin von der Leyen ihr Maßnahmenpaket zur „Wiederaufrüstung Europas“ vor. Einige Tage später erfolgte die Vorlage des „Weißbuchs zur Zukunft der europäischen Verteidigung“, das von der deutschen Presse als eine Art Unabhängigkeitserklärung der EU gewertet wurde. EU-Außenbeauftragte Kallas hatte kurz zuvor mit Blick auf die transatlantischen Spannungen die (militärische) Marschrichtung vorgegeben: Mit den jüngsten Entwicklungen sei klar geworden, „dass die freie Welt einen neuen Anführer braucht. Es liegt an uns Europäern, diese Herausforderung anzunehmen“ (Junge Welt, 22./23.3.2025).

Die Welt verlangt, dass „wir“ in Europa – Deutschland voran – globale Verantwortung übernehmen. Ein Spruch über die einschlägigen Sachzwänge, den man von deutschen Politikern seit Jahren kennt und der als Selbstverständlichkeit durchgeht. Aber was sagt der wissenschaftliche Sachverstand zu den aktuellen Fortschritten?

Europa neu denken

Gerade hat Deutschlands angesagtester Polit-Vordenker Herfried Münkler sein Buch „Macht im Umbruch“ (Berlin 2025) vorgelegt und auf den verbreiteten Unfug hingewiesen, immer wieder eine „Zeitenwende“ oder einen „Epochenbruch“ auszurufen, da kommt Jürgen Habermas in der SZ (21.5.2025) mit einem Plädoyer für mehr Aufrüstung in Europa – eben wegen eingetretenem „Epochenbruch“. Einen Tag später lobt die FAZ (22.3.2025) Münklers Buch als „wertvollen Leitfaden“ für die neue Bundesregierung. Diese werde von dem Politologen nachdrücklich „ermahnt, Politik langfristiger anzulegen“, was im Klartext heißt, national wie im europäischen Verbund stetig aufzurüsten, whatever it takes. Die FAZ hofft, dass diese Mahnung ankommt, denn dann werde man zukünftig „in Deutschland weniger oft eiskalt erwischt werden, wenn die nächste Zeitenwende, der nächste Epochenbruch, die nächste neue Ära ausgerufen werden“.

Die Quintessenz der neuesten politikwissenschaftlichen Erkenntnisse heißt demnach „Mehr Kontinuität!“, d.h. kontinuierliches, machtvolles Aufrüsten, denn erst dadurch werde Sicherheit geschaffen im Blick auf „Deutschlands Rolle in Europa und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“ (so der Untertitel von Münklers Buch). Sich auf aktuelle Bedrohungen reaktiv zu beziehen und damit dem Volk die Verteidigungsnotwendigkeiten nahe zu bringen, greife zu kurz. Nach Münklers Überzeugung ist vielmehr „den längerfristigen Interessen Deutschlands gegenüber den kurzfristigen Wünschen und Bedürfnissen von Teilen der Bevölkerung eine ausschlaggebende Bedeutung beizumessen“ (FAZ). Sprich, Volkes Stimme kann und soll man dabei nicht groß berücksichtigen, die Interessen bestimmter Bevölkerungsteile (wer hier gemeint ist, kann man sich denken) müssen untergebuttert werden, wenn es um die Machtentfaltung des Staates geht. Das wird vor allem als Warnung vor den „Populisten“ ausgesprochen, von denen ein autoritärer Regierungsstil drohe, wenn sie mit ihrer Volksaufwiegelung Erfolg hätten. Vor deren Autokratie soll sich der demokratische Staat durch hartes Durchregieren schützen!

„Die Mitgliedsländer der Europäischen Union müssen ihre militärischen Kräfte stärken und bündeln, weil sie sonst in einer geopolitisch in Bewegung geratenen und auseinanderbrechenden Welt politisch nicht mehr zählen“, heißt es jetzt, Anno Domini 2025, bei Habermas. So weit besteht Übereinstimmung mit Münkler, bei dem es die äußeren Herausforderungen sind, die eine im Prinzip harmlose und (laut FAZ) „nackt“ dastehende BRD in die Bredouille bringen. Bei dem Politikwissenschaftler ist das jedoch als grundsätzliche Erkenntnis gemeint, als Aufklärung über eine kontinuierliche Anforderung, die von der Politik leider vernachlässigt wurde und wird, während der Nationalphilosoph Habermas die aktuelle „Spaltung des Westens“ seit dem Amtsantritt des neuen US-Präsidenten dafür verantwortlich macht. Etwas eigenartig übrigens, denn kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine war Habermas gerade mit der Forderung nach Verhandlungen hervorgetreten und dafür heftig kritisiert worden, also für das, was Trump jetzt in die Wege leitet. Habermas hatte auch an dieser Position festgehalten, so dass die FAZ noch letztes Jahr (faz.net, 31.8.2024) fragte, ob das „Altersstarrsinn“ oder „Prinzipienreiterei“ sei:

„Zum einen behauptet Habermas, dass der Westen durch seine Waffenlieferungen eine Mitverantwortung für den Fortgang und das Ende des Krieges hat; beides sei dadurch nicht mehr allein Sache der angegriffenen Ukraine. Und zum anderen wirft er dem Westen vor, diese Verantwortung zu verleugnen, indem er den Krieg seinem Selbstlauf überlasse und keine realistische eigene Vorstellung entwickle, was sein Ziel ist und wie er enden kann…“ Seinerzeit gestand FAZ-Autor Mark Siemons dem Votum von Habermas noch eine gewisse Berechtigung zu, da hier ein blinder Fleck der öffentlichen Debatte angesprochen sei: „Es werden überhaupt keine Ziele formuliert, auf was genau der Krieg realistischerweise hinauslaufen soll und nach welchen Kriterien ein Zustand erreicht sein kann, bei dem Verhandlungen als sinnvoll erscheinen.“

Jetzt zwingt ein Epochenbruch Habermas dazu, sich gedanklich umzuorientieren. Denn er muss feststellen, „die USA hätten trotz wirtschaftlichen Übergewichts ihren politischen Anspruch eines Hegemons aufgegeben“, was die EU vor die Frage stelle, ob sie „auf globaler Ebene als selbständiger militärischer Machtfaktor wahrgenommen werde“ (Deutschlandfunk, 22.3.2025). Bei der Führungsverantwortung sieht Habermas, wie der DLF weiter meldet, jetzt das entscheidende Defizit. Die EU könne „nur mit kollektiver Handlungsfähigkeit auch im Hinblick auf den Einsatz militärischer Gewalt geopolitische Selbständigkeit erlangen“, was natürlich die Souveränität der Bundesrepublik tangieren dürfte. Habermas‘ Schlussfolgerung, die gleich das nächste Führungsproblem anspricht, lautet daher: „Das stellt die deutsche Regierung freilich vor eine ganz neue Aufgabe. Dann nämlich muss sie eine politische Schwelle der europäischen Integration nehmen, auf deren Vermeidung gerade die deutsche Bundesregierung unter Schäuble und Merkel beharrlich bestanden hatte.“

Die Ideologie der Herausforderungen

Björn Hendrig hat am 30. März im Overton-Magazin den Beitrag „‚Krise‘ in Europa – für wen eigentlich?“ gebracht, der sich mit den neuesten europäischen Aufrüstungs-Anstrengungen seit Trumps Amtsantritt befasst. Die deutsche Polit-Elite habe nur einen Schluss aus dem Wechsel der US-Sicht auf den Ukraine-Krieg gezogen: „Wir machen weiter! Genauer: Lassen weiter machen. Die Ukrainer sollen möglichst lange weiter bluten, um Russland die ersehnte Niederlage beizubringen. So etwa bis 2029, dann müsste man mit der Aufrüstung gegen die Weltmacht im Osten fertig sein, rechnet Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius vor. Die EU gibt ihren Mitgliedsstaaten ein Jahr länger Zeit: Laut neuem Weißbuch zum Thema Verteidigung soll die Union bis 2030 die ‚volle Bereitschaft‘ erreichen“.

Dann, so Hendrig, könnte die Friedensmacht EU – wir erinnern uns: der Friedensnobelpreisträger des Jahres 2012! – „Russland auf Augenhöhe begegnen. Oder anders ausgedrückt: Diesem Land mit Aussicht auf Erfolg einen Krieg androhen. Wenn der dann gewonnen wird, irgendwie, mit Millionen Toten und weiträumiger Zerstörung des Kontinents, zieht endlich Frieden ein.“ Die EU sieht sich natürlich von vielen Seiten bedroht und bedrängt. Auch Handelskriege gehören dazu. Besonders die führenden Politiker aus Deutschland und Frankreich fürchten um die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Unternehmen gegenüber dem Kapital aus den USA und aus China. Das wirtschaftliche Dominanzstreben soll dabei immer von den anderen ausgehen und „uns“ vor Herausforderungen stellen. Weil das prinzipiell so ist, sieht Polit-Experte Münkler die eigentliche Aufgabe der Politik darin, sich auf Bedrohungen einzustellen, bevor sie eintreten.

Das heißt im Klartext, man muss andere bedrohen, damit diese keine Chance haben, uns in die Quere zu kommen. Aber Politiker formulieren es gern andersherum, weil sie – jedenfalls an dieser Stelle – nicht als Akteure, sondern lediglich als „Verantwortungsträger“ wahrgenommen werden wollen, als diejenigen, „die nun einmal auf ‚Herausforderungen‘ reagieren müssten. Dabei betreiben doch sie den Kampf um Reichtum und Macht gegen die anderen Staaten dieser Welt“, resümiert Hendrig. Und „dass die größeren Mächte dieser Welt sich gegen eine Niederlage wehren beziehungsweise ihrerseits neue Fronten aufmachen – sind halt ‚Herausforderungen‘“.

Das Europaideal von gestern

Die Bonner Politik-Professorin und Europa-Expertin Ulrike Guérot legt hier Widerspruch ein, und zwar im Sinne des früheren Ideals einer europäischen Friedensmacht. Guérot war von der Bonner Uni geschasst worden – angeblich wegen ein paar läppischen Zitat-Ungenauigkeiten (wie sie sich Habeck in seiner Dissertation zu Hunderten geleistet hat, aber mit der Ermahnung zum Nachbessern davon kam), in Wirklichkeit, weil sie dem NATO-Narrativ in Sachen Ukrainekrieg öffentlich widersprochen hatte. Jetzt, nach den jüngsten nationalen wie europäischen Aufrüstungsbeschlüssen, hat sie ein „European Peace Project“ (Website: https://europeanpeaceproject.eu/) gestartet, das am 9. Mai europaweit „ein Zeichen für die friedliche Zukunft Europas setzen“ will.

Das Manifest, das vom Peace Project vorgelegt wurde, hält fest: „Die EU, einst als Friedensprojekt gedacht, wurde pervertiert und hat damit den Wesenskern Europas verraten! Wir, die Bürger Europas, nehmen darum heute, am 9. Mai, unsere Geschicke und unsere Geschichte selbst in die Hand. Wir erklären die EU für gescheitert. Wir beginnen mit Bürger-Diplomatie und verweigern uns dem geplanten Krieg gegen Russland! Wir erkennen die Mitverantwortung des ‚Westens‘, der europäischen Regierungen und der EU an diesem Konflikt an.“ Der Forderungsteil will dann den Traum von Europa, den Guérot zusammen mit Hauke Ritz in ihrem viel beachteten Essay „Endspiel Europa“ vorgestellt hatte (vgl. IVA-Texte 2023 und 2024), wieder wahr machen: „Wir fordern ein neutrales, von den USA emanzipiertes Europa, das eine vermittelnde Rolle in einer multipolaren Welt einnimmt. Unser Europa ist post-kolonial und post-imperial. Wir, die Bürger Europas, erklären diesen Krieg hiermit für beendet! Wir machen bei den Kriegsspielen nicht mit. Wir machen aus unseren Männern und Söhnen keine Soldaten, aus unseren Töchtern keine Schwestern im Lazarett und aus unseren Ländern keine Schlachtfelder.“

Guérot bekennt sich zu einem Europaidealismus, der heute auf verlorenem Posten steht. So wollte ja auch ihr Essay der Frage nachgehen, „warum das politische Projekt Europa gescheitert ist und wie wir wieder davon träumen können“ (so der Untertitel des Buchs). Diese Vision einer kontinentalen Versöhnung wird natürlich von jedem der angesagten Politexperten in Deutschland als weltfremd und illusionär in die Ecke gestellt. Wenn allerdings ein Habermas mit dem alten Ideal der Vereinigten Staaten von Europa kommt, nämlich mit der Aufforderung, die deutsche Politik müsse endlich die „politische Schwelle der europäischen Integration nehmen“, die bisher immer vermieden wurde, dann gilt das als Realismus, wird jedenfalls als bedenkenswertes Statement aufgenommen. Das verdient nicht von vornherein das Etikett „weltfremd“, wird doch hier das Ideal einer starken Führungsmacht beschworen.

Und dieses Ideal haben auch die maßgeblichen Europapolitiker – übrigens schon lange, bevor Trump an die Macht kam – auf dem Schirm. Renate Dillmann und Johannes Schillo zogen in ihrem Artikel „Make Europe great again“ (Konkret, 12/23) über den zerstrittenen europäischen Haufen bereits vor anderthalb Jahren das Fazit: „Mehr rücksichtslose Durchsetzung nach innen, Streit um die Führung innerhalb der EU und Kampf um die Vormacht nach außen, mehr Aufrüstung, mehr Militanz – das ist die Konsequenz, die alle EU-Mitglieder ziehen. Darin wenigstens ist diese Gemeinschaft einig.“


Olé, wir verweigern uns!

Unterstützt die CSU die Werbung für Ole Nymoens neue Streitschrift gegen die Vaterlandsverteidigung? Zu dieser und anderen Fragen hier einige Hinweise der IVA-Redaktion.

Mit den Aufrüstungsplänen der alten/neuen Bundesregierung ist das Thema Wehrdienst wieder auf der politischen Tagesordnung. Die Wehrpflicht, darauf hat IVA Anfang des Jahres aufmerksam gemacht, wird wiederkommen – erneuert, erweitert, verbessert, wie auch immer. Denn dafür gibt es, jedenfalls im Grundsatz, seit dem letzten Jahr eine große christ- und sozialdemokratische Einigkeit. Im CDU/CSU-Wahlprogramm wurde eine aufwachsende Wehrpflicht gefordert. Und das Verteidigungsministerium arbeitet auf Anweisung von Pistorius seit Dezember 2024 daran, „die Parameter zur Einführung eines neuen Wehrdienstes weiter auszuplanen und gemeinsam mit der Umsetzung zu beginnen“. Jetzt hat die CSU noch einmal besonderes Tempo angemahnt: „Wir müssen so schnell wie möglich abschreckend sein“. Möglichst schon 2025 sollte der Wehrdienst starten.

