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Textbeiträge 2023

An dieser Stelle veröffentlichen wir Texte und Debattenbeiträge. Wer Anmerkungen dazu hat, wende sich an die IVA-Redaktion (siehe „Kontakt“).

Dezember

Die EU – ein Imperialismus im Schafspelz

Von Renate Dillmann und Johannes Schillo sind weitere Beiträge zur Debatte über den Imperialismus erschienen. Dazu ein Hinweis der IVA-Redaktion.

Vor gut zehn Jahren erhielt die EU den Friedensnobelpreis mit der Begründung: „Die Union und ihre Vorgänger haben über sechs Jahrzehnte zur Förderung von Frieden und Versöhnung beigetragen. Seit 1945 ist diese Versöhnung Wirklichkeit geworden.“

Versöhnlich geht es in der EU allerdings nicht zu, wie jeder weiß (siehe Brexit, Haushaltsstreitigkeiten, Asylreform, Nahostkonflikt…). Und die Friedensförderung besteht heute vor allem in Aufrüstung und in der Herstellung von „Kriegstüchtigkeit“ da, wo die Militarisierung noch nicht voll gegriffen hat. Selbst die Chefs dieses Staatenbundes – und nicht zu vergessen: Chefinnen – kriegen es nur mit größter Heuchelei hin, die Schuld dafür Putin in die Schuhe zu schieben. Der soll ja die „europäische Friedensordnung“ zerstört haben.

Eine Ordnung, die nach 1980 zum Schauplatz eines finalen Nach-, d.h. Aufrüstungsprogramms geworden war und die nach 1990 so hoffnungsvoll nach Osten ausgriff, nachdem die Sowjetmacht im Rüstungswettlauf kapituliert hatte. Die 90er waren die Jahre, als die EU unter deutschem Druck den Balkan aufmischte und schlussendlich mit einer bombigen NATO-Friedensmission – nassforsch am Völkerrecht vorbei – die gegenwärtig in der Endphase befindliche Erschließung des Ostblocks einleitete. Jetzt muss nur noch gelingen, dass unsere Sanktionen und unser Wirtschaftskrieg, wie von Außenministerin Baerbock angekündigt, „Russland ruinieren“.

Ein Vasall, der keiner sein will

Skeptische Beobachter, wie der britische Politikberater Anatol Lieven, der jüngst bei Telepolis (21.10.2023) zu Wort kam, teilen die Aufbruchsstimmung nicht. Sie verweisen etwa auf Gutachten der Denkfabrik Europäischer Rat für Auswärtige Beziehungen. In der aktuellen Lagebeurteilung ist dort die Rede von einer „vassalisation“ der EU, die statt des Aufwuchses eines eigenständigen (Deutsch-)Europas zur Großmacht eine Degradierung erwarten lasse: „Es gibt eine Tendenz bei US-Amerikanern, sich selbst zu beglückwünschen dafür, Europa im Zuge des Ukraine-Kriegs der US-Strategie unterworfen zu haben“.

Andere wie die Politik-Professorin Ulrike Guérot, ehemals Leiterin der erwähnten Denkfabrik, beschwören unter Rückgriff auf die kulturelle Tradition des Abendlands eine „EUtopie, die humanistisch, antifaschistisch, antimilitärisch, inter-nationalistisch und antikapitalistisch ist“ (https://overton-magazin.de/buchempfehlungen/endspiel-europa/). Weil die bekennende Europaidealistin mit der Forderung schließt, Europa müsse „alles tun, um diesen Krieg sofort zu beenden“, ist sie an einer deutschen Universität nicht mehr tragbar. Bei IVA wurden die dubiosen Gründe, die von der Universitätsleitung genannt, d.h. leicht erkennbar vorgeschoben wurden, ja bereits gewürdigt (siehe unter Texte23).

Im Blick auf die geistige Lage seit der „Zeitenwende“ ist nämlich hierzulande eins klargestellt worden: In eine Europavision auch noch eine Aussöhnung mit Russland einzubauen, geht gar nicht. Da wissen Antifa-Experten gleich Bescheid. Man soll zwar unbedingt für die europäische Integration sein, weil (Post-)Faschisten und Rechtspopulisten dagegen sind und weil, wie es heißt, der Nationalstaat ausgedient hat. Aber das Projekt eines geeinten Europas, das sich nach Osten orientiert, ohne die USA zu fragen, soll faschistisch sein (https://www.hagalil.com/2023/01/spott-light-afd/). Beweis: Carl Schmitt hat damals einen Ausschluss der „raumfremden Macht“ USA gefordert und Chrupalla wie Höcke wollen heutzutage keinen Krieg mit Russland, sondern von dort billiges Erdgas zum Nutzen des deutschen Standorts importieren. Schutz „unserer“ Wirtschaft – wenn das kein Nazi-Traum ist…

Dass das Europa der EU eine – bis an die Zähne bewaffnete – Festung ist und weit entfernt von einer allgemeinen Aussöhnung mit anderen Völkern („Seid umschlungen Millionen…“), weiß schließlich die legendäre europäische Zivilgesellschaft von Brot für die Welt bis Pro Asyl. Sie zeigt sich maßlos darüber enttäuscht, dass im Innern ein emotional aufgeladener Kampf gegen „irreguläre Migration“ geführt, dass im Mittelmeer der Tod Tausender hingenommen und die Lage mit der Funktionalisierung der Anrainerstaaten noch verschärft wird. Und nicht zuletzt wird hier beklagt, dass eine Europäische Friedensfazilität mittlerweile ganz friedlich Kriege finanziert, z.B. die Ukraine mit 3,6 Milliarden Euro aufgerüstet hat.

Vielleicht wäre es da einmal angebracht, von gängigen Täuschungen Abschied zu nehmen. Also nicht zu fragen, welche Versäumnisse den Aufbruch des EU-Projekts zur Friedensmacht dauernd behindern und wie dem mit neuen Visionen beizukommen wäre, sondern zu klären, was das Projekt ist. Bei nüchterner Betrachtung kann man hier nämlich zu dem Schluss kommen, dass man es schlicht und ergreifend mit dem Agieren einer aufstrebenden imperialistischen Macht zu tun hat, die sich „im Schafspelz“ präsentiert.

Die „Rückkehr des Imperialismus“

Einen Diskussionsbeitrag in diesem Sinne hat jetzt die Zeitschrift Konkret in ihrer aktuellen Ausgabe gebracht: „Make Europe Great Again“ (Nr. 12, 2023, Autoren: Renate Dillmann und Johannes Schillo). Er setzt die in der Nr. 11 begonnene Bilanz der neueren Imperialismusdiskussion fort („Imperialismus revisited“). Dort hieß es zur – „seitenverkehrten“ – Wiederentdeckung eines von Grund auf problematischen Staatenverkehrs: „Er ist wieder da – der Imperialismus, der alte Wiedergänger. Heute taucht er in Russland und China auf. Kanzler Scholz konstatierte bei seiner Rede vor den Vereinten Nationen mit Blick auf den Ukraine-Krieg ‚blanken Imperialismus‘. Und deutsche Medien kommen, unterstützt von den einschlägigen ‚unabhängigen‘ Denkfabriken, bei ihren bekannt präzisen Analysen zu dem Ergebnis, dass das außenpolitische Verhalten der Volksrepublik China nicht anders als ‚klassisch imperialistisch‘ einzustufen ist – so unisono die FAZ, der Deutschlandfunk und die Bundeszentrale für politische Bildung“.

Auch die Osteuropaforschung und andere Wissenschaften stehen nicht an, hier unverzüglich ihren Beitrag zu leisten (vgl. „Denkfabriken fabrizieren Kriegspropaganda“, IVA-Texte2023). Deutsche Experten verfertigen dazu Definitionen, die punktgenau den russischen „Neoimperialismus“ erfassen, während die US-Dominanz auf dem Globus als eine einzige Schutzmaßnahme vor einem seit der Zarenherrschaft feststellbaren slawischen Expansionsdrang erscheint. Die „Zeitenwende“ erweist sich so als eine Gesinnungswende, kurz gesagt: „Deutsche Kriegsmoral auf dem Vormarsch“ (Wohlfahrt/Schillo 2023).