Die Junge Union braucht da ihre Mutterparteien nicht groß zu drängen. „Bitte seid ehrlich zu uns“, vermeldet sie ( Spiegel): „Die Wehrpflicht wird kommen“. Weil diese aber die Jungen betreffe, brauche es einen „fairen Lastenausgleich“ bei der Finanzierung der Verteidigung. Das Geld ist ja kein Problem, wie man neuerdings erfährt. Die Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högel (SPD), ist nur etwas skeptisch, was die Wiedereinführung des alten Modells betrifft. Aber sie erklärte gleich bei der Vorlage ihres Jahresberichts 2024, dass „es in naher Zukunft irgendeine Form von neuem Wehrdienst geben“ werde (Junge Welt, 12.3.25). Zunächst sei der Aufbau einer Wehrerfassung gefragt, „etwa auch von Frauen, die nach wie vor nicht in Massen in den Wehrdienst strömen“.

Das Interesse an diesem speziellen Job ist nämlich überhaupt nicht groß. Högel betonte die Personalnot der Bundeswehr, wegen der zuletzt auch wieder mehr Minderjährige rekrutiert wurden. So etwas geht in den deutschen Leitmedien ohne große Beanstandung durch, während sie sich bei Bedarf über „Kindersoldaten“ in Afrika heftig aufregen können. Proteste wie die vom Bonner Friedensforum veranstalteten Mahnwachen – Motto: „Nie wieder dürfen Kinder eingezogen werden“ – stoßen da beim Publikum auf großes Erstaunen, dass es so etwas in Deutschland gibt. Bei dem angeworbenen Nachwuchs ist übrigens, wie Högel neben anderen Vorfällen aus dem Bundeswehralltag mitteilte, eine hohe Abbruchquote zu verzeichnen. Insgesamt liegt sie im Berichtszeitraum bei 27 %.

Kein Menschenrecht wie alle anderen

Wo die Pflicht, fürs Vaterland Kriegsdienst zu leisten, auf die Tagesordnung gesetzt wird, kommt natürlich das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung (KDV) wieder zu politischer Bedeutsamkeit. Das gibt es ja in Deutschland, wo dem Weltkriegs-Verlierer einst eine Entmilitarisierung verordnet und ein Artikel 4,3 („Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden“) im Grundgesetz zugestanden wurde. Das Recht besteht auch bei ausgesetzter Wehrpflicht fort und wird, zum Leidwesen der Regierenden, sogar in Anspruch genommen, nämlich von Soldaten und Soldatinnen, die Dienst tun, sowie von Reservisten. In der Friedensbewegung wird über diese Option diskutiert, deren Zeitschrift Friedens-Forum hat das in der Nr. 2/25 zum Schwerpunkt gemacht.

Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ist allerdings kein Bestandteil des klassischen Menschenrechtskatalogs. Im FriedensForum zeichnet Martin Singe die Bemühungen verschiedener Initiativen nach, der Verweigerung einen verbrieften internationalen Status als Menschenrecht zu verschaffen. Unter den Experten ist das bislang umstritten, eine Mehrheit dafür gibt es nicht. Im herrschenden internationalen Rechtsverständnis zeige sich aber eine Tendenz, die die herrschende Meinung in Frage stellen könnte. Zudem fänden sich für den notwendigen „Kampf um das Recht“ diverse Anknüpfungspunkte, so im „Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ der UN, der die Gewissensfreiheit der Bürger stärken will. Nur hat er den Schönheitsfehler, dass dass Recht auf KDV in dem Pakt nicht explizit genannt ist. Interpretationspielraum ist hier, wie Singe belegt, natürlich gegeben. Singe verweist jedoch gleichzeitig auf einen entscheidenden Sachverhalt, der den Grundrechtscharakter der KDV in Deutschland betrifft: Dieses Recht (im GG seinerzeit mit dem Satz „Das Nähere regelt ein Bundesgesetz“ angekündigt) wurde in Rahmen der Wiederbewaffnung der 1950er Jahre bewusst in das „Wehrpflichtgesetz integriert und damit der Wehrpflicht untergeordnet“.

Was das für praktische Konsequenzen hat, konnte man jüngst erfahren, nämlich im Kontext eines Beschlusses zur Abschiebung eines ukrainischen Kriegsdienstverweigerers, über den die Nachdenkseiten berichteten. Der Bundesgerichtshof hielt die Abschiebung des Verweigerers in ein Kriegsgebiet für rechtens. Damit hat er einen Beschluss mit „politischer Handschrift“ gefasst, der weitreichender kaum sein könnte. So der Kommentar des Juristen René Boyke, der sieben Jahre für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gearbeitet und sich mit Asylfällen und Abschiebungen auseinandergesetzt hat. Laut Boyke hat der BGH hier etwas entschieden, was unterm Strich auch weitreichende Konsequenzen für deutsche Kriegsdienstverweigerer habe: Im Falle eines Krieges wäre das Recht auf Verweigerung nicht mehr gegeben, Verweigerer müssten sich den Kriegsnotwendigkeiten unterordnen!

Eine Streitschrift zur Großen Weigerung

Der IVA-Text vom Januar „Was verweigern eigentlich KDVler?“ hatte bereits auf die Position von Ole Nymoen aufmerksam gemacht, der zusammen mit Wolfgang M. Schmitt den Videopodcast Wohlstand für alle betreibt. Dort war Ende 2024 die „Große Weigerung“ Thema, die Herbert Marcuse seinerzeit der 68er-Bewegung ans Herz gelegt hatte. Die jungen Podcastbetreiber sahen hier einen Anknüpfungspunkt – die Idee einer breiten Bewegung betreffend, die sich in politischen, sozialen, kulturellen und eben auch militärischen Fragen gegen die offiziell angesagten Sachzwänge stellt. Was mit der Weigerung konkret gemeint ist, kann man jetzt in Nymoens Streitschrift „Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde – Gegen die Kriegstüchtigkeit“ nachlesen, die am 11. März bei Rowohlt erschienen ist. Im Klappentext heißt es:

„Im Krieg wird der Mensch zum Ding, zum bloßen Instrument der Machthaber. Auf ihren Befehl hin gilt es zu töten, und was im zivilen Leben als schlimmstes denkbares Verbrechen gilt, wird zur Alltagshandlung. Dabei wurde uns beigebracht, den Staat als Voraussetzung von Vernunft und Freiheit zu verstehen! Und doch ist er es, der den Menschen vom rationalen und moralischen Wesen in ein Tötungswerkzeug verwandelt.“ (Siehe dazu auch die Kurzvorstellung des Autors im Podcast Wohlstand für alle.)

Renate Dillmann hat zu der Veröffentlichung auf den Nachdenkseiten ein Interview mit dem Autor geführt. Es steht unter der Überschrift „15 Jahre Lagerhaft für den Autor!“ und erinnert damit an den Shitstorm, den Nymoen 2024 mit seinem Statement in der Zeit auslöste. Dem Autor ist natürlich bewusst, dass er – nicht nur von CSU und Junger Union – heftigen Gegenwind zu erwarten hat. Er setzt aber darauf, dass der Zeitgeist noch nicht hermetisch abgedichtet ist, ja dass die offiziell verbreitete und mit Nachdruck versehene Aufrüstungsbegeisterung seinem Einspruch durchaus eine gewisse Aufmerksamkeit verschaffen könnte.

Dillman spricht ihn im Interview gleich auf seine prekäre, aber nicht hoffnungslose Außenseiterposition in der BRD an, wo seit dem Bundestagswahlkampf ja ein regelrechter Überbietungswettbewerb in Sachen Kriegstüchtigkeit stattfindet. Nymoen weist darauf hin, dass schon vor drei Jahren, kurz nach Kriegsbeginn in der Ukraine, Friedrich Merz die Leitlinie ausgegeben habe, Deutschland müsse bereit sein, „in dieser Welt seine Interessen zu definieren, und vor allem bereit sein, diese Interessen auch durchzusetzen.“ Nymoen sieht in den einschlägigen Ansagen das Programm: „Deutschland muss bereit sein, über die eigenen Grenzen hinauszudenken und seine Interessen mit militärischer Gewalt durchzusetzen“. Und er fährt fort „Was dafür tatsächlich ‚notwendig‘ ist, das möchte ich nun nicht mühevoll ausrechnen müssen. Für mich ist im Kriegsfall nämlich nicht die Rolle des Machers eingeplant, sondern die des nützlichen Idioten, der mit der Waffe in der Hand tötet und stirbt. Daher werbe ich für einen Blick, der sich nicht mit einzelnen Staaten gemein macht. Stattdessen muss es darum gehen, zu erkennen: Die Kriege werden nie im Interesse derer geführt, die in ihnen sterben.“

P.S. IVA hatte zur Werbung für die Möglichkeiten einer Gegenöffentlichkeit, die es in Deutschland – noch – gibt, im Februar ein Flugblatt vorgelegt. Es existiert jetzt in einer aktualisierten Version, die auch auf das Buch von Ole Nymoen hinweist. Es kann hier heruntergeladen werden und steht Interessenten damit bei Veranstaltungen oder Demonstrationen zur Verfügung. – Bei Wohlstand für alle gibt es übrigens einen neuen Podcast „Deutschland rüstet auf: Wird Merz zum Schuldenkanzler?“, der auf die ökonomische Seite des Aufrüstungsprogramms eingeht.


Blick auf einen anderen Stern

Der Allround-Poet Friedrich Rückert sah schon vor 200 Jahren den finalen Weltkrieg kommen (vgl. IVA Texte, Dezember 2024). Hier eine Vision von Peter Schran, der diese Tradition fortsetzt.

Man muss sich das einmal vorstellen: Auf einem Stern irgendwo im Weltall ermuntert eine Supermacht aus sich mega-grandios verstehenden Lebewesen ein in sich uneiniges, kulturell ziemlich zerrissenes, weit entfernt gelegenes Staatsgebilde dazu, einen Stellvertreterkrieg gegen eine andere, konkurrierende Großmacht in unmittelbarer Nachbarschaft zu führen, beliefert dieses Gebilde in bis dato unvorstellbarem Ausmaß mit Waffen, macht es so zu einem Frontstaat gegen den Großkonkurrenten, um diesen massiv zu schwächen oder gar zu „ruinieren“, wie es heißt, und reiht dabei eine Menge anderer, ebenfalls Waffen liefernder Staatsgebilde in die Front gegen den Rivalen ein. Das funktioniert allein schon deshalb, weil diese Staatsgebilde sich davon – wie die Supermacht selbst – neue Marktzugänge, Reichtumsvorteile, also jede Menge eigenen imperialen Machtzuwachs versprechen. Vorläufiges Ergebnis: Hunderttausende Tote und Verwundete, ein in hohem Maße zerstörter Lebensraum und der ganze Stern bereits zum dritten Mal einem umfassenden Selbstvernichtungskrieg nahe.

Zugleich ist die so bekämpfte Großmacht, auch nach mehreren Kriegsjahren, nur mittel-prächtig geschwächt, aber im Prinzip robust aufgestellt und rückt weiter vor. Als die Stern-Supermacht, ohne die der ganze Krieg nie hätte stattfinden können (wie sie nach einiger Zeit zugibt), ihr tödliches Kriegsprojekt – an dieser Front – zurückstellt und stattdessen lieber mehr mega-profitable Geschäfte auf dem gesamten Stern machen will (zu Lasten und durch noch mehr Erpressung Dritter), statt unproduktiv, teuer und ergebnisoffen zu töten bzw. töten zu lassen, gerät das Heer der bisherigen Verbündeten in Panik. Zum einen militärisch, aber auch ideologisch. Denn die Supermacht mit den größten und gefährlichsten Vernichtungswaffen des gesamten Sterns hat – eingeleitet durch eine TV-Superknall-Veranstaltung – nicht nur ihre Riesenzahl an Superwaffen abrupt der bis dato gemeinsamen Kriegsallianz entzogen, sondern zugleich die eigene Kriegspropaganda wie auch die der kürzlich noch Verbündeten geschreddert, indem sie das gemeinsame Werk schlicht als Lüge offenbart.

Die Folge: Schockstarre bei den Verbündeten! Statt zuzugeben, dass sich der Krieg gegen die konkurrierende Großmacht auch für sie nicht mehr rechnet, dass sie zudem in ihrer selbstproduzierten Kriegspropaganda („Für ‚Werte‘ wird man doch wohl noch töten dürfen“) gefesselt sind, wollen diese von ihrer Supermacht urplötzlich allein gelassenen Verbündeten unbedingt weiter Krieg führen. In der aktuellen Situation sehen sie die riesengroße Chance, endlich aus dem Schatten der bislang verbündeten Supermacht herauszutreten und sich so selbst als militärisch bedeutende Macht ins globale Konkurrenzsystem einzubringen. Sie haben sich, samt dem übergroßen Teil ihrer Bevölkerung, so sehr in die Sache verrannt, dass sie sich nichts anderes mehr vorstellen können, als – egal wie – relevante Konkurrenten zu vernichten und dies exemplarisch an dem konkreten Fall zu beginnen. Sie wollen ihre Wirtschaft, ihre konkurrenzmäßig-aggressiv ausgerichteten Staatskonstruktionen, ja das gesamte Leben in ihren Herrschaftsgebieten dem Kriegszweck unterwerfen. „Whatever it takes“, posaunen sie aus. Und: Sie verlangen, dass sich alle Normalsternenwesen im eigenen Herrschaftsgebiet diesem Plan bedingungslos unterwerfen.

Und was passiert danach? Gibt es Proteste, gar Aufstände gegen den gesteigerten Kriegsfanatismus, gegen das Ausgeliefertwerden (auch der eigenen Familien) an gigantische Kriegsinteressen? Nein. Verbreitet sich Aufklärung darüber, warum vor Jahren der Dauerkrieg wirklich begonnen wurde? Ein vertiefendes Nachdenken über die Mitschuld am Krieg? Auch Nein! Oder etwa ein Nachdenken darüber, ob die eigene, brutal-konkurrenzorientierte Lebensweise in allen Alltagsbereichen mit dem großen Konkurrenzkrieg etwas zu tun haben könnte? Alles Fehlanzeige. Bisher jedenfalls.

Sieht man genauer hin und fragt nach den Ursachen dieses Desasters, dann heißt es bei den alleingelassenen Verbündeten der zuvor haupt-aggressiven Supermacht, das Ganze müsse weitergehen. Denn: 1. verdanke sich das Desaster allein dem kranken Gehirn des feindlichen Großmacht-Anführers. Und 2. habe dieser ja angefangen, nämlich mit einem „Angriffskrieg“ aus „heiterem Himmel“. Von früh bis spät hämmert diese, vorsichtig ausgedrückt, unterkomplexe These durch alle großen Kommunikationsmaschinen und die Alltagswelt der Sternenbewohner auf der einen Seite der Kriegsfront und dringt noch in die kleinste Hütte – so sollen „Zusammenhalt“ hergestellt und der Glaube an ultimativ ausreichende, eigene imperiale Größe beschworen sowie die Bereitschaft zum „Gegenangriff“ unterstrichen werden. Aus „Verantwortung“ für den gesamten Stern, wie es heißt.

Statt nachzuhaken, machen im Hinterland der Front nicht nur sämtliche großen Kommunikationsmaschinen, sondern auch alle möglichen Vor-Ort-Propagandisten und Ortsvorsteher der Sternenbewohner für den Krieg mobil. Ebenso Wissenschaftler, die Lehrerschaft, „Experten“ aller Art etc. Das übrigens auf beiden (!) Kriegsseiten. Genau so, wie es vor den beiden vorhergegangenen, sternumfassenden Vernichtungskriegen der Fall war. Mit genau demselben nationalen, staatsfixierten Fanatismus. Als Wesensmerkmal eines geistig armen Sternentyps, der vor nun finaler Selbstvernichtung steht – aufgrund des Beharrens auf einem irrsinnig konkurrenzorientierten Gegeneinander um überlegene Wirtschaftsmacht, das auf diesem Stern alles bestimmt. Man nennt es dort gemeinhin auch „unsere Art zu leben“.

Von dieser Art wollen die Sternenbewohner einfach nicht lassen, weder jene, die der Supermacht und ihren Verbündeten untergeordnet sind, noch jene im Herrschaftsbereich der feindlichen Großmacht, schon gar nicht jene, die meinen, wenn Aggression und Krieg im Namen von Bevölkerungsumfragen und Mitbestimmungswahlen daherkommen, sei das eine gute Sache, der sich –tautologisch geschlussfolgert – daher alle anderen globalen Experimente des Zusammenlebens einer auf Kreuzchenmachen abgerichteten „Demokratie“, wie diese Form der Mitbestimmung auf dem Stern genannt wird, schlicht fügen müssten. So soll, so „muss“ es einfach sein, ist überall zu hören.

Wie‘s weitergehen wird auf diesem Stern? Ich wage eine Prognose: Noch bevor sie womöglich von Teilen der Sternenbewohner als Wahrheitsverdreher und Kriegstreiber enttarnt werden, schaffen die durch die bisherige Supermacht schlagartig demaskierten Anführer der verbliebenen Kriegsallianz schnell und „mit Blick nach vorn“ neue Tatsachen und führen eventuell blitzartig eine supermachtfreie, aber nichtsdestotrotz gigantische Militär-Aktion gen Osten an, bereiten sie zumindest provokativ vor. Nur so, glauben sie, können sie a) ihren politischen Status sichern und ihre ökonomischen Interessen entscheidend voranbringen sowie b) ihr „Gesicht wahren“ gegenüber zukünftigen potentiellen Feinden und am Ende auch noch vor ihren Untertanen. Womöglich werden dabei – wider Erwarten – die Superwaffen der Sternen-Supermacht eine Weile lang richtig scharf gemacht.

Einzelne Überraschungen sind hier nicht ausgeschlossen. Aber die Titel für solche Monstrositäten stehen schon seit bald 150 Sternenjahren unter der Herrschaft des Konkurrenzprinzips fest: „Verteidigung des Vaterlandes“ wahlweise „Friedensmission“.


„Den Wahnsinn stoppen!“

„Heraus zu Protest und Widerstand – Gegen Krieg, Hochrüstung und Kriegswirtschaft!“ So ein neuer Aufruf aus der „Sagt nein!“-Initiative. Dazu eine Mitteilung der IVA-Redaktion.

„Die Militarisierung Deutschlands schreitet voran. In den Medien wird die Aufrüstung zunehmend als alternativlos dargestellt.“ So heißt es in einem Kommentar bei Telepolis, der die Formierung der hiesigen Öffentlichkeit in Sachen Kriegsertüchtigung und Aufrüstung auf den Punkt bringt. IVA hatte dazu schon im Februar, vor der Bundestagswahl, ein eigenes Flugblatt „Gegen Kriegstüchtigkeit!“ veröffentlicht, das Einspruch gegen diesen nationalen wie europäischen Trend einlegte und auf die – noch – vorhandenen Protestmöglichkeiten der Gegenöffentlichkeit aufmerksam machte.

Eine Gegenbewegung gibt es auch in den deutschen Gewerkschaften, deren Führung ansonsten den Aufrüstungskurs der alten wie der neuen Regierung unterstützt und von einem Widerstand gegen die auf Hochtouren laufende Kriegsvorbereitung nichts wissen will. Kritische Stimmen fand man aber bereits vor der Eskalation seit Maidan-Putsch und gescheitertem Minsk-Abkommen beim Gewerkschaftsforum Dortmund oder beim GEW-Magazin Ansbach. Ende Juli 2023 startete dann die oppositionelle Initiative „Sagt nein! – Gewerkschafter:innen gegen Krieg, Militarismus und Burgfrieden“.

Für ein „unüberhörbares und unübersehbares Nein“

Die Initiative wurde vor allem von Mitgliedern der DGB-Gewerkschaft Ver.di ins Leben gerufen und von verschiedenen Gruppierungen und Sympathisanten unterstützt. Sie legte einen Aufruf vor, der bisher von rund 20.000 Personen unterschrieben wurde, und konnte sich auch – wie IVA berichtete – beim Ver.di-Bundeskongress im September 2023 zu Wort melden. Nachdem der DGB-Bundeskongress 2022 auf Betreiben des Bundesvorstandes sein Ja zu Waffenlieferungen und Aufrüstung abgeliefert hatte, stand auch bei Ver.di die Einreihung in die NATO-Front an. Unter dem Deckmantel eines „umfassenden Sicherheitsbegriffs“, so kritisierte der Aufruf, sollten sich Gewerkschaftsmitglieder als Jasager zur neuen Kriegslogik bekennen. Verhindert werden konnten die Anträge der Gewerkschaftsführung nicht, aber es gelang, eine deutliche Protestposition in der Gewerkschaft öffentlich zu machen.

Mittlerweile gibt es weitere kritische Gewerkschaftsinitiativen und zuletzt hat „Sagt nein!“ – gemeinsam mit anderen oppositionellen Stimmen vorwiegend aus dem antikapitalistischen Lager – besagten Aufruf „Gegen Krieg, Hochrüstung und Kriegswirtschaft!“ veröffentlicht. Das Flugblatt steht hier zum Download bereit. Es ruft zur Teilnahme an der zentralen Friedens-Demonstration am 29. März 2025 in Wiesbaden auf und fordert, dass die diesjährigen Ostermärsche (in der Zeit vom 17.-21. April) „zu unüberhörbaren Manifestationen gegen den globalen Krieg und die weiteren Kriegspläne der Herrschenden werden“. Auch sollte der internationale Kampftag der Arbeiterklasse am 1. Mai und der 80. Jahrestag der Befreiung vom deutschen Faschismus am 8. Mai für ein „Fanal gegen Krieg, Militarismus, Burgfrieden und Faschismus“ genutzt werden.

Die Demonstration in Wiesbaden gegen neue US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland findet am Samstag, dem 29. März, statt. Die Auftaktkundgebung erfolgt um 12.00 Uhr am Wiesbadener Hauptbahnhof. Nach einem Demonstrationszug durch die Stadt soll gegen 14.30 Uhr die Abschlusskundgebung auf dem Kranzplatz stattfinden. Näheres findet man über den Link der Wiesbadener Organisatoren. Die Termine der verschiedenen Ostermärsche finden sich auf der Website der Friedenskooperative.

Der Aufruf von „Sagt nein!“ wird bundesweit verbreitet. Er formuliert erstens den Einspruch gegen den offiziellen Kriegs(vorbereitungs)kurs und erhebt in einem zweiten Teil unter der Überschrift „Krieg und Leichen – Die letzte Hoffnung der Reichen“ eine Reihe von Forderungen. Diese beginnen mit dem sofortigen Stopp der „Verteilungskriege der imperialistischen Mächte“ und schließen mit dem „Verbot aller faschistischen Organisationen und ihrer Propaganda“. Dazu hier zwei Anmerkungen.

Kapitalisten sind nicht geil auf Krieg, sondern auf Profit.

„Krieg und Leichen – Die letzte Hoffnung der Reichen“ so lautete John Heartfields berühmte Fotomontage in der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung (AIZ) von 1932, die jetzt im neuen Flugblatt mit Bild und Text wieder abgedruckt ist. So verdienstvoll die Antikriegsagitation der damaligen kommunistischen Presse auch sein mag und wie sehr man zudem die Leistung der Heartfield-Brüder loben mag (dass sie den Dadaismus in AgitProp transformierten und damit dem künstlerischen Avantgardismus zu seiner wahren Bestimmung verhalfen) – stimmen tut die Losung leider nicht. Das Kapital ist nicht geil auf Kriege. Es sei denn, man verfällt auf die abwegige Idee, nur die Rüstungsindustrie anzuklagen, die sich auf Kosten ihrer Kollegen aus anderen Kapitalbranchen vordränge, um bei staatlichen Aufträgen abzusahnen. Eine Vorstellung, die sich gerade an den europäischen Aufrüstungsbemühungen und ihren einschlägigen Kontroversen blamiert: Hier soll ja die Rüstungsindustrie erst geschaffen werden, die EU-Staatschefs wollen dafür alles in die Wege leiten und besonders darauf achten, dass nicht gleich wieder 50 % der gestemmten Summen für Einkäufe bei der US-Industrie ausgegeben werden. Das ist ja gerade das Leiden der deutschen und europäischen Politik, dass sie die machtvolle Rüstungsbranche, die ihr dann die Aufträge „diktiert“, nicht hat.

Grundsätzlich gesagt: Das Kapital ist interessiert an Profit, nicht an der Zerstörung von menschlichen und sachlichen Ressourcen. Es gibt keine Kriege in Auftrag, diese sind vielmehr das Werk einer Machtkonkurrenz von Staaten, die jeweils ihren Kapitalismus betreuen. Gerade Trump liefert hier ein aktuelles Beispiel. Er kommt bei Gelegenheit – wenn das Zerstörungswerk des Militärs die Schädigung der gegnerischen Macht in ausreichendem Maße zustande gebracht hat – geradezu mit imperialistischem Geschäftssinn daher, der Friedensschalmeien anstimmt und die Rücksichtslosigkeit eines ukrainischen Nationalisten bloßstellt. Dieser begnadete „Dealmaker“ kann dann sogar als Warner vor einem dritten Weltkrieg auftreten, der den Weg zum friedlich-schiedlichen Handelsverkehr weist!

Demokraten können Faschisten verbieten, mehr nicht.

Die marxistische Kritik, so der Politikwissenschaftler Reinhard Kühnl, besteht darauf, dass Demokratie und Faschismus zwei „Formen bürgerlicher Herrschaft“ sind, dass sie also eine Gemeinsamkeit in ihrer politökonomischen Grundlage haben, auf deren Herrschaftsbedarf sie sich beziehen. D.h., sie bieten sich als Alternativen an und setzen sich, je nachdem per Wahlzettel, machtvoller Bewegung und/oder auswärtiger Protektion, als politisches Programm durch. Gemeinsam ist ihnen die Sorge um den Erfolg der Nation auf kapitalistischer Grundlage und je drängender die nationale Notlage ist, desto mehr kommen im demokratischen Alltag die faschistischen Ideale zum Zuge: starke Führung, klares Feindbild, Schutz der Volksgemeinschaft vor Ausland & Ausländern und vor allgemeiner Sittenlosigkeit – schlussendlich alle Potenzen in einer wehrhaften, kriegsbereiten Nation zusammengeschlossen. Daher haben Marxisten immer wieder betont, dass Demokraten Faschisten nur verbieten, aber nicht kritisieren können. Ein Lehrstück in dieser Hinsicht lieferten gerade die letzten Auseinandersetzungen um die demokratische Brandmauer gegenüber der AfD: In der Sache, dem Kampf gegen „irreguläre Migration“, herrschte größte Einigkeit der Mitte mit den Rechten. Hier wird nur aus wahltaktischen Überlegungen ein Gegensatz stilisiert, den man aber auch fallweise – siehe die Merz-Initiative im Wahlkampf – hintanstellt. Ähnliches war vorher schon bei den durch Correctiv enthüllten, angeblich geheimen „Remigrations“-Plänen der AfD zu beobachten, wo es vor allem darum ging, eine störende Alternative im demokratischen Betrieb auszuschalten (vgl. IVA Texte Februar 2025).

Wenn das Flugblatt jetzt das Verbot „aller faschistischen Organisationen“ fordert, fragt man sich, an wen sich diese Forderung wendet. An die demokratische Obrigkeit, damit sie Weidel und Co. in die Wüste schickt? Richtet man sich also an die Macht, die gerade die gigantische Aufrüstung betreibt, Widerspruch nicht duldet und der es sicher sehr gelegen käme, wenn man rechtspopulistische Querschläger aus dem Weg räumen könnte? Also Vertreter eines dissidenten Standpunkts mundtot machte, die ähnlich wie Trump Geschäftsaussichten mit dem russischen „Partner“ ins Auge fassen und deswegen bei Gelegenheit sogar das gängige antirussische Feindbild in Frage stellen. Gegen diese Störenfriede soll der Antikriegsprotest die staatliche Macht anrufen, damit sie rücksichtslos zuschlägt und noch mehr „Propaganda“-Verbote erlässt?

***

Dies nur als Hinweis darauf, dass bei dem jetzt vorliegenden Aufruf – verständlicher Weise, denn so werden Bündnisse geschmiedet – Positionen vorkommen, die nicht von allen Unterzeichnern und Unterzeichnerinnen geteilt werden, ja die ins Feld neuer Kontroversen führen. Das muss kein Schaden sein. Diese Kontroversen auszutragen im Kreis derjenigen, die eine antiimperialistische Kriegskritik befördern wollen, und in der Auseinandersetzung mit anderen friedensbewegten Positionen, die an die „eigentlich“ vorhandene Friedensfähigkeit und -willigkeit der Regierenden appellieren, ist gerade das Angebot, das ein solcher entschiedener Einspruch gegen den militaristischen „Wahnsinn“ machen kann.

Natürlich macht man sich nicht mit rechten Positionen gemein, die möglicherweise jetzt auch auf Verhandlungsfrieden und Diplomatie setzen. Aber da, wo man sich gegen Aufrüstung und Militarisierung positioniert, besteht diese Gefahr gar nicht. Einer Partei wie der AfD ist der Aufbau Deutschlands zu einer militärischen Führungsmacht ja hochwillkommen. Weil sie aber den eingespielten Politbetrieb der BRD stört, wird sie mit ihrer „Propaganda“ als extremistisch ausgegrenzt (siehe dazu auch Renate Dillmanns Beitrag „Der rechte Kampf für Wahrheit und Freiheit“ in: Konkret, 3/25). Sich in der deutschen Gegenöffentlichkeit daher noch mehr Verbote zu wünschen, wäre in der Tat fatal.


Ein Rückblick zur Bundestagswahl

Johannes Schillo und Renate Dillmann haben am 23. Februar im Overton-Magazin Impressionen & Reflexionen zum Wahltag beigesteuert.

„Juchhu, wir dürfen wieder wählen!“ So hieß es im Overton-Magazin nach dem Bruch der Ampelkoalition und im Blick auf die drohende Sternstunde der Demokratie. Jetzt ist sie vorbei und der Alltag hat uns wieder. Bis auf Hamburg natürlich, wo die Bürgerschaftswahl ansteht und die Presse sich Sorgen macht: Kann die AfD ihr altes Ergebnis verdoppeln? Muss die FDP wieder draußen bleiben? Etc.