Diese moralische Aufrüstung knüpft an den Aufstieg Europas zu einer Großmacht an, bei dem Deutschland eine führende Rolle spielt und sich ja auch mittlerweile explizit als – militärische – „Führungsmacht“ (Scholz) bekennt. Im neuen Konkret-Artikel wird unter der ersten von fünf Thesen zur EU („1. Die EU ist ein imperialistisches Konkurrenzprojekt“) dazu ausgeführt: „Die EU ist nicht auf die Welt gekommen, um die europäischen Völker nach zwei Weltkriegen auszusöhnen. Es gibt sie auch nicht deshalb, weil die Idee des Nationalstaats nicht mehr in die Zeit passt. Die EU entstand – ganz im Gegenteil – als Bündnis europäischer Nationalstaaten, denen ihre eigene Macht zu gering erschien. Der letzte Krieg hatte zwei Großmächte hervorgebracht – die USA und die UdSSR – und kein europäischer Staat, ob nun Kriegsgewinner oder Kriegsverlierer, konnte diesen beiden zukünftig auch nur annähernd gewachsen sein. Im beginnenden Kalten Krieg stellten sich die westeuropäischen Staaten auf die Seite der neuen antikommunistischen Allianz, traten in die Nato ein und verbündeten sich mit den USA gegen den Ostblock.“

Die zweite These lautet daher „Die EU will und muss Weltwirtschaftsmacht werden“, daran anschließend die dritte: „Mit dem Euro will die EU die ökonomische Vormachtstellung der USA angreifen“. Wie schon in Konkret Nr. 11 ausgeführt, gehört zu einem solchen Projekt, das seine Interessen weltweit geltend machen will, das auf allen Märkten zu Hause ist und den ganzen Globus für seine wirtschaftliche Stärkung benutzt, natürlich eine politische und strategische Absicherung. Dieser Sachverhalt wird in der vierten These gewürdigt, während die fünfte sich mit dem – konsequenten – Auftrieb nationalistischer Gegenbewegungen befasst: „Euro-Skeptizismus und Neofaschismus sind Resultate des deutschen Erfolgs“. Dieser liefert in den Augen deutscher Politiker dann die Berechtigung, den eigenen Führungsanspruch ganz unverhohlen – auch in puncto Militär, wo man sich angeblich bislang zurückhielt – anzumelden.

„Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt“ – so beginnen jetzt die aktualisierten Verteidigungspolitischen Richtlinien der BRD (BMVg 2023). „Die internationale Ordnung wird in Europa und rund um den Globus angegriffen“, heißt es weiter. Passend dazu hat das Auswärtige Amt in der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie festgehalten, dass hier natürlich an erster Stelle Russland gemeint ist, das mit seiner „imperialen Politik Einflusssphären“ (AA 2023, S. 22) einzurichten versucht. So muss auch die Sicherheitsstrategie im Fall von Putins Angriff auf die Ukraine „die Rückkehr des Imperialismus nach Europa“ (AA 2023, S. 39) konstatieren.

Dass der Krieg bereits vor einem Vierteljahrhundert mit der Bombardierung Serbiens unter forscher Mitwirkung Deutschlands nach Europa ‚zurückkehrte‘; dass der Zusammenschluss (West-)Europas unter der Ägide der Pax Americana von Anfang an ein imperialistisches Konkurrenzprojekt war, wie im Konkret-Beitrag im Einzelnen ausgeführt wird; dass die Einigung zu einem europäischen Bund „unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung“ (Reichskanzler Bethmann-Hollweg) schon bei Weltkrieg Nr. 1 und dann ebenfalls bei Nr. 2 im Programm war – all das muss man vergessen, wenn man den Aufwuchs der heutigen BRD zur „Führungsmacht“ feiert.

Was hier als Bedrohungsszenario entworfen wird, ist dabei das Spiegelbild der eigenen Anstrengungen, mit der EU Einflusssphären zu schaffen und gegen Kontrahenten oder Rivalen abzugrenzen. Natürlich wird dies – Stichwort interner Streit – von konkurrierenden europäischen Nationalstaaten praktiziert, die selber ihre jeweiligen Interessen verfolgen, sich auch über die Rolle von Führung und Gefolgschaft nicht einig sind. Gerade soll z.B. ein deutsch-italienischer Aktionsplan Italien auf gemeinsame strategische Leitlinien mit Deutschland – gegen Frankreich – festlegen (vgl. https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9412). Aber in einem Punkt besteht Einigkeit: Wenn sich die 27 Staaten von sehr unterschiedlichem Kaliber zusammenschließen und auf dem Globus ‚mit einer Stimme sprechen‘, dann können sie gegenüber anderen eine viel größere Wucht, sprich: außenpolitische Erpressungsmacht entfalten; dann lässt sich die immer wieder beschworene „Abhängigkeit“, die die Beteiligung am Weltmarkt mit sich bringt, als Waffe gegen Konkurrenten viel effektiver nutzen.

Die Rückkehr der „Zeitenwende“

Und wenn schon die deutsche Politik den Blick zurückwendet aufs Jahrhundert des Imperialismus und auf den Eintritt ins Zeitalter der Weltkriege, kann man sich vielleicht auch einmal an einen unverdächtigen Zeitzeugen halten, an den Schriftsteller Thomas Mann. Der hat in seinem 1947 erschienenen Roman „Dr. Faustus“, der eine Abrechnung mit deutschem Ungeist und Unheil im 20. Jahrhundert, aber auch mit Manns eigener deutschnationaler Vergangenheit darstellt, an den mit wehenden Fahnen vollzogenen Übergang in dieses mörderische Zeitalter erinnert. Der Roman zeichnet ein eindringliches Bild von der fatalen „Zeitenwende 1913-14“ (Mann 1980, S. 370), die damals vom Bürgertum als Aufbruch empfunden wurde, und von der nationalen Hybris, mit der der Deutsche gegen die europäischen Völker antrat.

Hier ist ja auch eine ungebrochene Tradition deutscher Intellektueller und Meinungsmacher zu verzeichnen. Aus deren Kreis wurde im Oktober 1914, kurz nach Kriegsbeginn, als die ausländische Presse deutsche Kriegsverbrechen im neutralen Belgien bekannt machte, das „Manifest der 93“ (siehe den Eintrag bei Wikipedia) veröffentlicht. „Als Vertreter deutscher Wissenschaft und Kultur“ erhoben hier prominente Figuren wie der Liberale Friedrich Naumann (nach dem die FDP heute ihre Stiftung benennt) „vor der gesamten Kulturwelt Protest gegen die Lügen und Verleumdungen, mit denen unsere Feinde Deutschlands reine Sache in dem ihm aufgezwungenen schweren Daseinskampfe zu beschmutzen trachten“.

Ein besonderes Anliegen war es den Unterzeichnern, die von der Entente geübte Kritik am deutschen bzw. preußischen Militarismus zurückzuweisen und die betreffenden Vorwürfe als Kampf gegen die deutsche Kultur zu entlarven. Denn, so das Manifest: „Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt. Zu ihrem Schutz ist er aus ihr hervorgegangen in einem Lande, das jahrhundertelang von Raubzügen heimgesucht wurde wie kein zweites. Deutsches Heer und deutsches Volk sind eins. Dieses Bewußtsein verbrüdert heute 70 Millionen Deutsche ohne Unterschied der Bildung, des Standes und der Partei.“

Die Betonung der eigenen Friedfertigkeit – bei aller Aufrüstung und bei allem Kampf gegen „Kriegsmüdigkeit“, also bei Bemühungen, die früher unter die Rubrik „Militarismus“ fielen – ist eine Konstante geblieben. Auch soll das Volk treu zu seiner Wehr stehen und sich mit ihr eins fühlen, wie von Bundespräsident Steinmeier immer wieder angemahnt. Natürlich ist heute die weltpolitische Konstellation eine andere, doch in einem ist sich die deutsche Öffentlichkeit treu geblieben: Wenn wir uns „kriegstüchtig“ (Pistorius) machen, dann geschieht das aus reiner Friedensliebe, zum Schutz von Werten und so.

Apropos Thomas Mann – so sah einmal das deutsche Schuldbewusstsein nach der Kriegsniederlage 1945 aus (Mann 1980, S. 643f): „Der dickwandige Folterkeller, zu dem eine nichtswürdige, von Anbeginn dem Nichts verschworene Herrschaft Deutschland gemacht hatte, ist aufgebrochen, und offen liegt unsere Schmach vor den Augen der Welt, der fremden Kommissionen, denen diese unglaubwürdigen Bilder nun allerorts vorgeführt werden, und die zu Hause berichten: was sie gesehen, übertreffe an Scheußlichkeit alles, was menschliche Vorstellungskraft sich ausmalen könnte. Ich sage: unsere Schmach. Denn ist es bloße Hypochondrie, sich zu sagen, daß alles Deutschtum, auch der deutsche Geist, der deutsche Gedanke, das deutsche Wort von dieser entehrenden Bloßstellung mitbetroffen und in tiefe Fragwürdigkeit gestürzt worden ist? Ist es krankhafte Zerknirschung, die Frage sich vorzulegen, wie überhaupt noch in Zukunft ‚Deutschland‘ in irgendeiner seiner Erscheinungen es sich soll herausnehmen dürfen, in menschlichen Angelegenheiten den Mund aufzutun?“

Tja, ist das noch als Schullektüre tragbar? Nach Astrid Lindgren und Roald Dahl wird man wohl auch Thomas Mann umschreiben müssen…

Nachweise

AA – Auswärtiges Amt, Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig. Integrierte Sicherheit für Deutschland – Nationale Sicherheitsstrategie. 21. Juni 2023, www.auswaertiges-amt.de.