Aber wir wollen nicht vorgreifen, sondern hier nur zwei Statements zur Erinnerung an den großen Tag der Republik nachtragen, als bei Overton Stimmen aus der Gegenöffentlichkeit den Verlauf der Bundestagswahl kommentieren sollten.

Noch unentschlossen am Wahltag

Sonntagvormittag, die Wahllokale öffnen, ich muss mit dem Hund raus und an den vielen tollen Plakaten vorbei: Tja, „Betrug am Wähler“, ein „großes Täuschungsmanöver“, so Professor Butterwegge in seiner Analyse bei Telepolis. Die Analyse hat er mittlerweile mit einem dritten Teil abgeschlossen – und er bleibt dabei: „Mit Täuschung zum Triumph“. Die Durchsicht der Wahlparolen, die Björn Hendrig vorher geliefert hatte, machte auch nicht viel Lust aufs Wählen. „Die Kunst des schönen Versprechens“ bringe Wahlplakate hervor, die sich als „kommunikative Schrotflinte“ bewähren: „Irgendeinen wird die Botschaft schon treffen. Da kann man sich noch so sehr wegducken, übersehen geht nicht.“

Aber die bunte Bildergalerie hat jetzt ausgedient und der Worte sind genug gewechselt – das Wahlvolk schreitet zur Abrechnung. „Das Gute an dem kurzen Wahlkampf ist, dass er vorbei ist“, kommentiert die FAZ am Wahlwochenende im Wirtschaftsteil. Sie beklagt die „Lähmung“ des Standorts, wo sich nur „kleine Lichtblicke“ zeigen und wo das Wahlergebnis unter Umständen wieder in eine „bleierne Zeit“ führen könnte. Ich fürchte mich auch vor den bleihaltigen Zeiten, die auf uns zukommen, und darf Derartiges noch in der Gegenöffentlichkeit äußern. Im wahlwerbenden Schilderwald entdecke ich sogar einen Lichtblick, nämlich das Plakat der Titanic-Partei: „Kein Weltkrieg ohne Deutschland“. Endlich mal keine Täuschung! Das ist der Konsens aller staatstragenden Kräfte und somit ein Wahlversprechen, das sicher eingehalten wird – koste es, was es wolle, und sei es die Hälfte des Bundeshaushalts. Darauf haben wir ein großes schwarzrotgoldenes Ehrenwort bekommen.

Demokratische Sternstunde

Sonntagabend, 18 Uhr – die Wahllokale schließen. Nun haben sie also gewählt, der Wähler und die Wählerin bzw. „der Souverän“. Sie haben es einen ganzen Tag lang in der Hand gehabt: ihren Wahlzettel. Die Parteien und ihre Kandidaten haben vor ihnen und dem donnernden Votum gezittert und sich dafür im Wahlkampf mit guten Argumenten und sachlich-aufklärenden Diskussionen überboten. Nun ja – so ähnlich jedenfalls soll man sich die Demokratie vorstellen.

Nun sitzen der Wähler und die Wählerin vor dem Fernseher und dürfen zusehen, was die Parteien unter Berufung auf die zusammengezählten Kreuzchen in ihrer Konkurrenz um die Verteilung der Macht anstellen. Und welche angebliche Erwartungshaltung „des Wahlvolks“ bezüglich Krieg und Frieden, Migration, Sozialpolitik undsoweiter die Medienexperten in die Millionen von Kreuzchen hineininterpretieren, wenn sie mit den Kandidaten talken.

Das war sie dann – die demokratische „Sternstunde“. Außerhalb dieser großen Stunde, d.h. die nächsten vier Jahre lang und in allem, was ihn praktisch betrifft, hat „der Souverän“ nichts zu melden. Er muss schlicht dem nachkommen, was die gewählte bzw. durch Koalitionsverhandlungen ausgemauschelte Regierung an Gesetzen oder Verordnungen beschlossen hat. Seine demokratische Rolle in dieser Zeit: Nichts, nada, niente oder besser: gehorchen.

Und was hatte er in seiner großen Stunde (besser gesagt den fünf Minuten in der Wahlkabine) eigentlich zu sagen? Konnte er, der „Souverän“, „seinen“ Abgeordneten mit auf den Weg geben, was er braucht oder was ihm gegen den Strich geht? Dass er vielleicht gerne eine Welt ohne versaute Lebensmittel, allgegenwärtigen Verkehrslärm, ein Gesundheitssystem, dem man nicht trauen kann, und jetzt auch noch einen Krieg hätte? Durfte er wenigstens ein paar Dinge aufschreiben, die die Welt für ihn „ein kleines bisschen besser machen würden“?

Nein, das durfte der Wähler natürlich nicht. Jede Aussage – vom bescheidensten kleinen Wunsch bis hin zur Systemkritik – hätte seine Stimme ungültig gemacht. Seine Wahl bestand allein in einem kleinen Kreuzchen. Und damit darin, eine Partei ins Parlament und darüber möglicherweise einen Politiker, eine Politikerin ins Amt zu bringen, die ihm in den nächsten vier Jahren sagen darf, wo es langgeht in Deutschland. Wo an ihm gespart werden muss, damit das Geschäft der Unternehmen und Banken wieder auf die Beine kommt und die Bundeswehr ihre Aufrüstung hinkriegt.

Das allerdings unter Berufung auf ihn – den Wähler! Und nicht zu vergessen natürlich: die Wählerin.

P.S.

Wer dreieinhalb Stunden Zeit hat, kann sich das demokratische Highlight des Jahres 2025 auch noch mal ausführlicher zu Gemüte führen, und zwar mit einem Schuss Senf, den das „Trio Infernal“ von 99zu1 beigesteuert hat: „Nach der Wahl...“ als Episode 478 der Videopodcastreihe auf YouTube anzuschauen.

Eine knappe Information bietet dagegen der Videopodcast „Wohlstand für alle“ von Ole Nymoen und Martin M. Schmitt, und zwar zur Rolle der Wahl im Rahmen demokratischer Herrschaft. Die Episode 291 vom 5. März steht unter der Fragestellung „Ist Wählen verkehrt?“ und diskutiert die Demokratie-Kritik des GegenStandpunkts.


Februar

„Die Nicht-Klimawahl“

Noch ein Flugblatt zum Wahlkampf, die Meisterleistung betreffend, die globale Katastrophe des Klimawandels auszuklammern. Eine Information der IVA-Redaktion.

„Es hat sich etwas geändert seit der letzten Bundestagswahl. Klang es 2021 noch halbwegs plausibel, von einer ‚Klimawahl‘ zu sprechen, so spielt jetzt das Klima im Wahlkampf keine Rolle mehr“. Das schreibt Rudolf Netzsch in einem Flugblatt, das im Wahlkampf verteilt wurde und weiterhin Interessenten für Verteilaktionen zur Verfügung steht. „Dabei stellt keine der Parteien“, wie das Flugblatt fortfährt, „den Klimawandel in Abrede … Teile der AfD vielleicht ausgenommen“. Doch auch die AfD sieht energiepolitischen Handlungsbedarf. Wie Kanzlerkandidatin Alice Weidel jetzt im Bild-Interview (16.2.25) mitteilt, will ihre Partei „das Erneuerbare Energien Gesetz, das EEG, abschaffen, das uns bisher rund 500 Milliarden Euro gekostet hat“. Eine Energiewende wird aber nicht ausgeschlossen, „Zielbild ist, dass wir das Energieangebot ausweiten. Wir stehen für Energieoffenheit, für Marktwirtschaft auch am Energiemarkt“ (Weidel).

Damit reiht sich die AfD im Grunde in den demokratischen Parteienkonsens ein, der ökologischen Erfordernissen im Rahmen des ökonomisch Machbaren nachkommen will. Die Lage ist also jetzt, wo das Wahlvolk befragt und auf die großen Politthemen aufmerksam gemacht wird, genau so, wie sie Netzsch in seinem Buch über den Umweltprotest gefasst hat (siehe die Vorstellung bei IVA): Die Klimakatastrophe ist laut sämtlichen sachkundigen Dia- und Prognosen unterwegs und auch in internationalen Vereinbarungen als erstrangiges Menschheitsproblem anerkannt; die Konsequenz, die die Staatenwelt daraus zieht, ist aber im Grunde nichts anderes als business as usual, also Schutz des kapitalistischen Geschäftslebens vor allzu großen Kostenbelastungen.

Ein Nicht-Thema findet seinen Platz

So ähnlich sehen das auch sachkundige Wahlbeobachter. Ein Monat vor dem Wahltag legte z.B. die Bundeszentrale für politische Bildung ihre „Informationen“ zur Wahl vor, in denen sich Politik-Professor Frank Decker zu den großen Themen des Wahlkampfs äußerte. An erster Stelle stünden hier „Wirtschaft und Soziales (einschließlich Klimaschutz)“ und an zweiter der russische Krieg in der Ukraine – eine erstaunliche Fehleinschätzung! (Siehe IVA-Texte2025) Einerseits jedenfalls. Andererseits hat der Mann ja recht, Klimaschutz eingeklammert unter Wirtschaft (und Soziales), genau so kommt das Thema vor und wird als eigenes globales Problem, das „uns“ bewegt, ausgeklammert.

Denn angeblich, das hört man von wohlmeinenden Stimmen, könnte man die Leute nicht mit Plänen zu einem energiepolitischen Umbau verschrecken, der viel Geld kostet und von „uns allen“ Einschränkungen verlangt; das wären Zumutungen, die der Wähler niemals akzeptieren würde. Als ob nicht die ganze Zeit von Zumutungen die Rede wäre, die demnächst auf den Bürger zukommen! Allen Ernstes wird ja diskutiert, ob man 40 % des Bundeshaushalts für Rüstung ausgeben kann und an welchen anderen Stellen (natürlich vor allem beim Sozialen) wie viel dafür zu kürzen wäre. „Das Prinzip staatlichen Handelns ist“ eben, heißt es im Flugblatt, „die Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung, und die kennt keine Rücksichtnahme, weder auf Land noch auf Leute. Denn diese Ordnung, also der Kapitalismus, verträgt sich nicht mit Klimaschutz, sondern führt mit gesetzmäßiger Notwendigkeit in die Katastrophe. – Wann hat denn der grüne Wirtschaftsminister aufgehört, zugleich einen Klimaschutzminister darzustellen? Genau: als die Konjunktur einzubrechen drohte, also als sich Schwierigkeiten für die kapitalistische Wirtschaft ergaben.“

Weitere Informationen zu dem Thema bietet Rudolf Netzsch jetzt auf einer eigenen Website an: „Nachdenken über Klima und Zeitgeist“ (https://www.rudi-netzsch.de/). Dort wird die Publikation „Nicht nur das Klima spielt verrückt – Über das geistige Klima in der heutigen Gesellschaft und die fatalen Folgen für das wirkliche Klima der Welt“ vorgestellt und dazu auf weitere Texte des Autors oder damit verbundene Veröffentlichungen verwiesen. Netzsch setzt sich in seinem Buch auch mit den verbreiteten ohnmächtigen Klagen auseinander, in Sachen Umweltschutz würde zu wenig geschehen. Immer wieder werden ja Verfehlungen oder Versäumnisse Einzelner beklagt – sei es der Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik, sei es von uns allen. „Unter solch einer Perspektive scheint es keinen anderen Ausweg zu geben, als Appelle an den Staat als den Repräsentanten der abstrakten Allgemeinheit zu richten. Um darüber hinauszukommen, wird in dem Buch dafür plädiert, das Handeln der Menschen in ihrem gesellschaftlichen Kontext zu begreifen und die stummen Zwänge der Verhältnisse als das zu erkennen, was zu überwinden ist. Auf dieser Grundlage werden auch verschiedene linke Positionen dazu kritisch diskutiert.“

Auf der Website gibt es die Möglichkeit zum Download (https://www.rudi-netzsch.de/blog-zum-buch/flugblatt-zum-klimastreik-am-14022025) des aktuellen Flugblatts sowie früherer Flugblätter. Der Autor ist auch in einem Videopodcast zur Kritik der Klimabewegung bei 99zu1 aufgetreten: https://www.youtube.com/watch?v=yLw4j9RZcfs. Auf der Website finden sich ferner aktuelle Texte zum „Geistigen Klima“ und es gibt die Möglichkeit, Kommentare beizusteuern oder Anfragen an den Autor zu richten.


Gegen Kriegstüchtigkeit!

Ein Flugblatt informiert über kritische Stimmen zum neudeutschen Leitbild Kriegstüchtigkeit. Dazu eine Information der IVA-Redaktion.

Deutschland steht im Zeichen von Kriegstüchtigkeit und Kriegsvorbereitung – auch wenn der Wahlkampf das Thema großzügig ausklammert und noch gar nicht klar ist, in welcher Konstellation nach dem Amtsantritt von Donald Trump und nach der Bundestagswahl die großartige westliche Waffenbrüderschaft fortgesetzt wird. Eins steht aber fest: Friedlich wird es auf dem Globus nicht. Der neue US-Verteidigungsminister Hegseth kündigt bei seinem Europabesuch an, er werde die NATO „aus einem ‚diplomatischen Club‘ zu einer ‚tödlicheren Kraft‘ machen“ (Junge Welt, 13.2.25). Und dass Europa eine veritable Militärmacht werden soll – Verteidigungsausgaben in Höhe von 5 % des Bruttoinlandsprodukt werden verlangt –, gehört mit zur Neubestimmung des transatlantischen Verhältnisses.

IVA hat bereits mehrfach auf den Prozess der umfassenden Militarisierung aufmerksam gemacht, der neben der geistig-moralischen Aufrüstung natürlich die militärischen Mittel und politischen Weichenstellungen betrifft und der der Nation einiges abverlangt. Bei aller Führung des westlichen Lagers durch die „einzig verbliebene Supermacht“ USA ist hier festzuhalten, dass die BRD sich ebenfalls Führung zutraut und für sich und für die EU die Rolle eines Hegemons in Anspruch nimmt, der auf dem europäischen Kontinent für die Ausschaltung einer russischen Großmacht sorgt.

Die Karriere eines Frontstaats

Dieser Aufbruch zu neuen Ufern hat natürlich seine Tradition. Vor 75 Jahren, unterm CDU-Kanzler Konrad Adenauer, wurde die Remilitarisierung der BRD in die Wege geleitet. Eine kriegsmüde Nation wurde innerhalb von fünf Jahren auf die Rolle eines Frontstaates umgestellt, der der östlichen Großmacht SU – natürlich im Bund mit den NATO-Spießgesellen und unter Führung des US-Hegemons – Paroli bieten sollte.

Vor gut 45 Jahren forcierte der sozialdemokratische Kanzler Helmut Schmidt die atomare Aufrüstung Westeuropas, die als „Nachrüstungs“-Bedarf firmierte und u.a. beim Juso-Chef Scholz auf Protest stieß: Bei ihm und der damaligen machtvollen Friedensbewegung kam der Verdacht auf, der US-Imperialismus (miss-)brauche Europa als – letztlich: atomares – Schlachtfeld zur Ausschaltung seines realsozialistischen Rivalen und zur Mehrung seiner eigenen Macht.