BMVg – Bundesministerium für Verteidigung, Verteidigungspolitische Richtlinien 2023. 9. November 2023: https://www.bmvg.de/de/aktuelles/verteidigungspolitische-richtlinien-2023-veroeffentlicht-5701338.

Renate Dillmann/Johannes Schillo, Imperialismus revisited. In: Konkret, Nr. 11, 2023.

Renate Dillmann/Johannes Schillo, Make Europe Great Again. In: Konkret, Nr. 12, 2023.

Anatol Lieven, Perfekter Sturm: Wollen wir die Gesundheit Westeuropas der Ukraine zuliebe opfern? Telepolis, 21.10.2023: https://www.telepolis.de/features/Perfekter-Sturm-Wollen-wir-die-Gesundheit-Westeuropas-der-Ukraine-zuliebe-opfern-9339206.html

Thomas Mann, Dr. Faustus (1947). Frankfurter Ausgabe, 1980.

Johannes Schillo, Imperialismus heute. Overton, 29.10.2023: https://overton-magazin.de/top-story/imperialismus-heute/

Johannes Schillo, Die Osteuropaforschung – auf antiimperialistischem Kurs? Overton, 11.11.2023: https://overton-magazin.de/top-story/die-osteuropaforschung-auf-antiimperialistischem-kurs/

Norbert Wohlfahrt/Johannes Schillo, Deutsche Kriegsmoral auf dem Vormarsch – Lektionen in patriotischem Denken über „westliche Werte“. Eine Flugschrift. Hamburg 2023.

Eine erste Version des Textes ist bei Telepolis erschienen.


November

Osteuropaforschung und Imperialismusdebatte

Zur Wiederentdeckung des Imperialismusbegriffs in der Wissenschaft gibt es neue Veröffentlichungen von Norbert Wohlfahrt und Johannes Schillo. Dazu eine Information der IVA-Redaktion.

„Imperialismus gestern und heute“ hieß der letzte Eintrag bei IVA. Es ging um die Wiederkehr des traditionsreichen Kampfbegriffs aus der Arbeiterbewegung, der jetzt von einem Kanzler Scholz oder einem Präsidenten Macron gegen Rivalen auf dem Globus in Anschlag gebracht wird. Auch die deutsche Wissenschaftlergemeinde, hieß es dazu, „steht nicht an, hier unverzüglich ihren Beitrag zu leisten“. Die einschlägigen Experten verfertigen daher Definitionen, „die punktgenau den russischen ‚Neoimperialismus‘ erfassen, während die US-Dominanz auf dem Globus als eine einzige Schutzmaßnahme vor einem seit der Zarenherrschaft feststellbaren slawischen Expansionsdrang erscheint“.

„Welche Folgen hat der russische Angriffskrieg für das wissenschaftliche Verständnis von Osteuropa?“ fragte jetzt die FAZ (20.10.23) anlässlich eines Berichts über die diesjährige Tagung der deutschen Osteuropaforscher in Regensburg. Fazit: Irgendwie steht ein Paradigmenwechsel an. Man müsse „alte Klischees“ über Bord werfen (und wahrscheinlich durch neue ersetzen); „neue Paradigmen und Begriffe“ seien verlangt (z.B. total neu: „Imperialismus“); der Osten dürfe nicht länger marginalisiert werden, sondern sei auch als wissenschaftlicher Akteur zu respektieren (man sollte, wird ernsthaft vorgeschlagen, in der Forschung „andere Sprachen statt des Englischen verwenden“ – also vielleicht Ukrainisch, mit dem sich sogar viele Ukrainer schwer tun?).

Über die nötigen akademischen Sprachregelungen konnte man sich in Regensburg nicht einigen. Anscheinend war man aber, Stichwort ukrainischer Nationalismus, darüber erfreut, „dass mittlerweile ein national-ukrainischer Blick in die eigene Vergangenheit dominiere – von Marshall Zukhov zu Stepan Bandera“. In der nationalen Heldenverehrung hat man also dort den siegreichen Befreier von der faschistischen Eroberung hinter sich gelassen und ist bei der Verehrung des Nazi-Kollaborateurs Bandera angelangt. In der Tat, eine ganz eigene Geschichtspolitik des ukrainischen Staates, die er auch aktiv, siehe den Eklat im kanadischen Parlament, außerhalb der Wissenschaft vertritt!

Die Realitäten anerkennen!

Der FAZ-Bericht (Autor: Luca Vazgec) ist etwas unentschieden. Man hat fast den Endruck, als wäre auch in der Osteuropaforschung eine gewisse Kriegsmüdigkeit zu beklagen. Zwar war der Tagungsabschluss ganz auf NATO-Linie und diskutierte – „mit einem Vorausblick auf die Zeit nach Kriegsende“ – die Frage, ob „alle russischen Angriffskriegshandlungen“ vor den Völkergerichtshof gebracht werden könnten. Dabei wurde der westliche Sieg als Selbstverständlichkeit unterstellt; ob man aber aller russischen Kriegsverbrecher habhaft werden könnte, bezweifelte der Referent. Von eventuellen ukrainischen Kriegsverbrechen war in einer solchen ‚Forschungsperspektive‘ natürlich nicht die Rede.

Die Community ist eben klar auf Linie. Die Flugschrift „Deutsche Kriegsmoral auf dem Vormarsch“ (2023, S. 204; Autoren: Norbert Wohlfahrt und Johannes Schillo) hat jüngst die einschlägige Formierung des Wissenschaftsbetriebs zum Thema gemacht – auch mit den Leitlinien, die dort gegen Außenseiter (Krone-Schmalz, Guérot) in Stellung gebracht werden. Solche Fachleute bewegen sich, so hört man, außerhalb der Fachöffentlichkeit und stehen nicht im Einklang mit der scientific community. Das stimmt. Nur kann man in der genannten Studie einiges über dieses Fach und seine traditionsreiche Öffentlichkeit sowie deren angebliche wissenschaftliche Seriosität erfahren, etwa am Beispiel der Fachzeitschrift „Osteuropa“.

1925 im ‚Geist von Rapallo‘, also einer politisch betriebenen deutsch-russischen Annäherung, gestartet und unter den Nazis wieder eingestellt, wurde die Zeitschrift 1951 neu gegründet. Chefredakteur bis 1975 war der umtriebige Publizist Klaus Mehnert, der gleichzeitig in der Politikberatung, z.B. in der Attaché-Ausbildung des Auswärtigen Amtes, tätig war. Stefan Creuzberger, später selbst Redakteur der Zeitschrift, schreibt dazu in seiner großen Studie über das „Deutsch-russische Jahrhundert“ (2022, 15f), dass sich Mehnert, ein „medienwirksamer Mediator“ und „Macher“, nach 1945 jedoch nicht in diesem früheren Geist einer Aussöhnung betätigt habe. Denn „dafür hatten sich die politischen Rahmenbedingungen allzu sehr verändert“. Klar, inzwischen regierte Adenauer mit seiner „Politik der Stärke“ und seinem Kampf gegen den gottlosen Bolschewismus. Da konnte man sich als Mediator der Wissenschaft doch nicht abseits halten.

Mehnerts „Engagement bewegte sich im Kontext damaliger bündnispolitischer Realitäten, die die Bundesrepublik fest im westliche Lager verankert sahen“ (Creuzberger). Auf die Realität muss sich Wissenschaft natürlich beziehen – vor allem, wenn sie als beamtete Dienstleistung betrieben wird. Das Maß an Idealismus, das dabei zulässig ist, wird dann – siehe den Fall Guérot – fallweise geklärt. Mehnert ging damals natürlich mit der Zeit, wechselte bei der Unterstützung der deutschen Ostpolitik von der Adenauer-Linie rechtzeitig zur sozialliberalen Position. Selbst an der Würdigung, die ein solcher Pionier der Osteuropaforschung heute fachintern erfährt, ist also erkennbar, wie deren Öffentlichkeit genau darauf achtet, was politisch opportun ist und wie man sich unter den jeweils gegebenen „Rahmenbedingungen“ in welchem „Lager“ zu verorten hat.