Vor gut 25 Jahren beteiligte sich dann der SPD-Kanzler Gerhard Schröder mit seinen grünen Koalitions-Kumpanen an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf Serbien, um in die Regelung der regelbasierten US-Weltordnung die gewachsenen Ansprüche eines wiedervereinigten Deutschlands einzubringen. Denn nach der Kapitulation des Systemrivalen unter Gorbatschow stand der ehemalige Ostblock zur Inbesitznahme offen: Von der Zerlegung des Balkans bis zur mehr oder weniger friedlichen NATO-Osterweiterung rückte man der – unter Putin wieder stabilisierten – östlichen Macht auf die Pelle, die sich nicht mit der ihr zugewiesenen Rolle als „Regionalmacht“ (Obama) abfinden wollte.

­Als nun vor drei Jahren die Russische Föderation auf die westliche Einkreisung mit einem Gegenschlag antwortete, begann die letzte Phase der deutschen Militarisierung. Der seit Beginn der Republik vorhandene politische Wille, Russland als Großmacht zu beseitigen und das auch – wenn der Feind sich nicht durch seine westlichen Gegner abschrecken lässt – mit einem Atomkrieg zu realisieren, schreitet jetzt zur Tat.

Und so fasst zuletzt Kanzler Scholz im Sommer 2024 gemeinsam mit der US-Regierung den Beschluss zu einer Stationierung von (eventuell auch atomar bestückbaren) Raketen in Deutschland, die „über deutlich größere Reichweite als die derzeitigen landgestützten Systeme in Europa verfügen“ (so die bilaterale Erklärung), also die Option eines Enthauptungsschlags aus der Nachrüstungsära wieder ins Spiel bringen. Und die nukleare Teilhabe der BRD wird ja sowieso ständig mit den US-Freunden geübt, die jetzt unter Trump bekanntgeben, wie prinzipiell feindlich sie allen anderen Nationalinteressen gegenüberstehen, und damit das deutscheuropäische Verlangen nach massiver Aufrüstung umso dringlicher machen.

Widerspruch aus der Gegenöffentlichkeit

Wie gesagt, die aktuelle Entwicklung seit den Präsidentschaftswahlen in den USA mischt jetzt die geopolitischen Kalkulationen der NATO-Mitglieder auf. Der Wille zum Krieg leidet darunter aber nicht, im Gegenteil. Das Programm, das Volk für die gi­gantische Aufrüstung in Form zu bringen und bluten zu lassen, ist Konsens bei den Verantwortlichen und denen, die Verantwortung übernehmen wollen. „Kanonen statt Butter“ heißt unver­blümt die Devise. Militärische „Resilienz“ ist das offizielle (Um-)Erziehungsziel.

Öffentlichen Einspruch gibt es aber – noch. Unter anderem von der etwas schwer bestimmbaren Größe „Gegenöffentlichkeit“, die mit den verschiedensten (An-)Klagen aufwartet, die aber in Sachen Antikriegsprotest eine wichtige Aufklärungsleistung beisteuert. IVA als Initiative zur Verbreitung von Aufklärung beteiligt sich an dieser Öffentlichkeitsarbeit, übernimmt kritische Beiträge oder veröffentlicht eigene Stellungnahmen. Um etwas in der Hand zu haben, wenn man bei Veranstaltungen der Friedensbewegung oder demnächst bei den Ostermärschen aufkreuzt, hat die IVA-Redaktion ein Flugblatt erstellt, das hier (Flyer IVA) abrufbar ist. Es steht unter der Überschrift „Gegen Kriegstüchtigkeit! Gegen die deutschen Hassprediger, die die Zivilgesellschaft mit Militarismus beglücken wollen!“ und gibt eine Übersicht zu Veröffentlichungen, Diskussions- und Veranstaltungsangebo­ten und will Interessenten helfen, Kontakte zu knüpfen und sich zu vernetzen.


Ein Stelldichein am „Tor zur Hölle“

Noch was zur Brandmauer. Ein Nachtrag zum letzten Beitrag über den Bundestagswahlkampf von Johannes Schillo.

„Aufstand der Anständigen – Demo für die Brandmauer“: Bundesweite Demonstrationen gegen Rechtsextremismus meldet die Tagesschau (tagesschau.de, 3.2.24). Ausgelöst durch „die von der Union initiierte Migrationsdebatte im Bundestag“ sollen sich laut Angaben der Veranstalter bis zu 250.000 Demo-Teilnehmer in Berlin, Köln, Bonn und anderen Städten eingefunden haben. Wie Anfang 2024, als das angebliche Potsdamer Geheimtreffen aufgeflogen war und gar nicht so geheime Pläne zur Begrenzung irregulärer Migration bekannt wurden (die im Grunde alle Parteien bis auf Linke teilen), ist also wieder ein antifaschistischer Aufschwung im Lande zu verzeichnen.

Wieder heißt es: „Den Anfängen wehren!“ Dazu kommentierte der Gegenstandpunkt bereits Anfang 2024 (Decker 2024, 85): „Welchen Anfängen? Wer gegen die schlechte Behandlung von Migranten ist, kann doch nicht erst bei der AfD anfangen. Und schon gar nicht für die Demokratie eintreten, die es in Deutschland gibt. Die ist mit ihrer Asyl- und Flüchtlingspolitik doch selbst der Anfang und eigentlich längst nicht nur der Anfang dessen, was schon jetzt, und zwar programmatisch, mit Deportationen endet: ‚Wir müssen endlich im großen Stil abschieben‘, sagt der demokratische Kanzler.“

Nach den Amoktaten von Solingen bis Aschaffenburg haben alle staatstragenden Kräfte diese Ansage bekräftigt – in der Sache knallhart, in der Tonlage mit einer gewissen Bandbreite von Bild bis zum hinterletzten Lokalblatt –, und mit dem Vorstoß des CDU-Kanzlerkandidaten Merz ist nun offiziell klargestellt: Die Brandmauer, die Demokraten fundamental von Rechtspopulisten und Rechtsradikalen trennen soll, gibt es in der Sache nicht. Sie muss künstlich hergestellt bzw. aufrecht erhalten werden. Sie verdankt sich einem parteitaktischen Kalkül, das einmal Abgrenzung verlangt, das andere Mal gemeinsames Vorgehen zulässt – natürlich alles nur, um dem Mehrheitswillen der Bevölkerung gerecht zu werden. Eine aufschlussreiche Lektion über faschistische Standpunkte, die mitten in der Demokratie hausen! Doch was sagen die maßgeblichen Volkserzieher dazu?

Gemeinsame Grundlagen

Explizit in Frage gestellt wurde die AfD-Ausgrenzungsstrategie in christdemokratischen und christlich-sozialen Kreisen zwar schon seit einiger Zeit. Aber jetzt erst, so erfährt man von Experten, soll die Gefahr drohen, dass der Rechtsradikalismus salonfähig wird. In konservativen Kreisen sieht man das etwas anders. Die FAZ konstatiert dabei auf ihre Weise, dass es die Brandmauer, also den fundamentalen Unterschied zwischen den demokratischen Parteien und ihren populistischen Rivalen, allen voran der AfD, eigentlich nicht gibt. Die rotgrüne Distanzierung vom Merz-Vorstoß, schreibt die „Zeitung für Deutschland“, verdanke sich ideologischer Borniertheit, die Polemik gegen das Wort „Begrenzung“ (vor einem Jahr war es der Terminus „Remigration“) sei in der Sache unbegründet. Es habe hier ja schon alles Mögliche mit SPD-Beteiligung gegeben – „wie die Aussetzung des Familiennachzugs“; und es ginge ja nur um pragmatische Dinge „wie ein größerer Aktionsradius für die Bundespolizei. Warum die SPD da nicht zustimmt, ist unbegreiflich. Nur das Argument, die Union mache gemeinsame Sache mit der AfD wäre ihr flöten gegangen. Aber ebendarum, um das ‚Tor zur Hölle‘, wie es Rolf Mützenich in geradezu grotesker Übertreibung nannte, ging es SPD und Grünen von Anfang an.“ (FAZ, 1.2.25)

Einen Beleg für den fiktiven Charakter der Brandmauer hat jüngst die Historikerin Daniela Rüther [1] mit ihrer Studie über „Die Sex-Besessenheit der AfD – Rechte im ‚Genderwahn‘“ (2025) geliefert. Es geht hier um die Polemik, die Rechtsradikale und Rechtspopulisten in Verbindung bzw. Übereinstimmung mit konservativen Kreisen gegen einen „Genderwahn“ der progressiven Kräfte betreiben. In der „Genderideologie“ sehen ja Rechte von Meloni bis Trump, aber auch Wertkonservative und christliche Traditionalisten den Angriff auf die nationalen Höchstwerte von Heimat, Familie und Gottesfurcht. Das traditionelle Familienmodell sei dagegen allein geeignet, die völkische Reproduktion sicherzustellen. Familienpolitik ist explizit Bevölkerungspolitik, die gegen das Aussterben des deutschen Volkes antreten muss. Und das will eine konservative Familienpolitik verhindern, wobei die AfD durchaus zu Modernisierungen bereit ist. Sie bekennt sich ja auch schon seit einiger Zeit zum Schutz von Homosexuellen, Transpersonen oder Frauen, die von sexueller Gewalt (natürlich durch Ausländer!) bedroht sind (vgl. dazu etwa den von Judith Goetz und Thorsten Mense herausgegeben Band „Rechts, wo die Mitte ist – Die AfD und die Modernisierung des Rechtsextremismus“, 2024).

Der Antifaschismus der Anständigen

Was man zu der jetzt öffentlich gemachten Brandmauer-Fiktion von den zuständigen Fachleuten hört, ist ansonsten wenig aufklärend. Ein Monat vor dem Wahltag legte – wie jedesmal bei solchen Anlässen – die Bundeszentrale für politische Bildung ihre „Informationen“ zur Wahl vor (bpb 2025). Der Autor, Politikprofessor Frank Decker, konnte natürlich Anfang des Jahres noch nicht wissen, dass der CDU-Kandidat mit seiner „Begrenzungs“-Initiative einen „Dammbruch“ einleiten würde, aber sonst waren, wie oben dargelegt, alle einschlägigen Informationen über die gemeinsamen Grundlagen bekannt. Dazu gab es ja auch in der politischen Öffentlichkeit immer wieder eindeutige Hinweise – sofern sich die Medien dafür interessierten und nicht, wie nach der Entlarvung des angeblichen Potsdamer „Geheimtreffens“, die Rechtspopulisten aus der demokratischen Gemeinschaft ausgrenzten, weil sie Pläne für eine ethnische Säuberung von NS-Format in den Schubladen hätten.

An der Dramatisierung des Migrationsproblems ‚nach Solingen‘ hätte man den ausländerfeindlichen Grundtenor des beginnenden Wahlkampfs unschwer erkennen können. Dass man die (irreguläre) Migration – noch vor Weltkriegsgefahr, Klimawandel, weltweiter, auch einheimischer Verelendung und Prekarisierung, die jetzt sogar unseren Wohlfahrtsstaat zum Abbau eines überzogenen Leistungskatalogs zwingt – als den eigentlichen Notstand betrachten soll, der alle betrifft, hat natürlich seine Wahlkampflogik (siehe unten den ersten IVA-Beitrag zur Brandmauer).

Was Decker dazu in den Informationen der Bundeszentrale zu vermelden hat, ist ein ziemlicher Fehlgriff. Klar sei, dass „die demokratischen Parteien der Mitte die Koalitions- und Regierungsbildung unter sich ausmachen“ würden. „Gänzlich Tabu ist für alle Parteien (mit gewissen Einschränkungen beim BSW) jedwede Zusammenarbeit mit der AfD.“ Da wundert es nicht, was der Mann zu den großen Themen des Wahlkampfs zu sagen hat. An erster Stelle stünden hier Wirtschaft und Soziales (einschließlich Klimaschutz), an zweiter der russische Krieg in der Ukraine. Natürlich kommt das alles in den Wahlprogrammen vor, sogar der Evergreen Bürokratieabbau hat hier seinen Platz. Aber die Rangfolge sieht bekanntlich anders aus.

Das Thema Migration wird von Decker am Ende auch noch aufgeführt. Hier sieht er eine Front, die zwischen den „linken Parteien“ (vor allem Rotgrün) und den „Mitte-Rechts-Parteien“ verläuft. Die einen seien „für Zuwanderung prinzipiell aufgeschlossen“, die anderen für „Begrenzung“. Dass Scholz seit einem Jahr zusammen mit seiner Innenministerin Faeser propagiert, man müsse „im großen Stil“ für Remigration sorgen, und, wie die FAZ bemerkte, auch schon allem Möglichen zugestimmt hat – nicht zuletzt auf europäischer Ebene (siehe dazu die Analyse von Joshua Graf bei 99zu1) –, geht dabei ganz verloren.

Wenig hilfreich sind auch die Einlassungen des Politikprofessors Hajo Funke, der bisher mit seinen Veröffentlichungen einiges an Aufklärung über die AfD beigesteuert hat. Im Zeitungs-Interview (Bonner General-Anzeiger, 1./2.2.25) erklärt er, Merz habe mit seinem „Tabubruch“ gezeigt, „dass er skrupellos die Macht will.“ Das kann man nicht bestreiten, ist aber nicht gerade eine Besonderheit dieses christlichen Politikers. Weiter heißt es: „Das, was Friedrich Merz durchgesetzt hat, ist ein Dammbruch. Das erste Mal seit 1949 haben demokratische Parteien mit einer antidemokratischen, rechtsextremen Partei bewusst und absichtsvoll zusammen eine Mehrheit erreicht.“ Das bietet noch weniger Aufklärung. Hier geht ganz verloren, was es an inhaltlichen Gemeinsamkeiten gegeben hat und was aus wahltaktischen Gründen zur Fiktion einer völligen Unvereinbarkeit hochstilisiert wurde. Da ist vielmehr Arnold Schölzels Kommentar (Junge Welt, 4.2.25) zuzustimmen: „AfD und Merz besorgen die Hetze, SPD, Grüne und FDP machen die Gesetze“. [2]

Am Schluss heißt es dann bei Funke: „Wir wissen aus Erfahrungen anderer Länder, aber auch aus unserer eigenen Erfahrung, dass eine Annäherung an Rechtspopulisten bei Wahlen eher dem Original hilft, also in diesem Fall der AfD.“ Schlussendlich steht also alles auf dem Kopf! Lernen kann man am Fall Zuwanderung und Demographie gerade etwas anderes: Nicht die AfD ist, wie gern behauptet, das Original, das jetzt bei den anstehenden Verschärfungen im Asyl- oder Ausländerrecht von den „Altparteien“ kopiert wird. Die demokratischen Bevölkerungspolitiker liefern vielmehr die Vorlage, die die Agenda des Nationalstaats in Sachen Intaktheit und Reproduktion(sfähigkeit) des Volkskörpers auf den aktuellen Stand bringt – und damit das Material, an dem die rechten Agitatoren dann immer den rücksichtslosen nationalistischen Geist vermissen.