Die Parteilichkeit des Fachs ist somit kein Novum der „Zeitenwende“. Der Betrieb geht stets ‚mit der Zeit‘. Im Falle des Ukraine-Kriegs gab es jedoch einen verschärften Umstellungsbedarf. Es war ja auch eine regelrechte ‚Gesinnungswende‘ gefordert, um die neue deutsche Kriegsmoral verbindlich zu machen. So berichtete die FAZ (22.3.2023) unter der Überschrift „Osteuropa-Historiker ziehen selbstkritisch Bilanz“ von einer Fachtagung Anfang des Jahres: „Auch an der Osteuropa-Geschichte ist die Zeitenwende nicht spurlos vorüber gegangen“. Wie der Autor (Thomas Thiel), ohne mit der Wimper zu zucken, mitteilte, greift in die Arbeit der deutsch-ukrainischen Historikerkommission auch schon mal der ukrainische Botschafter ein, wobei widerspenstige Wissenschaftler „scharf angegangen“ werden. Der Botschafter war übrigens der bekannte A. Melnyk, dem nicht zuletzt der Weg von Zukhov zu Bandera zu verdanken ist.

Was wissenschaftlich untragbar ist

Dass die bekannten „unabhängigen“ wissenschaftlichen Denkfabriken (wie Stiftung Wissenschaft und Politik oder Zentrum Liberale Moderne) hier bei der moralischen Aufrüstung vorneweg marschieren, ist natürlich klar. Denn sie verstehen sich, wie Norbert Wohlfahrt letztens dargelegt hat (Junge Welt, 4.9.23), mehr oder weniger umstandslos als verlängerter Arm des sie beauftragenden Staates: „Sie sehen ihre Aufgabe darin, die nationale Politik mit Blick auf ihre Kriegführungsfähigkeit kritisch zu analysieren, geostrategische Szenarien für die Durchsetzungsfähigkeit des werteorientierten Westens zu entwerfen und Vorschläge zu unterbreiten, wie die Erledigung des Feindes effektiv und zielsicher in Angriff genommen werden kann. In diesen medial überaus präsenten Produktionseinheiten militaristischer Aufrüstungsszenarien wird Wissenschaft ohne viel Federlesens als unbedingtes parteiliches Engagement für das Vaterland und seine politische Handlungsfähigkeit verstanden.“

Dass aber auch die sonstige Wissenschaftlergemeinde die Gesinnungswende punktgenau mitmacht, ist schon als besonderes Faktum festzuhalten. In der Studie von Wohlfahrt/Schillo (2023, 105ff) wurde das etwa am Fall Guérot dargelegt. Die inzwischen von der Bonner Universität geschasste Politik-Professorin hatte in einem Essay Thesen vertreten, die nicht mit dem NATO-Narrativ übereinstimmten, worauf ihr Bonner Kollege, der Geschichtsprofessor Aust, ihre Entfernung aus dem akademischen Betrieb forderte. Der Grund sollten ihre skandalösen Ansichten sein – von Aust folgendermaßen resümiert: „Die USA hätten den Ukrainekrieg von langer Hand vorbereitet, um Europa von Russland zu entfremden und so die amerikanische Vorherrschaft auf dem Kontinent aufrechtzuerhalten. Statt das Nationalstaatsdenken zu überwinden, was doch wünschenswert wäre, unterstütze die EU jetzt im Gegenteil die Souveränität der Ukraine.“ (Vgl. dazu auch Schillo, IVA 2023.)

Was der Geschichtsprofessor als Widerlegung dieser „unwissenschaftlichen“ Behauptung aufbietet, ist schlicht und einfach der Verweis auf das von Putin verkörperte Böse: „Aber bitte, was wäre denn die Alternative: Das Land Putin und dem russischen Imperialismus zu überlassen?“ Abgesehen davon, dass Guérot in ihrem Essay, aufbauend auf einem Europaideal von gestern, eine Alternative vorstellte, wechselt der Mann der Wissenschaft gleich ins politische Fach: Was soll „unsere“ Regierung tun, wenn der Iwan schon wieder auf dem Sprung steht, in 48 Stunden am Rhein zu erscheinen. Im Grund ist das die Sorge um die bedrohte Heimat, die den deutschen Imperialismus, pardon: die im Aufwuchs befindliche europäische Führungsmacht, schon seit über 100 Jahren umtreibt.

Dass in der Ukraine ein Aufschwung des Nationalstaatsdenkens stattfindet, war dem Fachmann keine Entgegnung wert – wie auch, wo gerade dort ein neuer Nationalismus blüht, der mit oder ohne Bandera gefeiert und, siehe oben, auch in der einschlägigen Wissenschaft ohne Einspruch registriert wird. Diese Parteilichkeit und Linientreue hat jetzt Wohlfahrt zum Gegenstand einer neuen Analyse gemacht (Junge Welt, 8.11.23). Er hält z.B. fest, dass in der Sozialwissenschaft angesichts des ukrainischen Aufschwungs eine regelrechte Rehabilitierung des Nationalismus aufkommt, der in Deutschland bislang als tabu galt. Das wird explizit von Sabine Fischer (2023, 22) betrieben. Die „Osteuropa-Expertin bei der renommierten Stiftung Wissenschaft und Politik“ (Verlagsmitteilung) will eine Unterscheidung zwischen einem patriarchalisch dominierten Nationalismus, wie die Russen ihn praktizieren, und einem „inklusiven, liberalen Nationalismus“ festgestellt haben. Unter Letzterem sollen „nicht nur weiße Männer, sondern auch Frauen und Angehörige sexueller, ethnischer und religiöser Minderheiten Schutz finden, ohne diskriminiert zu werden“. Ein Nationalismus, der alle mitnimmt und nur den moralisch verwerflichen russischen Widerpart ausgrenzt – was will man dagegen sagen!?

Der Imperialismus ist wieder da

Der neueste Knaller besteht natürlich darin, wie von Scholz oder Macron vorgeführt (vgl. Schillo, „Imperialismus heute“, 2023), den Imperialismusbegriff wieder in die Debatte einzuführen. Die einschlägige Forschung – siehe das Statement von Aust – hat hier sofort zugelangt. Der Aufgabe, Imperialismusanalysen wieder en vogue zu machen, hat sich z.B. der Osteuropaexperte Martin Schulze Wessel, Mitglied der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, angenommen. Nachdem er die imperiale Tradition Russlands in der „Idee von der russischen Exzeptionalität“ seit dem Zarenreich verortet und das sowjetische Experiment gleich als Fortsetzung einer „imperialen Tradition“ gewürdigt hat, wird „Russlands Neoimperialismus“ am Beispiel der Ukraine dargestellt, deren unaufhaltsamer Weg in den Einflussbereich des ‚Freien Westens‘ immer wieder durch störende Wahlergebnisse oder zwischen den Blöcken ‚schaukelnde‘ Politiker behindert wurde.

Die Diagnose, wer hier der Gute und wer der Böse ist, fällt trotz vorhandener Analogien (Oligarchen, Korruption, Nationalismus) natürlich eindeutig zugunsten der Ukraine aus, weil diese ihre politische Ordnung entgegengesetzt zur russischen entwickelt habe: „Obgleich es auch in der Ukraine äußerst machtbewusste, ja ruchlose Politiker gab, erscheint sie dreißig Jahre nach der Unabhängigkeit als eine funktionierende Demokratie, die sechs Machtwechsel friedlich vollzogen hat, während Russland zu einem autoritär geführten Staat mit faschistischen Elementen geworden ist“ (Schulze Wessel 2023, 261f).

Wo viele Machtwechsel in der politischen Wissenschaft häufig als Signum einer politischen Instabilität und wenig ausgereiften Demokratie gewertet werden, sind sie im Fall der Ukraine geradezu der Güteausweis einer gelungenen Demokratisierung. Dabei gilt das Urteil der „friedlich“ vollzogenen Wechsel natürlich auch für den Euromaidan, der bekanntlich als gewaltsamer Aufstand – mit Unterstützung des Westens – durchgezogen wurde.

Merke: Wenn die USA sich als „exceptional nation“, als Schutzmacht der freien Welt, feiern, weltweit militärisch präsent sind und z.B. aktuell in Syrien „Angriffe zur Selbstverteidigung“ (US-Minister Austin; FAZ, 28.10.23) durchführen, dann liegt – wissenschaftlich beglaubigt – ein Fall von Weltordnung vor. Wenn die Russische Föderation mit ihrem Nationalismus antritt und in dieser Ordnung die Berücksichtigung ihrer Sicherheitsinteressen einfordert, dann ist glasklar, was das ist: Imperialismus.

PS: Die heutige Politische Wissenschaft in der BRD knüpft an einen traditionsreichen Begriff aus der Arbeiterbewegung an, aber auch an eine alte Tradition deutscher Kopfarbeiter. Im Oktober 1914 veröffentlichten Wissenschaftler und andere Intellektuelle aus dem Deutschen Reich das „Manifest der 93“ (siehe den Eintrag bei Wikipedia). „Als Vertreter deutscher Wissenschaft und Kultur“ erhoben hier Hochschullehrer wie Lujo Brentano oder Wilhelm Wundt, ein Physiker wie Max Planck oder ein bedeutender Liberaler wie Friedrich Naumann (nach dem die FDP heute ihre Stiftung benennt) „vor der gesamten Kulturwelt Protest gegen die Lügen und Verleumdungen, mit denen unsere Feinde Deutschlands reine Sache in dem ihm aufgezwungenen schweren Daseinskampfe zu beschmutzen trachten“.

So begann das Manifest, um dann fortzufahren: „Es ist nicht wahr, daß Deutschland diesen Krieg verschuldet hat. Weder das Volk hat ihn gewollt noch die Regierung noch der Kaiser. Von deutscher Seite ist das Äußerste geschehen, ihn abzuwenden.“ Das deutsche Kriegsverbrechen am neutralen Belgien wurde entschieden bestritten, die deutsche Friedensliebe herausgestrichen: „Es ist nicht wahr, daß unsere Kriegführung die Gesetze des Völkerrechts mißachtet. Sie kennt keine zuchtlose Grausamkeit. Im Osten aber tränkt das Blut der von russischen Horden hingeschlachteten Frauen und Kinder die Erde…“

Im Laufe des Kriegs haben sich dann schon einige der Unterzeichner vom Manifest distanziert und weitere nach 1918 ihre Unterschrift bereut. Aber die Betonung der eigenen Friedfertigkeit – bei aller Aufrüstung und bei allem Kampf gegen „Kriegsmüdigkeit“ – ist eine Konstante geblieben. Natürlich ist heute die weltpolitische Konstellation eine andere, doch in einem ist sich die deutsche Intelligenz treu geblieben: Wenn wir uns „kriegstüchtig“ (Pistorius) machen, dann geschieht das aus reiner Friedensliebe. Und wenn wir auf die Gräuel des europäischen Kriegsschauplatzes blicken, dann steht eins fest: Russische Horden schlachten Frauen und Kinder hin…

Nachweise

Stefan Creuzberger, Das deutsch-russische Jahrhundert – Geschichte einer besonderen Beziehung. 2022.

Sabine Fischer, Die chauvinistische Bedrohung – Russlands Kriege und Europas Antworten. 2023.

Johannes Schillo, Der Fall Guérot I und II, IVA, April 2023: https://www.i-v-a.net/doku.php?id=texts23

Johannes Schillo, Imperialismus heute, Overton, 29.10.2023: https://overton-magazin.de/top-story/imperialismus-heute/

Martin Schulze Wessel, Der Fluch des Imperiums – Die Ukraine, Polen und der Irrweg in der russischen Geschichte. 2023.

Norbert Wohlfahrt, Wertebasierte Wissenschaft – Denkfabriken als patriotische Instanz westlicher Kriegführungsstrategien. In: Junge Welt, 4.9.2023.

Norbert Wohlfahrt, Woke und wehrhaft – Was Deutschland jetzt braucht. Die Wissenschaften und die „Zeitenwende“. In: Junge Welt, 8.11.2023.

Norbert Wohlfahrt/Johannes Schillo, Deutsche Kriegsmoral auf dem Vormarsch – Lektionen in patriotischem Denken über „westliche Werte“. Eine Flugschrift. Hamburg 2023.


Imperialismus gestern und heute

Von Renate Dillmann und Johannes Schillo gibt es neue Veröffentlichungen zur Imperialismusdiskussion, die mit dem Ukrainekrieg – „seitenverkehrt“ – wieder aufgekommen ist. Dazu hier eine Information.

„Imperialismus heute“ hieß das Standardwerk der DDR zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem westdeutschen Gegner. Wie das Institut für Gesellschaftswissenschaften der SED seinerzeit erklärte (SED 1968, S. 5), sei es notwendig, „die Grundlagen der imperialistischen Herrschaft, ihre heutigen Eigenarten, spezifischen Formen und Unterschiede zu früheren Perioden umfassend zu analysieren und eine allseitige theoretisch-ideologische Auseinandersetzung mit diesem System und den Versuchen seiner Verteidigung und Rechtfertigung zu führen“.

Imperialismus gestern

Bei der radikalen Linken in Westdeutschland stieß das auf Interesse. Die K-Gruppen traten – anknüpfend an eine Tradition der Arbeiterbewegung – mit einer eigenen Liga gegen den Imperialismus an (Mitglied u.a.: Antje Vollmer). Die Deutsche Kommunistische Partei (DKP), die treu zur DDR stand, orientierte auf das Ende des staatsmonopolistischen Kapitalismus als der politökonomischen Grundlage des modernen Imperialismus. Dafür fasste sie aber weniger eine kategorische Absage als einen schrittweisen Übergang zu einer „antimonopolistischen Demokratie“ ins Auge. Die sollte ein Angebot an breite Bevölkerungskreise darstellen – laut SED hatte nämlich das „einheitliche Ringen um die Sammlung aller nicht monopolistischen Kräfte Westdeutschlands auf der Grundlage eines demokratischen Programms“ (SED 1968, S. 9) die Leitlinie der Kommunisten zu sein.

Denn die Herrschaft des Imperialismus gerate, wie das Philosophische Wörterbuch der DDR wusste, „in zunehmendem Maße in Widerspruch zu den Interessen der Nation und zum gesamten friedliebenden Volk“. Es handle sich gewissermaßen um letzte aggressive Zuckungen des „absterbenden“ Systems, von dem es weiter hieß: „Die allgemeine Krise des Kapitalismus verschärft die parasitären Züge des Imperialismus.“ (Klaus/Buhr 1970, S. 510)

In der Folge verschrieb sich die DKP dem Friedenskampf. Statt Antiimperialismus zu propagieren wurde an die sozialliberale Entspannungspolitik angeknüpft und der Blick auf „Möglichkeiten einer alternativen Sicherheitspolitik“ des Westens gerichtet, wie etwa der berühmte „Krefelder Appell“ von 1980 formulierte: „Solche Überlegungen [zur Einführung einer alternativen Sicherheitspolitik in den NATO-Staaten] sind von großer Bedeutung für den demokratischen Prozess der Willensbildung und können dazu beitragen, dass unser Volk sich nicht plötzlich vollzogenen Tatsachen gegenübergestellt sieht.“ Der Appell war das Highlight der alten Protestbewegung der 80er Jahre, bis 1983 wurde er von über vier Millionen Bundesbürgern unterzeichnet. Er war von Mitgliedern der Deutschen Friedens-Union (DFU) und der Grünen initiiert worden und repräsentierte einen „Minimalkonsens“ der Friedensbewegung, als Nahziel die „Nachrüstung“ zu verhindern, um so den Abbau aller Atomraketen in Europa zu ermöglichen.

Das weiß Wikipedia (Eintrag: Krefelder Appell) zu berichten und fügt die seit damals populäre Entlarvung dieses breitesten friedensbewegten Bündniserfolgs hinzu: „Der angeblich überparteiliche Appell war eine ‚Meisterleistung der DKP‘, der es gelang ein ‚breites Bündnis‘ zu schmieden.“ Dass die DKP hierbei großen Einfluss hatte, ist nicht zu bestreiten. Dass sie aber Millionen harmlose Friedensfreunde hinters Licht und ins Schlepptau Pankows geführt hätte, ist eine der üblichen Verschwörungstheorien, die sich die Unzufriedenheit mit der eigenen Regierung und die Sorgen der Bürger immer nur als Werk einer feindlichen, letztlich fremdstaatlichen Subversion vorstellen können. So werden ja auch heutige Kritiker des NATO-Kriegskurses im Westen gleich als 5. Kolonne Putins eingestuft.