Und der Protest?

Die antifaschistische Aufregung, die jetzt zu verzeichnen ist und zu erstaunlich breiten Protesten geführt hat, kann man jedoch nicht einfach mit einem Vertrauensbeweis für die etablierten Parteien gleichsetzen. Die Analyse des Gegenstandpunkt hat auf diesen Sachverhalt bereits bei der früheren Anti-AfD-Kampgane aufmerksam gemacht: „Es gibt diejenigen, die die deutsche und europäische Migrationspolitik auch ohne die AfD schon ziemlich schlimm finden. Und es gibt die anderen, die diese Politik unterstützen, sie aber nicht von der AfD gemacht sehen wollen. Der Dissens wird auf den Demonstrationen immer wieder laut – und dann schnell wieder leise. Teilnehmer rufen: ‚Merz, das gilt auch für dich‘ und vermissen bei CDU und SPD die berühmte Brandmauer gegen Xenophobie und Abschiebungspolitik. Es laufen auch Leute mit, die meinen, eine Demonstration für die Demokratie wäre eine Gelegenheit, an das Leiden der Palästinenser in Gaza und das ihnen verweigerte Recht auf eine eigene Demokratie zu erinnern.“ (Decker 2024, 86)

Das ist jetzt wieder genau die Lage, wie sich z.B bei der Bonner Demonstration – nach Berlin und Köln eine der größeren Veranstaltungen – zeigte. Da hier Amnesty International Mitveranstalter war, durfte das Thema Gazakrieg in einer Rede vorkommen, in Übereinstimmung mit der AI-Position, die den israelischen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser kritisiert. Als Rednerin trat eine – jüdische – Vertreterin der antizionistischen Organisation Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost auf. Für Lokalpresse und -politik war das ein Skandal, der auf die Notwendigkeit einer schärferen Kontrolle solcher Veranstaltungen verweist.

Eine systematische Kontrolle findet hier übrigens seit der Vorjahreskampagne statt, der ja damals vom CDU-Vorsitzenden Merz und von Bundespräsident Steinmeier der Weg in die konstruktive und damit allein zulässige Richtung gewiesen wurde: Tatkräftiges Vertrauen in die politische Klasse, die bisher den Laden ohne AfD-Beteiligung geführt hat, sollte am Schluss herauskommen. Notfalls muss hier der Staatsschutz einschreiten. Der operiert seit letztem Jahr etwa mit dem Paragraphen 86a des Strafgesetzbuches, der die „Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger oder terroristischer Organisationen“ unter Strafe stellt (Höchststrafe: drei Jahre).

Wenn Plakate bzw. Parolen mit zu viel antifaschistischem Elan gegen rechts einschreiten wollen oder sonstwie den zur Zeit geforderten Oppositionsgeist vermissen lassen, stattdessen etwa störende Aufklärung in Sachen rechte Gefahr vortragen, zieht die Polizei solche Dinge aus dem Verkehr. So jetzt in Bonn geschehen, wo zwei Demo-Plakate beschlagnahmt wurden, weil sie anscheinend den NS-Vorwurf an die Adresse der AfD zu plakativ vortrugen (wie gesagt nicht zum ersten Mal, bereits im Frühjahr 2024 fuhr die Polizei in einem Bonner Wohnviertel Streife und prüfte, welche Anti-AfD-Plakate zulässig und welche verboten sind). Die Urheber warten jetzt auf das Verfahren nach § 86a. Vielleicht sollten sich die Demonstranten einmal anhand solcher Fälle, aber auch im Blick auf die politische Großwetterlage klarmachen, für welche konstruktiven politischen Zwecke ihre antifaschistischen Ängste hergenommen werden.

Anmerkungen

[1] Die Autorin bringt umfangreiches Material zu ihrer These vom „Genderwahn“ und legt dar, wie die Propaganda für das heterosexuelle Leitbild von Ehe und Familie seine ehrwürdige familienpolitische Tradition hat, die nicht allein aus dem rechtsradikalen Lager gespeist wird. Im Grunde geht es hier ja um Bevölkerungspolitik, die jeder Nationalstaat – ob auto- oder demokratisch verfasst – betreibt. Bei Rüther bleibt jedoch die demokratische Tradition in Sachen Demographie etwas unterbelichtet. Bei ihr erscheint Bevölkerungspolitik als alleiniges Programm der AfD, während demokratische Politiker sich angeblich darum bemühen, die Selbstverwirklichung von Menschen mit Kinderwunsch in einem schwierigen politisch-ökonomischen Umfeld Wirklichkeit werden zu lassen. Dazu ist jetzt eine Rezension des Buchs im socialnet erschienen.

[2] Etwas milder ist der Kommentar von Albrecht von Lucke (2025) in den Blättern für deutsche und internationale Politik ausgefallen, er betont aber auch die grundsätzliche Übereinstimmung in der migrationspolitischen Linie: „Die anderen Parteien setzen der Radikalität der AfD kaum etwas entgegen. Das ist der Kern des AfD-Momentums in diesem Wahlkampf: Anstatt die Rechtsradikalen offensiv zu attackieren und ihre eklatanten Widersprüche aufzudecken, drohen die demokratischen Parteien sich aus eigener Schwäche selbst weiter zu kannibalisieren“. Der Kommentar wurde allerdings vor der neuesten Initiative des CDU-Vorsitzenden verfasst.

Nachweise


Die Brandmauer befeuert den Bundestagswahlkampf

„Bröckelt die Brandmauer?“ Das fragte ein Online-Kommentar von Johannes Schillo zu den jüngsten Entwicklungen ‚nach Aschaffenburg‘. Hier eine aktualisierte Fassung des Textes.

Der Bundestagswahlkampf hat sein heißes Thema gefunden: Jenseits aller Sachfragen geht es um die brennende Frage, ob die Brandmauer gegenüber der AfD hält. So lautete die Eingangsthese des Overton-Beitrags. Mittlerweile hat es einige Kommentare gegeben, die auf denselben Punkt Nachdruck legen. Bei Telepolis hielt z.B. Harald Neuber fest: „Schwarz-blau ist jetzt: Wie die CDU sich nach rechts öffnet – und das als ‚Brandmauer‘ präsentiert“. Und mit Merkels Einspruch ist jetzt die Aufregung groß, ob wir nicht das Ende der liberalen Demokratie erleben.

Ausgangspunkt war die – sonst immer der AfD unterstellte – Praxis einer ‚disruptiven‘ Intervention. „Merz wagt den Tabubruch“, kommentierte die FAZ (25.1.25) zustimmend nach der letzten Amoktat in Aschaffenburg die Linie des CDU-Kanzlerkandidaten. Der hatte nach den Aufforderungen aus CDU/CSU, aber auch aus der Bildzeitung und anderen Medien angekündigt, rechtsstaatliche oder humanitäre Zimperlichkeiten in Sachen Migration endlich fahren zu lassen. „Das Votum der Deutschen ist klar: Die große Mehrheit will sofortige und drastische Maßnahmen gegen die illegale Migration“, meldete Bild (bild.de, 26.1.25). Die „faktische Schließung deutscher Grenzen für illegale Migranten und Asyl-Sucher“ (Bild) sollte endlich das gefährdete Gemeinwesen wieder zur blühenden Landschaft machen. Das goldene Zeitalter, das Trump seiner Nation versprochen hat, soll also auch hierzulande einkehren.

Das hat Folgen, weniger hinsichtlich der praktischen Konsequenzen, die die nationale Politik ergreifen kann und darf (siehe dazu Graf 2025), als im Blick auf ein ideologisches Konstrukt, das in der BRD höchste politische Priorität besitzt bzw. besaß: Angeblich gibt es einen fundamentalen Unterschied zwischen den demokratischen Parteien und ihren populistischen Rivalen, allen voran der AfD, die ja – in Teilen – als extremistisch zu gelten hat. Automatisch wirksam wird dieser Unterschied freilich nicht, die Demokraten müssen sich gegenseitig immer wieder dazu aufrufen, ihn wirklich zu beachten und die Konkurrenz von rechts aus dem normalen Parteienpluralismus auszugrenzen, eben durch besagte Brandmauer. Doch jetzt heißt es: „Plan zu Migrations-Stopp verändert ALLES“ (bild.de, 27.1.25).

Rechte gegen Genderwahn

Explizit in Frage gestellt wird diese Ausgrenzungsstrategie in christdemokratischen und christlich-sozialen Kreisen schon seit einiger Zeit. Zuletzt hatte die Brandenburger CDU-Politikerin Saskia Ludwig „eine Koalition ihrer Partei mit der AfD nach der Bundestagswahl für sinnvoll“ gehalten (Junge Welt, 24.1.25). Dabei wandte sie sich explizit gegen eine Brandmauer gegenüber der AfD, die nur dieser Partei und dem „linken Lager“ nutze. „Wenn über 50 Prozent Mitte-rechts wählen, dann muss es auch eine Mitte-rechts-Regierung geben für die Bürger“, sagte sie und warb dafür, „dass wir mit unserer Demokratie deutlich entspannter umgehen müssen und den Wählerwillen akzeptieren“. Arnold Schölzel resümierte zutreffend in der Jungen Welt (25./26.1.25): „Die lächerliche Brandmauer zwischen CDU und AfD, die es auf kommunaler Ebene nie gab und die auf Länderebene systematisch durchlöchert wurde, ist Geschichte.“

Ein Beispiel für diese Durchlöcherung hat jüngst die Historikerin Daniela Rüther mit ihrer Studie über „Die Sex-Besessenheit der AfD – Rechte im ‚Genderwahn‘“ (2025) vorgelegt. Es geht um die Polemik, die Rechtsradikale und Rechtspopulisten in Verbindung bzw. Übereinstimmung mit konservativen, gerade auch jüdisch-christlich-muslimischen Kreisen gegen einen „Genderwahn“ der progressiven Kräfte betreiben. Hier bewegt man sich natürlich auf der Ebene einer ideologischen Überhöhung, wo Leitbilder eines sittlich-geordneten Zusammenlebens gegeneinander gestellt werden und beide Seiten die Ebene der praktischen Maßnahmen verlassen, auf der um einzelne familien- oder sozialpolitische Änderungen gerechtet wird, stets kontrovers angesichts „knapper Kassen“ und „vielfältiger Herausforderungen“.

Der von rechts angegriffene Genderwahn soll das Werk eines „Kulturmarxismus“ sein. Sowohl Trump als auch Weidel verwenden diesen ideologischen Kampfbegriff, der den Urheber beim finalen Untergraben der nationalen Sittlichkeit benennen soll. Während der Marxismus politisch keine Rolle mehr spielt, hält er sich erstaunlich zäh als Feindbild – nicht nur rechts außen. Sachlich ist das nicht ganz falsch: Marx und Engels haben schließlich im Kommunistischen Manifest den Proletariern geraten, sich von der Nation und ihren Höchstwerten inklusive Kleinfamilie und Beschränkung der Frauen auf Hausarbeit zu verabschieden.

Der Witz ist nur: Das, was seit gut einem Vierteljahrhundert unter dem Ticket Gender Mainstreaming – ausgehend von UN-Konferenzen – in die europäische und nationale Gesetzgebung als Auftrag zur Gleichstellung von Männern und Frauen Eingang fand und zu verschiedenen (Pseudo-)Aktivitäten wie Genderforschung, gendergerechte Sprache, Anerkennung bislang tabuisierter Sexualpraktiken etc. führte, hat mit dem Marxismus nichts zu tun. Es geht in der Hauptsache darum, wie Menschen, die auf Lohnarbeit angewiesen sind, im Berufsleben oder dem öffentlichen Raum vor Diskriminierungen geschützt, also mit anderen Konkurrenzsubjekten rechtlich und damit dann irgendwie sozial gleichgestellt werden und wie sie das in ihrem Privatleben anhand partnerschaftlicher Leitbilder regeln sollen. Der familiäre Regelungsbedarf bezieht sich darauf, wie die lohnarbeitende Menschheit mit der großartigen Errungenschaft der bürgerlichen Frauenemanzipation fertig wird: dass nämlich die traditionelle Versorgerehe passé ist, in der das Einkommen des männlichen Verdieners den Lebensunterhalt bestritt, und dass mittlerweile beide Partner Geld verdienen müssen, um halbwegs über die Runden zu kommen.

Die politischen Bemühungen um Gendergerechtigkeit zeigen jetzt, wie viel an materiellen Vorleistungen des Staates eingesetzt werden muss, wenn es darum geht, die Folgen der gigantischen Lohndrückungsaktion in den Griff zu bekommen und Friktionen der Konkurrenzgesellschaft dauerhaft zu beseitigen. Von der Empfängnisverhütung und dem Steuersatz auf Babywindeln über frühkindliche Erziehung, Kitawesen, Ganztagsschulen, berufliche Bildung bis zu Regelungen des Karrierewesens, der Ausmalung von Leitbildern oder der Betreuung einschlägiger Kollisionen muss alles Mögliche getan werden, um eine halbwegs funktionierende Work-Life-Balance hinzukriegen.

Wozu Leitbilder verleiten

Die praktischen Maßnahmen, die politisch ergriffen werden, um das Privat- und Familienleben funktional zu halten, sind das eine. Die Idealvorstellungen, die den Familienmenschen dazu nahe gebracht werden, stehen auf einem anderen Blatt. Auch das traditionelle Familienbild hat dabei schon einige Konjunkturen erlebt. Das weibliche Arbeitskräftereservoir staatlich zu erschließen ist ja nichts Neues, sondern seit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg eine Selbstverständlichkeit: Wenn Not am Mann ist, muss die Frau als Krankenschwester oder Rüstungsarbeiterin ihren Dienst leisten, und auch die Faschisten hatten keine Hemmungen, eine Leni Riefenstahl als ihre Starpropagandistin zu beschäftigen oder das weibliche Fußvolk als Funknachrichtenhelferinnen an die Front oder als Aufseherinnen in die KZ‘s zu schicken. Egal, welche idyllische Hausfrauenrolle im Nazi-Leitbild der Familie eigentlich vorgesehen war!

Das moderne Gender Mainstreaming gehört in die Abteilung der übergeordneten Leitbilder. Wie dargelegt ist es – ganz anders, als die Rechten sich das vorstellen – ein Programm, das den nationalen Erfolg sicherstellen soll. Es tut dies mit einem gewissen idealistischen Überschuss, der sich ganz dem Dienst an den weiblichen, männlichen, diversen oder sonstwie sexuell orientierten Konkurrenzsubjekten verpflichtet weiß. Dass eine materielle, soziale Gleichstellung mit dem supranationalen Verbindlichmachen dieser Strategie erreicht worden sei, können die Vertreterinnen und Vertreter dieser Politik nicht gerade behaupten. Aber das spornt anscheinend nur dazu an, auf dem Ideal noch nachdrücklicher zu bestehen, polemisch gesagt: einen regelrechten Genderwahn zu entwickeln. So gesehen, können sich beide Seiten mit diesem Vorwurf beharken.