Was das große Engagement der DKP betrifft, muss man dagegen an einen anderen wichtigen Punkt erinnern. Auf diese Weise verschwand an einer markanten Stelle der Angriff auf den Imperialismus aus dem Arsenal der linken Agitation – und die Aufklärung der Bevölkerung über die Gewaltträchtigkeit ihrer hochgelobten sozialen Marktwirtschaft wurde durch Illusionen über eine Befriedung des Staatenverkehrs ersetzt. Friedenskampf, also das Setzen auf die gemäßigten Kräfte in den Schaltzentralen des westlichen Lagers, war jetzt die Linie. So machte sich auch bei den orthodoxen Vertretern des Marxismus-Leninismus – bevor Gorbatschow und Co. ihm den Todesstoß versetzten und damit den Abgang vieler seiner westlichen Anhänger bewirkten – eine Abwendung vom früheren Antiimperialismus breit. Nach dem Niedergang der K-Gruppen ergab sich damit eine Lage, die in der militanten westdeutschen Szene der 80er Jahre etwa so bilanziert wurde:

„Die Zeiten, in denen ‚Imperialismusanalysen‘ ihr Publikum gefunden haben, sind längst vorbei. Sie haben sich auch meist mit der Frage auseinandergesetzt, wie sich das Kapital auf Weltebene reproduziert, und dann messerscharf geschlossen, daß das ganze eine riesige Schweinerei ist. Aber um das zu wissen, brauchen wir keine Analysen. Wir brauchen auch keine genaueren Beschreibungen des Elends, des Hungers, der Schlächtereien und Bestialitäten. Das Grauen können wir in Farbe in der Glotze sehen…

Genausowenig geht es um die Aufzählung verschiedener Befreiungsbewegungen, an deren Stärke oder Schwäche sich ablesen ließe, wie gut oder wie schlecht es um den antiimperialistischen Kampf bestellt sei – um die Solidarität mit diesem oder jenem Befreiungskampf und die enttäuschte Abkehr, wenn deren Kampf in Stagnation umgeschlagen ist oder sich die siegreiche Elite einer Bewegung als nur ein neues Regime entpuppt. Mit den ‚Imperialismusanalysen‘ haben wir auch jene Form von ‚internationaler Solidarität‘ fahren lassen, die vom Glauben an propagandistische Programme oder von diffusen marxistisch-leninistischen Gemeinsamkeiten lebte. Und es geht uns auch nicht um die Teilnahme an einer intellektuellen Diskussion über die sozialen Formationen im jüngsten Stadium des Imperialismus. Darüber ist viel Kluges geschrieben worden – aber mögen die Sozialforscher und die künftigen Krisenmanager unter sich bleiben…“

So hieß es 1982 im Editorial der Zeitschrift Autonomie (Nr. 10, S. 2), übrigens zu einem Zeitpunkt, als die Marxistische Gruppe (MG) gerade ihre Imperialismus-Ableitung vorlegte. Diese Analyse, so machte die Ankündigung der MG klar, wollte kein moralisches Plädoyer für die Unterstützung von nationalen Befreiungsbewegungen halten und keinen „Beitrag zur Lösung des Hungerproblems“ liefern. Das Buch „schafft auch keine Waffe aus der Welt und warnt noch nicht einmal ‚die Menschheit‘ vor dem ‚nuklearen Selbstmord‘“, hieß es weiter. „Es beschränkt sich auf das Stück ‚Weltverbesserung‘, das ein Buch in diesen Angelegenheiten bestenfalls leisten kann. Es stellt in Form einer Ableitung die Gründe dar, die die Sortierung der Welt in Freunde und Feinde ‚der Freiheit‘, in nützliche Schuldner und unbrauchbare Hungerleider, in ‚Hartwährungsländer‘ und Problemfälle des Internationalen Währungsfonds unausweichlich machen – so lange die nötige Gewalt dahintersteht.“

„Die Rückkehr des Imperialismus“

„Imperialismus revisited“ heißt ein Artikel, den Renate Dillmann und Johannes Schillo in der November-Ausgabe von Konkret (Nr. 11, 2023) zu der Frage veröffentlicht haben, warum das weltweite Geschäft nicht friedlich sein kann. „Er ist wieder da“, beginnt der Text, „der Imperialismus, der alte Wiedergänger. Heute taucht er in Russland und China auf. Kanzler Scholz konstatierte bei seiner Rede vor den Vereinten Nationen mit Blick auf den Ukraine-Krieg ‚blanken Imperialismus‘. Und deutsche Medien kommen, unterstützt von den einschlägigen ‚unabhängigen‘ Denkfabriken, bei ihren bekannt präzisen Analysen zu dem Ergebnis, dass das außenpolitische Verhalten der Volksrepublik China nicht anders als ‚klassisch imperialistisch‘ einzustufen ist – so unisono die FAZ, der Deutschlandfunk und die Bundeszentrale für politische Bildung„.

Auch die Osteuropaforschung und andere Wissenschaften stehen nicht an, hier unverzüglich ihren Beitrag zu leisten. Deutsche Experten verfertigen dazu Definitionen, die punktgenau den russischen „Neoimperialismus“ erfassen, während die US-Dominanz auf dem Globus als eine einzige Schutzmaßnahme vor einem seit der Zarenherrschaft feststellbaren slawischen Expansionsdrang erscheint. „Mit dieser Konstruktion eines schon durch seine Geschichte zum imperialen Handeln neigenden Staates und des ebenso grund- wie prinzipienlosen Hangs zur Ausdehnung seines Staatsgebiets ist die Figur des Neo-Imperialismus erschaffen, vor deren Hintergrund westliches Handeln als eine permanente Notwehrsituation und unumgängliche Selbstverteidigung einen wohlgeordneten Platz in den Geschichtsbüchern erhält.“ (Wohlfahrt/Schillo 2023, S. 37)

Natürlich hat auch die neue deutsche Sicherheitsstrategie im Fall von Putins Angriff auf die Ukraine „die Rückkehr des Imperialismus nach Europa“ entdeckt (AA 2023, S. 39). Der Gegenstandpunkt (2023, S. 36) resümiert diese strategische Neukonzeption: „Aus deutscher Sicht gibt es lauter Staaten auf der Welt – allen voran China –, die zu viel Macht haben und diese auch noch dafür einsetzen, die Welt in ihrem Sinn zu verändern.“ Das geht natürlich gar nicht! Denn damit wird ja glatt der Anspruch Deutschlands konterkariert, der die ganze Welt als das Feld der eigenen Zuständigkeit betrachtet und deswegen überall da Bedrohungen feststellt, wo andere Staaten sich mit ihren Interessen nicht einfach ein- und unterordnen; sondern – man stelle sich vor – in ihrem „nahen Ausland“ einen eigenen Sicherheitsbedarf anmelden.

Aus diesem Blickwinkel ist natürlich für eine Sicherheitsstrategie aus nationalem Geist klargestellt: „Die Welt bedroht ‚uns‘!“ (Gegenstandpunkt 2023, S. 36) An erster Stelle, wie das Auswärtige Amt festhält, natürlich Russland, das mit seiner „imperialen Politik Einflusssphären“ (AA 2023, S. 22) einzurichten versucht und damit angeblich „Frieden und Stabilität“ in Europa zerstört – und sich dafür auch noch nuklear neu aufrüstet. Die deutsche Regierung, kommentiert der Gegenstandpunkt weiter, „braucht die einschlägigen Bezeichnungen ‚Einflusssphären‘ und ‚Aufrüstung‘ versus ‚Frieden und Sicherheit‘ bloß aufzurufen, und schon ist alles klar: Lauter Angriffe auf unsere schöne Ordnung und unser Recht, die Nachbarschaft bis an die russische Grenze heran in den friedlichen Teil Europas einzugemeinden!“

Diese Eingemeindung – bis hin nach Aserbeidschan, Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan… – darf man natürlich nicht mit der Schaffung von Einflusssphären verwechseln, und die gigantische Aufrüstung Deutschlands, nukleare Teilhabe und Modernisierung inbegriffen, hat man sich wiederum als reine Schutzmaßnahme für die Bevölkerung vorzustellen! Der Ex-Juso Scholz, der seinerzeit dem marxistischen Stamokap-Flügel der Juso-Hochschulgruppen angehörte und für „die Überwindung der kapitalistischen Ökonomie“ eintrat sowie die „aggressiv-imperialistische Nato“ kritisierte, kann sich also mit seinem französischen Kollegen Macron zusammentun. Der hat ja letztens in einer NATO-Bekenntnisrede erklärt: „Es gibt in Europa keinen Platz für imperialistische Fantasien.“ Und beide können dann zusammen mit polnischen Rechtsauslegern oder italienischen Neofaschisten die neue Liga gegen den Imperialismus gründen.