Und die wertegeleitete, „feministische Außenpolitik“, wie sie unter der Außenministerin Baerbock Kariere machte, schafft es ohne Weiteres, andere Länder (natürlich nur, wenn es politisch opportun ist) daran zu messen, ob in ihnen irgendeine sexuelle Orientierung aus dem LGBT*-Regenbogen auch angemessen respektiert wird. Und die AfD-Vorsitzende Weidel schafft es, den Wahlerfolg des mächtigsten Mannes der Welt deshalb als globalen Hoffnungsschimmer, weil er mit der „Genderideologie“ Schluss machen will.

„Schluss mit der Genderideologie!“

Unter dieser Überschrift standen die Glückwünsche an die Adresse von Donald Trump, die die AfD-Vorsitzende Alice Weidel am 6. November 2024 über diverse Nachrichtendienste mitteilte. „Nicht das woke Hollywood hat diese Wahl entschieden, sondern die arbeitende amerikanische Bevölkerung.“ So begann ihr erstes Statement zur US-Wahl. Im Interview erläuterte sie: „Vor allen Dingen haben junge Leute Donald Trump gewählt. Warum? Weil sie vernünftig ausgebildet werden wollen und nicht mehr diesen ganzen woken linken Genderquatsch gelehrt bekommen wollen… Ich werde Ihnen sagen, was passiert, wenn die AfD in der Regierung sitzt, sie wird genau diesen ganzen Genderquatsch aus dem Bildungsplan rauswerfen.“

Der „Genderquatsch“ lähmt die Tatkraft junger Leute, verhindert den wirtschaftlichen Aufschwung und lässt stattdessen Massenmigration mit ihrer Gefährdung der inneren Sicherheit zu – so das Credo der AfD-Vorsitzenden, die das totalitäre Gender-Projekt auch schon im Bundestag als totalitären Umbau der Gesellschaft brandmarkte: „Die sogenannte ‚gendergerechte‘ Sprache ist ein Orwell-Projekt. Sie … will über die Manipulation der Sprache auch unser Denken im Sinne der Gender-Ideologie beeinflussen und kontrollieren.“

Vom Gender zur Migration

Was die Studie von Rüther schlüssig darlegt, ist die Verbindung dieser Propaganda für das frühere Familienideal und seine klare heterosexuelle Orientierung an naturgegebenen bzw. naturrechtlichen Daten mit der Hetze gegen Migration. Und dabei wird auch deutlich, dass man es hier mit einem gemeinsamen ideologischen Besitzstand zu tun hat, den das konservative Lager, etwa CDU/CSU, mit radikaleren Vertretern von rechts teilt; dass hier von den grundsätzlichen Überzeugungen her gesehen überhaupt keine Brandmauer existiert, dass sie vielmehr erst künstlich hochgezogen werden muss – sei es, um parteipolitischen Konkurrenten eine Grenze zu setzen, sei es aus einem gewissen Modernisierungsbedarf heraus, den etwa eine Kanzlerin Merkel bei ihrem Agieren in Koalitionsfragen oder der Staatenkonkurrenz sah.

Migration gilt den heutigen Rechten als Bedrohung der Volkssubstanz. Ins humanitäre Extrem getrieben – so lautete die damalige Polemik gegen die „Willkommenskultur“ Merkels, an der sich auch konservative Teile der CDU beteiligten und zu der Innenminister Seehofer (CSU) die Anklage vom „Unrechtsstaat“ beisteuerte – laufe sie mittels des initiierten „Bevölkerungsaustauschs“ auf einen nationalen „Volkstod“ hinaus. Eine Schreckensvision, die nicht nur Faschisten, sondern auch Demokraten umtreibt. So hat ja die postfaschistische Staatengemeinschaft nach dem Ende des Nationalsozialismus in einer eigenen Konvention den „Völkermord“ als das größte denkbare Verbrechen verurteilt. Die Ungeheuerlichkeit dieser Untat macht sich nicht an einem Massenmord fest, der hier geplant oder ausgeführt wird. Es kommt darauf an, dass der Täter oder die Täterin ein Volk zum Verschwinden bringen wollen, unabhängig davon, ob gegen viele Angehörige des Feindvolks vorgegangen wird oder nicht. So reicht ja auch schon der Hinweis auf die chinesischen Reeducation-Lager, in denen islamistische Uiguren gezwungen werden, Schweinefleisch zu essen und sich ins nationale Volksleben einzureihen, als Verdacht, dass hier ein „kultureller Genozid“ unterwegs ist.

Zuwanderung und Nachwuchsproduktion gehören – vom Standpunkt des Staates aus – zusammen. Es sind zwei Optionen, dem Bedarf nach einer brauchbaren Bevölkerung nachzukommen. Auf der Website des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) kann man nachlesen (bmfsfj.de), dass es natürlich zu den Aufgaben demokratischer Politik gehört, „den Herausforderungen des demografischen Wandels“ – auch bekannt als die Überalterung unserer Gesellschaft – zu begegnen. Und bekanntlich hat ja Anfang der 2000er Jahre die CDU einen Landtagswahlkampf mit der Parole „Kinder statt Inder“ bestritten. Das könnte eine AfD unmittelbar für ihr Wahlprogramm benutzen! Wobei die AfD sich heute (s.u.) selber an notwendigen Modernisierungen beteiligt. Der Slogan von Rüttgers aus dem nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf des Jahres 2000 würde den Rechtspopulisten heute vielleicht zu sehr nach der Festlegung auf die Rolle „Gebärmaschine“ klingen?

Früher war diese Rolle selbstverständlich. Als „1953 die Regierung Adenauer die Familienpolitik in den Rang eines Ministeriums“ erhob, das erfährt man auch auf der Website des BMFSFJ, galt eine BGB-Praxis, die mit ihrer Benachteiligung von Frauen eindeutig verfassungswidrig war – wie man heute weiß. Die Berufstätigkeit der Frau war ständiger Kritik ausgesetzt, auch und gerade durch den ersten Familienminister Wuermeling (CDU), den das BMFSFJ mit folgenden Äußerungen zitiert: „Für Mutterwirken gibt es nun einmal keinen vollwertigen Ersatz“. Oder: „Eine Mutter daheim ersetzt vielfach Autos, Musiktruhen und Auslandsreisen“. Laut Wuermeling war auch „der Frau die Aufgabe der ‚Selbsthingabe und Selbstverleugnung‘ zugewiesen, ein Dienst an ‚höheren Zielen‘: Fürsorge für Mann und Kinder“.

Die Verbindungslinie zum normalen Konservatismus – und damit der fiktive Charakter der besagten Brandmauer – hat übrigens FAZ-Redakteur Patrick Bahners in seinen Publikationen über die Ausländerfeindlichkeit („Die Panikmacher“, 2011) oder über den neuen deutschen Nationalismus der AfD („Die Wiederkehr“, 2023) besonders hervorgehoben. Die letztgenannte Studie sucht nach den intellektuellen Wurzeln der rechten Partei und wird dabei – wie schon in der Untersuchung zu den antiislamischen, migrationsfeindlichen „Panikmachern“ – im eigenen, nämlich konservativen Lager, speziell in einem von der FAZ geförderten Geistesleben fündig. Und da dürfte Bahners sich ja auskennen!

Ein letzter Punkt sei noch erwähnt: Auch die AfD versteht sich darauf – wie seinerzeit Merkel –, notwendige Modernisierungen vorzunehmen. Man wird sehen, wozu das im Wahlkampf (und danach dann in eventuellen Koalitionsverhandlungen) noch führen wird. In puncto EU hat es ja schon einige Anpassungsmaßnahmen gegeben, ein Dexit ist wohl nicht mehr vorgesehen, eher eine Umwandlung der EU zu einem Bund der Vaterländer (eine nicht gerade brandneue Idee); und auch zur NATO hat es gewisse Treuebekundungen gegeben.

Darüberhinaus bekennt sich die AfD schon seit einiger Zeit zum Schutz von Homosexuellen, Transpersonen oder Frauen, die von sexueller Gewalt (natürlich durch Ausländer!) bedroht sind. Judith Goetz, Mitherausgeberin des Sammelbandes „Rechts, wo die Mitte ist – Die AfD und die Modernisierung des Rechtsextremismus“ (2024), spricht in einem Interview (Konkret, 2/25) von „strategischen Anpassungen“, die der AfD dazu verhelfen sollen, „sich als offen, tolerant und modern zu inszenieren“. Andere Autoren konstatieren das Auftreten eines neuen „Femonationalismus“ oder „Homonationalismus“, der in den betreffenden Szenen – begrenzt – Anklang findet. Dazu passt ja, dass die Kanzlerkandidatin der AfD in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft mit einer Migrantin lebt.

Auf in den Wahlkampf!

Migration als Wahlkampfthema – das schlägt jetzt nach der letzten Amoktat Wellen und „die Parteien überbieten sich in Sachen Schikane von Asylbewerbern, Kriegs- und sonstigen Flüchtlingen“, wie es zuletzt in dem Beitrag „Wenn sich Brandstifter als Feuerwehrleute anbieten“ bei Overton hieß. CDU-Merz preschte aber auch schon Anfang Januar vor und versuchte der AfD die Vorreiterrolle zu nehmen. Er wolle, so sein Votum ‚vor Aschaffenburg‘ (siehe Bild am Sonntag, 5.1.25), selbst Deutsche abschieben, die eingebürgert sind, wenn sie zwei Straftaten begangen haben. Die AfD denkt erst einmal, so die Entscheidung ihres Wahlparteitags, „nur“ an die Abschiebung krimineller oder unberechtigt anwesender Personen…

Eine solche Dramatisierung des Migrationsproblems im Wahlkampf hat in der Tat etwas Wahnhaftes. So als ob hier angesichts von Weltkriegsgefahr, Klimakatastrophe, weltweiter, auch einheimischer Verelendung und Prekarisierung, die jetzt sogar unseren Wohlfahrtsstaat zum Abbau eines überzogenen Leistungskatalogs zwingt, der eigentliche Notstand, der alle betrifft, ausgemacht wäre. Aber sie hat ihre Logik. Wo das Volk sich sowieso keine sozialen Wohltaten mehr von der nächsten Regierung erwarten soll, höchstens die Beseitigung von ein paar Gerechtigkeitslücken (wie vor allem die SPD verspricht), die mit Respekt vor den sozialen Härtefällen ausgefüllt werden sollen, kann man den Leuten auch einmal den eigentlichen Lohn ihrer Dienstbeflissenheit vor Augen führen: Er besteht darin, was Overton schon in den letzten Wahlkampf-Analysen herausstellte, dass man mit anderen, den Migranten und denen, die nicht hierhergehören, noch rabiater umgeht als mit den eigenen Leuten. Das ist das tolle Angebot: Das treue, „privilegierte“ Eigenvolk, das sich alles gefallen lässt, darf beim Wahlkampf dabei zuschauen, wie sich die Parteien mit ihren Vorschlägen zur Schlechterstellung anderer überbieten.

Und lernen kann man am Fall Zuwanderung und Demographie auch noch eine andere Lektion: Nicht die AfD ist, wie gern behauptet, das Original, das jetzt bei den anstehenden Verschärfungen im Asyl- oder Ausländerrecht von den „Altparteien“ kopiert wird. Diese liefern vielmehr die Vorlage, die im Grunde jedem Nationalstaat vertraute Sorge um Intaktheit und Reproduktion(sfähigkeit) seines Volkskörpers. Die Konjunkturen, die sie dabei in arbeitsmarkt-, renten- oder industriepolitischer Hinsicht, bei Kriegen, Umsiedlungen oder sonstigen transnationalen Händeln zu bewältigen haben, liefern dann das Material, an dem sich rechtspopulistische Schmarotzer bedienen können – immer mit dem billigen Vorwurf, man könnte und müsste das Ganze noch mehr im nationalen Interesse gestalten.

P.S. Wie eingangs erwähnt, war der fiktive Charakter der Brandmauer nicht schwer zu erkennen. Dazu gab es ja auch in der politischen Öffentlichkeit immer wieder eindeutige Hinweise – sofern sich die Medien dafür interessierten und nicht, wie nach der Entlarvung des angeblichen Potsdamer „Geheimtreffens“, die Rechtspopulisten aus der demokratischen Gemeinschaft ausgrenzten, weil sie Pläne für eine ethnische Säuberung von NS-Format in den Schubladen hätten und mit der Errichtung einer faschistischen Diktatur beginnen würden, wenn sie an die Macht kämen. Bei Overton hieß es dazu in einem Kommentar im Sommer 2023: „Fragt sich nur, wie lange diese Abgrenzungsstrategie hält, hatte doch auch der frühere SPD-Ministerpräsident Börner zunächst den Grünen mit der Dachlatte gedroht, bevor seine Partei mit ihnen eine Koalition bildete. Bei so viel inhaltlicher Nähe zwischen AfD und den ‚etablierten‘ Parteien kann nach einer Wahl das politische Klima auch schnell kippen, denn schließlich geht es allen – auch der AfD – immer nur um eins: um Deutschland.“

Nachweise

  • Patrick Bahners, Die Panikmacher – Die deutsche Angst vor dem Islam. Eine Streitschrift. München 2011.
  • Patrick Bahners, Die Wiederkehr – Die AfD und der neue deutsche Nationalismus. Stuttgart 2023.
  • Suitbert Cechura, Umfragehoch für die AfD – oder was die Wähler falsch machen, in: Overton-Magazin, 24. August 2023.
  • Suitbert Cechura, Wenn sich Brandstifter als Feuerwehrleute anbieten, in: Overton-Magazin, 19. Januar 2025.
  • Judith Goetz, „Transpersonen fungieren als Kronzeug*innen“ – In der AfD engagieren sich erstaunlicherweise auch Transpersonen. Interview in: Konkret, Nr. 2, 2025, S. 40-41.
  • Judith Goetz/Thorsten Mense (Hg.), Rechts, wo die Mitte ist – Die AfD und die Modernisierung des Rechtsextremismus. Münster 2024.
  • Joshua Graf, Flucht – Asyl – Abschottung und das GEAS. 99 zu Eins, Episode 463, 23.1.25.
  • Daniela Rüther, Die Sex-Besessenheit der AfD – Rechte im „Genderwahn“. Bonn 2025.

Januar

Was verweigern eigentlich KDVler?

Die Wehrpflicht kommt wieder, damit auch das Recht der Kriegsdienstverweigerung (KDV), das im Grundgesetz verankert ist, zu neuer Bedeutsamkeit. Dazu ein Kommentar von Johannes Schillo.

Im Overton-Magazin erschien jüngst der Beitrag „Von der Kriegsdienstverweigerung zur Kriegstreiberei“. Er fragte: „Wo sind sie hin, die Anhänger der Gewaltfreiheit im friedenspolitisch geläuterten Deutschland, all die Verweigerer, die es einmal gab?“ Ja, sag mir, wo die Typen sind, wo sind sie geblieben, könnte man mit Pete Seeger anstimmen. Die Antwort ist natürlich ganz einfach, sie sind an der Macht, saßen z.B. im Kabinett der Ampelregierung, wo es kaum jemanden gab, der gedient hat. Kanzler Scholz und Vizekanzler Habeck konnten es z.B. vor Jahrzehnten nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren, auf Menschen zu schießen, und erinnern sich heute – irgendwie distanziert, auch belustigt – an ihre pazifistisch infizierte Jugendphase.

Habeck steht zu seiner Biographie, wie er dem Spiegel Ende 2024 mitteilte: Er „absolvierte einst den Zivildienst – und erinnert diesen als gute Zeit. Zwar sei er mit seiner damaligen Entscheidung im Reinen. Aber: ‚Ob ich das heute so tun würde in einer anderen Situation, das weiß ich nicht, beziehungsweise ich vermute, ich würde es nicht tun‘.“ Genial verlogen das Bekenntnis zur eigenen Geradlinigkeit, aber auch sachgerecht das Kokettieren mit der Gewissensentscheidung, von der man nur mutmaßen kann, wie sie in der konkreten Situation ausfällt.

Das passt zum KDV-Recht. Hier ist ja eine innere Stimme verlangt, die man sich als Instanz im Menschen denken muss. „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“ So das Grundgesetz. Nicht die Vernunft, der Widerwille gegen das Töten wildfremder Leute oder gar die eigene Bequemlichkeit, die von Aufenthalten in Schützengräben lieber Abstand nimmt, dürfen hier geltend gemacht werden. Ein „ich will das nicht“ hat hier keine Berechtigung, auch dann nicht, wenn ein „weil…“ folgt und die Gründe ausführlich dargelegt werden, wie Ole Nymoen das für sein neues Buch bei Rowohlt angekündigt hat. Die Stimme des Gewissens ist gefragt und dieser innere Vorgang muss in der glaubwürdigen Inszenierung einer sittlichen Persönlichkeit dem Prüfungsausschuss präsentiert und von dort abgesegnet werden.

Pazifismus aus nationaler Verantwortung

Damit ist das ganze KDV-Wesen – wie immer demnächst das Bundesgesetz das „Nähere“ regeln wird, ob per vereinfachtem Antragsverfahren mit schriftlicher Begründung oder aufwändiger mit dreistufigem Prüfungsausschuss etc. – auf eine individualisierende, irrationale Schiene gesetzt, die jedenfalls einen oppositionellen Geist gegen staatliche Indienstnahme unterbinden will. Dass die Friedensbewegten und Verweigerer von gestern die Kriegstreiber von heute sind, kann man trotzdem als Widerspruch festhalten. „Nur ein Ampelminister hat Wehrdienst geleistet“, vermeldet bei Gelegenheit immer noch erstaunt die Presse, sogar „Finanzminister Christian Lindner (FDP) leistete Zivildienst.“

Wer sich darüber wundert, hat allerdings zwei Dinge übersehen. Erstens die Vorgeschichte des neuen deutschen Militarismus und zweitens den systematischen Grund, der politisch denkende Menschen zu diesem eigenartigen Übergang – von der Verweigerung militärischer Notwendigkeiten zum glatten Gegenteil – bewegt. Der Overton-Beitrag hat dies im Blick auf die grundsätzlichen Triebkräfte, nämlich den Nationalismus der damaligen Friedensbewegung und den staatstreu eingefärbten Pazifismus, zu erklären versucht. Dazu hier einige Nachträge.

Der erste Punkt dürfte den heutigen Resten der Friedensbewegung kein Geheimnis sein, haben sie doch in den 90er Jahren hautnah erlebt, wie sich realpolitisch bzw. verantwortungsvoll denkende Weggefährten in den Mainstream bzw. in neue Politkarrieren verabschiedeten. Es war ja gerade der grüne Anspruch auf „robuste“ Durchsetzung von Menschenrechten, der neue „Bellizismus“ von Gutmenschen, der nach der Wende im Osten die Weichen hin auf Kriegsbeteiligung stellte und der schließlich im Bündnis mit der Sozialdemokratie 1999 – in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, wie Kanzler Schröder später einräumte – Serbien zur Räson brachte. Eine Analyse in Sachen „konsequente Karriere von Kriegsgegnern zu gewissenhaften Militaristen“ kann man übrigens im Gegenstandpunkt nachlesen. Der Text, der bereits Anfang 1996 erschien, also lange bevor unter Rotgrün die Entscheidung in Sachen Kosovokrieg fiel, legt auch im Einzelnen den antikritischen Geist des staatlich konzessionierten Pazifismus dar.

Dessen zentraler Fehler besteht in der Bereitschaft, sich der Instanz, die mit Krieg und Frieden als Optionen ihrer Selbstbehauptung wie auswärtigen Durchsetzung kalkuliert, als dienstbereites Individuum zu unterstellen, das nur an einer Stelle, quasi aufgrund eines persönlichen Defekts, beim loyalen Mitmachen behindert ist. „Die Tatsache des Krieges entdeckt der Pazifist, die Frage nach dem Grund des Krieges ist für ihn irrelevant. Er verurteilt den Krieg, nicht aber die Politik, die die Kriegsgründe schafft und für die Durchsetzung ihrer Vorhaben bisweilen zu dieser letzten Konsequenz schreitet. Dabei ließe sich dem politischen Getriebe in der Zeit zwischen den Kriegen durchaus einiges über deren Gründe entnehmen…“ (Held 1996, 154)

Wie gesagt, das ist eine Analyse, die sich auf die Entwicklung bis 1995 bezog, als die Großtaten des grünen Bellizismus noch gar nicht stattgefunden hatten. Außerdem wäre daran zu erinnern, dass die Marxistische Gruppe, der Vorläufer des Gegenstandpunkt, mit ihrer Kritik am Nationalismus der Friedensbewegung bei den einschlägigen Demos der 80er von Anfang an vertreten war, sogar selber eine Großdemo in Bonn veranstaltete; dass diese Kritik also in der Republik öffentlich präsent war (siehe auch Held/Ebel 2023), von den friedensbewegten Aktivisten jedoch entschieden zurückgewiesen wurde, da die Herstellung eines „breitesten Bündnisses“ Priorität habe. Die nationale Borniertheit der damaligen Friedensbewegung war aber auch Thema an anderer Stelle, etwa beim März-Verleger Jörg Schröder, der später mit der Rubrik „Schröder erzählt“ sein erzählerisches Talent unter Beweis stellte.

Schröder konnte wirklich viel erzählen, wenn der Tag lang wurde, und seine Oral History „COSMIC“, die er zusammen mit dem Journalisten Uwe Nettelbeck verfertigte, wartete mit der steilen These auf, er, Schröder, sei der Erfinder der westdeutschen Friedensbewegung gewesen. Denn er habe das Schreckensszenario „Atom-Rampe Deutschland“, so der reißerische Stern-Titel von 1981, in die Welt gesetzt und damit den Startschuss für die öffentliche Aufregung gegeben. Was er in der Tat belegen kann ist ein allgemeines Totschweigen der konkreten Atomkriegsgefahr, das Ende der 70er Jahre in der westdeutschen Öffentlichkeit vorherrschte. Qualitätsmedien wie Spiegel, FR, FAZ wollten von Atomwaffen, die bereits auf deutschem Boden lagerten und das atomare Risiko für Deutschland auch ohne die neuen Pershings und Cruise Missiles der Nachrüstung erhöhten, nichts wissen (vgl. Schröder/Nettelbeck 1982, 145f).

Der März-Verlag teilt resümierend über den „Politskandal“ von 1980 mit: „Schröder entdeckt die Depots von Mininukes entlang der Zonengrenze, welche in sogenannten ‚Wasserwerken‘ lagern, erzählt davon in ‚Transatlantik‘ und der ‚taz‘. Verfassungsschutz und CIA reagieren panisch, der ‚Stern‘ steigt ein mit ‚Atomrampe Deutschland‘, Beginn der neuen Friedensbewegung.“ Der nationalistische Geist der Bewegung wird bei Schröder deutlich, wenn auch eher in gehässigen Bemerkungen über einzelne Aktivisten und über den provinziellen Geist dieses Heimatschutzes, Entwicklungen zum Ökofaschismus inbegriffen: „es muß dieser ganze Müslimuff und Moralmuff und Bewegungsmuff sich nicht unbedingt wie schon einmal gehabt transformieren, aber weiß der Teufel, aus welchem Ei es kriechen wird“ (Schröder/Nettelbeck 1982, 257).

Wir verweigern uns!

Man wird in der BRD jetzt natürlich abwarten müssen, wie die Neufassung oder Wiederinkraftsetzung der Wehrpflicht im Einzelnen aussieht und welche Neuerungen (Einbeziehung des weiblichen Nachwuchses, Einführung eines allgemeinen Dienstjahres…) sich eventuell ergeben. Die Abschaffung des KDV-Rechts ist dabei kaum zu erwarten. Wenn es bei der bisherigen gesetzlichen Regelung bleibt, unterstützt es ja auch die Herstellung einer individualistischen Haltung, die nicht zu Opposition anregt. Und das mehrstufige Prüfverfahren ist so angelegt, dass auf dem Verwaltungswege die Anerkennungskriterien ohne großen Aufwand verschärft werden können. Die Ausschussmitglieder prüfen ja eine innere Einstellung und haben daher ziemliche Freiheiten, um sich vom persönlichen Auftreten des Prüflings und seiner moralischen Inszenierung beeindruckt zu zeigen oder auch nicht.

Der Bundeskongress der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG/VK) fand Ende 2024 unter dem Motto „Kriegsdienstverweigerung ist Menschenrecht! Weltweit!“ in Halle statt. Man kam zusammen, um über die gegenwärtigen Kriege und eine mögliche Reaktivierung der Wehrpflicht zu diskutieren. „Mit der Debatte über die von Pistorius im Juni vorgestellten Pläne für einen sogenannten Neuen Wehrdienst rückt auch hierzulande das Thema Verweigerung wieder auf die Tagesordnung“, resümiert das Neue Deutschland die Einschätzung der Kongressteilnehmer. Der DFG-Geschäftsführer erklärte dazu: „Wir bieten schon wieder Beratung an und wir bekommen auch Anfragen“. „Wehrpflicht ohne mich“ lautet denn auch das Motto einer Kampagne, die die Friedensorganisation „in der nächsten Zeit“ durchführen will.

Natürlich kann man Kriegsdienstverweigerung als Möglichkeit zum antimilitaristischen Einspruch nehmen, d.h. das KDV-Recht tendenziell missbrauchen. Es gab ja sogar eine Zeit, als Kriegsdienstverweigerung, die von Anfang an mit gewissen bürokratischen Hürden versehen war, eine Verbindung mit einer Protestbewegung einging. In den zehn Jahren nach der Wiederbewaffnung führte sie zunächst ein Schattendasein und stieg erst danach, im Zuge der Unruhen von APO und antiautoritärer Revolte, zu einer Massenbewegung auf. Sich „dem System“ zu verweigern, wurde zum Programm einer lautstarken und tonangebenden Minderheit, die nach dem Urteil der Jugendforschung damals das Profil der „protestierenden Generation“ bestimmte.

Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt haben zuletzt in ihrem Videopodcast „Wir diskutieren über Herbert Marcuse!“ (2024) an diese Zeit erinnert. Sie beschäftigen sich mit Marcuses „Versuch über die Befreiung“ (1969), in dem sich der Kritische Theoretiker aus dem Kreis um Adorno und Horkheimer mit dem herrschenden „korporativen Kapitalismus“ auseinandersetzte und mit dem damaligen Protestpotenzial – mit Studentenbewegung, Bürgerrechtsprotesten, antiautoritärer Rebellion in den Metropolen, mit Revolten oder Aufständen im globalen Süden. All das müsste man miteinander verbinden, Chancen dazu gebe es. „Die Große Weigerung nimmt verschiedene Formen an“, hieß es eingangs in Marcuses Statement (Marcuse 1969, 9). Der Widerstand beschränke sich nicht auf die Front gegen die Kapital-Interessen, sondern ziele auch darauf, „Frieden zu verwirklichen“, denn die „jungen Rebellen wissen oder fühlen, daß es dabei um ihr Leben geht, um das von Menschen, das zum Spielball in den Händen von Politikern, Managern und Generälen wurde.“ (Ebd., 12)

Das Duo Nymoen/Schmitt, das den Podcast Wohlstand für alle betreibt, diskutiert Marcuses Hauptthese, die „korporativ“ ins System integrierte Arbeiterbewegung müsse durch weitere Protestbewegungen wiederbelebt, verstärkt und erweitert werden – aber ohne dass der Gegensatz von Kapital und Arbeit aus dem Blickfeld gerate und ohne dass ein Abgleiten in reformistische, kultur- oder konsumkritische Verbesserungsprogramme stattfinde. Marcuses Vorschläge erweisen sich, so könnte man das Fazit der Diskussion ziehen, als wenig hilfreich; im Grunde werde ein Wunschtraum ausgebreitet, der gleichzeitig wieder mit „realistischen“ Argumenten ein Dementi erfahre.

Am Schluss bleibt vielleicht als wichtigster Punkt aus Marcuses Überlegungen die Warnung, nicht im Vertrauen aufs Völker- oder Menschenrecht der Staatsautorität entgegenzutreten – so als könnte man sie auf die Einhaltung höherer Normen verpflichten. Wenn die DFG Kriegsdienstverweigerung zum Menschenrecht – „Weltweit!“ – erklärt, dann ist das eben auch nur ein Wunschtraum. Die UN-Charta der Menschenrechte kennt kein spezifisches Recht auf Kriegsdienstverweigerung, das weiß auch die heutige Protestbewegung. Wenn es wirklich zu einer Großen Weigerung kommen soll, dann bedarf es des Oppositionsgeistes und nicht der Vertrauensbildung in die dem Volk gewährten Grundrechte.

Nachweise

  • Karl Held/Theo Ebel: Krieg und Frieden – Politische Ökonomie des Weltfriedens. (Edition Suhrkamp, Neue Folge, Nr. 149, 1983) 2. Auflage, Gegenstandpunkt, München 2023. Siehe die Rezension im socialnet.
  • Karl Held (Red.), Das Elend des Pazifismus – Die konsequente Karriere von Kriegsgegnern zu gewissenhaften Militaristen, in: Gegenstandpunkt, Nr. 1/2, 1996, S. 147-160, online: https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/elend-pazifismus
  • Herbert Marcuse, Versuch über die Befreiung. Edition Suhrkamp 329. Frankfurt/Main 1969.
  • Ole Nymoen, Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde – Gegen die Kriegstüchtigkeit. Rowohlt, Hamburg 2025 (erscheint Anfang März).
  • Ole Nymoen/Wolfgang M. Schmitt, Frankfurter Schule: Wir diskutieren über Herbert Marcuse! Wohlstand für alle, Episode 278, 4.12.2024 https://www.youtube.com/watch?v=MraFDEMrNHA&t=187s
  • Jörg Schröder/Uwe Nettelbeck, COSMIC. In: Die Republik, Nr. 55-60, 3. Juni 1982, S. 54-340.

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