Krieg und Frieden

„Von 1979 bis 1983 gab es starke Proteste gegen den NATO-Doppelbeschluss und die atomare Hochrüstung in Westeuropa und den USA. Der Doppelbeschluss sah die Stationierung der atomar bestückten US-amerikanischen Mittelstreckenraketen Pershing II und Marschflugkörper BGM-109G Cruise Missile in fünf NATO-Staaten Westeuropas als Antwort auf die Stationierung der neuen sowjetischen SS 20-Raketen vor. Die Friedensbewegung kritisierte, dass die amerikanischen Mittelstreckenwaffen in der Lage waren, die sowjetische Hauptstadt fast ohne Vorwarnzeit zu treffen. Viele verwiesen auf den in den USA öffentlich diskutierten Plan von Pentagon-Strategen wie Colin S. Gray, die sowjetischen Kommandozentralen bei einem Atomkrieg durch einen Überraschungsangriff zu zerstören und sowjetische Vergeltungsschläge so weitgehend auf Europa zu begrenzen.“

So weit wieder Wikipedia und so weit – fast – korrekt. Nur wird hier wieder das NATO-Narrativ zugrundegelegt, der Westen habe mit seinen Plänen auf sowjetische Raketen geantwortet, während Moskau diese gerade als Antwort auf die westeuropäische Aufrüstung verstand. Außerdem darf auch der Hinweis nicht fehlen, dass die Aktivitäten der DKP und ihrer Unterorganisationen bei der Mobilisierung der Friedensbewegung eine Rolle spielten und dass sie „im Einklang mit dem ‚Friedenskampf‘ der DDR“ standen und „vom dortigen Friedensrat angeleitet“ wurden, der dem Zentralkomitee der SED unterstand.

Zwar nicht direkt angeleitet, aber ausgenutzt oder vereinnahmt wurden die großen Demonstrationen in Westdeutschland auch von sozialdemokratischen und grünen Politikern. Ende Oktober 1981 demonstrierten mehr als 300.000 Menschen im Bonner Hofgarten und die größte Friedensdemonstration fand dann am 10. Juni 1983 in der Bonner Rheinaue mit ca. 500.000 Menschen statt. Bei einer Demo durfte sogar Ex-Kanzler Willy als Redner auftreten. So konnte sich die SPD, aus deren Reihen die Initiative zum Aufrüstungsbeschluss gekommen war, nach ihrem Wechsel in die Oppositionsrolle als Friedenspartei in Szene setzen.

Die Entscheidung, der SPD ein Forum zu bieten (ein anderer Redner war z.B. Oskar Lafontaine), war vom Bonner Koordinierungsausschuss der Friedensbewegung getroffen worden, in dem sich damals die Grünen für ihre spätere Polit-Karriere warm liefen und auch der Juso Olaf Scholz mitmischte. Bei den Großdemos war die MG eine der wenigen linken Organisationen, die gegen solche Auftritte von Sozialdemokraten protestierten. Sie verteilte etwa Flugschriften unter dem Slogan „Friedenspolitik – nein danke!“(Oktober 1981), die sich gegen die Vereinnahmung durch die SPD richteten (Näheres zur damaligen Agitation der MG findet sich auch bei Wissen & Kritik: https://wissenundkritik.de/schnipsel-und-loses/).

Dazu zitierte die MG – ironisch als „Grußadresse“ tituliert – den damaligen SPD-Vorsitzenden Brandt: „Diese Demonstration bietet der SPD eine wertvolle Gelegenheit zu überprüfen, ob die jeweilige Politik auch die allein mögliche Politik sei. Natürlich soll und kann man aber nicht in die SPD einbinden,was nicht in die SPD gehört. Die Demonstration kann dazu beitragen, nicht Verbitterung und Untergangsstimmung, sondern Zuversicht und Klarheit zu verbreiten.“ Man sieht: Der Linie ist der heutige Kanzler Scholz treu geblieben. Gegen die Furcht vor einem heranrückenden Atomkrieg setzt er – mit ruhiger Hand regierend – seine Zuversicht, dass „wir“ als Gewinner aus dem Ukrainekrieg und als zukünftige militärische Führungsmacht hervorgehen werden.

Im Jahr 1983 legten übrigens Karl Held und Theo Ebel im Suhrkamp-Verlag (edition suhrkamp, Neue Folge Nr. 149) den Band „Krieg und Frieden – Politische Ökonomie des Weltfriedens“ vor. Die beiden Autoren aus der MG schrieben zur Ankündigung ihres Buchs: „Warum entdeckt weder der gesunde noch der gelehrte Menschenverstand am Ost-West-Gegensatz, an der ‚Kriegsgefahr‘ (die alle Politiker hüben wie drüben bannen möchten, so daß man sich fragt, wer sie eigentlich heraufbeschwört!), am Gegensatz von arm und reich im Weltmaßstab, an Gastarbeitern und Ölstaaten, an der New Yorker Börse und an der Welthungerhilfe jenes Geschäft, das einmal bürgerliche wie sozialistische Theoretiker Imperialismus nannten?“

Die Beantwortung solcher Fragen hat sich das Buch vorgenommen, das jetzt beim Gegenstandpunkt als Nachdruck der 1983er Ausgabe vorliegt. Der besagte ignorante weltpolitische Sachverstand wird im ersten Kapitel behandelt, der Frieden einer kapitalistischen Weltwirtschaftsordnung im zweiten und und die „unverbrüchliche Feindschaft“ der Weltmächte im dritten. Ein kurzes viertes Kapitel „Die BRD: Entwicklungen eines Frontstaats“ schließt das Buch ab. Im einleitenden Kapitel findet sich übrigens auch eine Auseinandersetzung mit dem Klassiker der marxistischen Imperialismustheorie, mit Lenins Schrift über das „höchste Stadium des Kapitalismus“, auf deren Grundlage die westdeutsche Linke damals zum Friedenskampf fand.

PS: Die legendäre edition suhrkamp war seit der Studentenbewegung ein Forum der marxistischen Debatte und stand auch radikalen Positionen offen. Genauer gesagt: Mit der Veröffentlichung von Held und Ebel 1983 in der „Neuen Folge“ setzte der Suhrkamp-Verlag einen Schlusspunkt unter die frühere Offenheit. Wie die MG damals mitteilte (siehe die Notiz bei IVA über seinerzeit verfügbare Hinweise im Netz: https://www.i-v-a.net/doku.php?id=texts17#marx_is_back_vol_3), machte Jürgen Habermas himself seinen Einfluss bei Suhrkamp geltend und unterband die bereits mit dem Verlag vereinbarte Veröffentlichung eines weiteren Buchs der beiden MG-Autoren über die Demokratie. So ging damals der ebenfalls legendäre „herrschaftsfreie Diskurs“!

Nachweise

AA – Auswärtiges Amt, Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig. Integrierte Sicherheit für Deutschland – Nationale Sicherheitsstrategie. 21. Juni 2023, www.auswaertiges-amt.de.

Autonomie: Antiimperialismus in den 80er Jahren, Nr. 10, 1982, Editorial („Die Neuzusammensetzung der Unterklassen in den drei Kontinenten“).

Renate Dillmann/Johannes Schillo, Imperialismus revisited – Ganz gleich, wie man’s dreht und wendet: Gewalt ist die Geschäftsgrundlage des weltumspannenden kapitalistischen Betriebs, , in: Konkret, Nr. 11, 2023, S. 24-26.

Gegenstandpunkt: Eine nationale Sicherheitsstrategie: „Wehrhaft.Resilient. Nachhaltig.“, in: Nr. 3. 2023, S. 36-38.

Georg Klaus/Manfred Buhr (Hg.), Imperialismus, in: Philosophisches Wörterbuch, Bd. 1, Leipzig 1970.

Karl Held/ Theo Ebel, Krieg und Frieden – Politische Ökonomie des Weltfriedens (1983). Neuausgabe, München 2023, auch online verfügbar: https://de.gegenstandpunkt.com/publikationen/buchangebot/krieg-frieden.

Resultate: Imperialismus 1, München 1979 („Ableitung“ und „Anti-imperialistische Illusionen über Staat und Revolution“). Im Internet (samt den Folgebänden Imperialismus 2 und 3 zu USA, Europa etc.) greifbar unter: https://de.gegenstandpunkt.com/publikationen/buchangebot/imperialismus-1 https://de.gegenstandpunkt.com/publikationen/buchangebot/imperialismus-2 https://de.gegenstandpunkt.com/publikationen/buchangebot/imperialismus-3

SED – Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED (Hg.), Imperialismus heute – Der staatsmonopolistische Kapitalismus in Westdeutschland (1965). 4. Auflage, Berlin 1968.

Norbert Wohlfahrt/Johannes Schillo, Deutsche Kriegsmoral auf dem Vormarsch – Lektionen in patriotischem Denken über „westliche Werte“. Hamburg 2023.


Oktober

Die reaktionäre Offensive

In der Hamburger GEW – dokumentiert in deren Lehrerzeitung hlz – wird über Geschlechterverhältnisse als Kampfzone der Rechten diskutiert. Dazu ein Kommentar von Frank Bernhardt.

Von Seiten der GEW wurde über einem Kulturkampf vor Ort berichtet: Treibende Kraft ist eine Sprecherin der sogenannten „Volksinitiative Schluss mit Gendersprache in Verwaltung und Bildung“. Diese sieht gewissermaßen das Ende der „Evolution“ gekommen, weil sich „schwul, lesbisch und trans“ nicht mehr in Nischen, sondern öffentlich in ihrer ganzen Diversität präsentierten. Vielleicht sollte man da mal einen Blick darauf werfen, was sich seit einiger Zeit auf der großen politischen Ebene an kulturkämpferischem Elan zeigt.

Dazu hier ein Kommentar, der solche Vorstöße in den Zusammenhang einer national-völkischen Gegenbewegung stellt, die für sich beansprucht, eine nationalstaatliche 'Normalität' zu vertreten. Und nach der politischen Machtübernahme von Rechtskonservativen, Neo- und Postfaschisten sowie – nicht zu vergessen – Faschistinnen erhält ja in etlichen Ländern der Kulturkampf erheblichen Auftrieb. Er ist ein Kampf zur Durchsetzung reaktionärer Denk- und Handlungsweisen, zur Wiederherstellung einer scheinbar längst überwundenen Ideologie des „natürlichen“ Geschlechterverhältnisses bis hin zum Aufzwingen einer entsprechenden Lebensweise.

Weg mit dem Schwangerschaftsabbruch…

In Polen verstarb eine Schwangere mit einer Sepsis im Krankenhaus, weil ihr dort die Abtreibung verwehrt worden war, obwohl das Kind nicht lebensfähig gewesen wäre (vgl. derstandard.at, 12.06.23). Ähnliches widerfuhr auch einer Amerikanerin auf Malta – einem Land, das über das „strengste Abtreibungsverbot Europas“ verfügt (welt.de, 1.7.22). Der Patientin platzte die Fruchtblase nach starken Blutungen und ihr wurde vom Krankenhaus mitgeteilt, dass das Ungeborene zwar keine Überlebenschance habe, man ihr aber nicht helfen könne, solange das Herz des Fötus noch schlage. Nur durch ihre Reiseversicherung konnte sie nach Spanien ausgeflogen werden, wo sie behandelt wurde – nicht auszudenken, was sonst passiert wäre. Das seien keine Einzelfälle, jedes Jahr gebe es immer wieder einheimische Frauen, die aus Geldmangel nicht die Möglichkeit hätten, auszureisen, so eine maltesische Ärztin.

Gegenwärtig werden in großen Teilen des Südens der USA die verstaubten früheren Abtreibungsverbote wieder herausgekramt. Das höchste Gericht, der Supreme Court, kippte das bisherige „Recht auf Abtreibung“ mit republikanischer Mehrheit und leitete das Anliegen an die Landesparlamente weiter. Frauen hatten in den USA seit „1973 ein prinzipielles Recht auf Abtreibung bis zur Lebensfähigkeit des Fötus (etwa bis zur 24. Schwangerschaftswoche)“ (welt.de, 25.6.22).

… zurück zur traditionellen Familie

Polen und Ungarn mit ihren deftig rechtslastigen Regierungen, den hegemonialen Parteien PiS und Fidesz, bestärken sich gegenseitig bei der Demontage von Schutzparagrafen für ungewollte Schwangerschaften aus sozialer oder medizinischer Indikation und betreiben eine reaktionäre Sexual- und Familienpolitik: So brachte Ungarn 2021 ein ›Anti-Pädophilen‹-Gesetz auf den Weg, das „den Zugang zu Pornografie und Inhalte verbietet, die Sexualität um ihrer selbst willen, Homosexualität und Geschlechtsumwandlung fördern“ (ungarnheute.hu/ne, 24.6.22). Damit soll, so die Begründung, der Schutz von Minderjährigen ausgeweitet werden. Aus einigen europäischen Regierungen kam dagegen Protest, nach den Erfolgen der sozialen Bewegungen in den 1990er und 2000er Jahren muss man das ja auch als einen Rückschritt werten.

Unbeeindruckt davon äußerte sich der polnische Botschafter Andrzej Przyebski in der BRD: Er bezeichnete das Gesetzeswerk als „evident und unbezweifelbar“, um „Schulkinder vor der Beschäftigung mit der homosexuellen Problematik“ abzuschirmen (spiegel.de, 24.6.22). Um Missverständnissen vorzubeugen: Hier handelt es sich nicht um Jugendschutz, es geht im Prinzip um nichts anderes als darum, den Nachwuchs erst gar nicht darüber sachlich zu informieren, dass es andere Lebensentwürfe als die heterosexuelle Kleinfamilie gibt. Damit wird gesellschaftliche Wirklichkeit gewaltsam verdrängt. Den Kindern wird Aufklärung über Fakten verwehrt, bei einer drastischen gesetzlichen Gleichsetzung: Alles, was von der nationalen ›Norm‹ im Familienmodell abweicht, gilt als ›schlechter Einfluss‹ auf Kinder und wird mit kriminellen Taten und sexueller Gewalt auf eine Stufe gestellt.

So wird Diskriminierung in Gesetzesform gebracht – im 21. Jahrhundert. Auch wenn ein paar europäische Regierungen dagegen protestiert haben, bleibt dies als Position in der EU vertretbar. So können auch die ungarische und polnische Regierung von sich behaupten, dass sie ›europäische‹ oder ›abendländische‹ Werte verteidigen. Es gilt jetzt: Sexualität ist nur im Zeugungsakt zulässig, ›um ihrer selbst willen‹ gehört sie sich nicht.

Das erinnert ans tiefste Mittelalter, wo die Macht der Kirche die Aufwertung des Körperlichen – der Begriff Sexualität war noch unbekannt – als Sünde bekämpfte. Lustempfinden sollte unterdrückt werden. Die Gläubigen sollten gemäß der herrschenden Sittenlehre erzogen werden, Sexualität diene ausschließlich dem Zweck der Fortpflanzung. Der körperlichen Liebe wurde die geistige gegenübergestellt. Die Fleischeslust sollte in der Ehe diszipliniert werden und Begierde in die Bahn der Zeugung von Kindern geleitet werden. Außerehelicher Verkehr wurde von den Vertretern der Moral sanktioniert, z. T. mit drakonischen Strafen gegen ›dämonische‹ Einflüsterungen.

Cancel Culture in Reinform: »Don’t say gay!«

So nennen Kritiker das neue Gesetz „Parental Rights in Education“ (dw.com, 20.3.23) für Schulen in Florida. Dort wird von der republikanischen Partei der Unterricht als sachliche Information „über sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität“ für Kinder im Alter unter zehn Jahren verboten. Auch bei älteren Schülern gilt das Verbot, mit ihnen in „unangemessener Art“ darüber zu reden. Dabei sollen auch hier ›Kinderschutz‹ und ›Stärkung der Elternrechte‹ Pate gestanden haben und nicht der verunglimpfende Angriff auf LBGTQI*!

In der Schule, wo die gesellschaftliche Wirklichkeit im politisch gewünschten Rahmen vermittelt wird, so dass man sich in dieser Welt orientieren kann, hat diese Thematik also keine Existenzberechtigung mehr. Dort werden jetzt hochoffiziell unerwünschte sexuelle Präferenzen ausgegrenzt, zumindest für eine gewisse Altersgruppe soll die Freiheit sexueller Orientierung tabu sein. Ein kommender Präsidentschaftskandidat, der Republikaner Ron DeSantis, „fährt einen scharf rechten Kurs in gesellschaftspolitischen Fragen, mitunter schärfer als der frühere Präsident Trump“ (orf.at, 29.5.23). In der republikanischen Partei herrscht mittlerweile der Konsens, dass Buchtitel zensiert und aus den Büchereien entfernt werden müssen, die sich positiv auf sexuelle und familiäre Diversität beziehen oder diese nur darstellen, d. h. neutral schildern.

Homosexualität ist bislang noch nicht kriminalisiert, dabei ist aber zu bedenken, wie geschichtlich ›frisch‹ das alles ist: Das Gesetz ›gegen sexuelle Perversionen‹, wozu auch die Homosexualität gezählt wurde, blieb im Bundesstaat Illinois bis 1962 in Kraft, in anderen Bundesstaaten der USA konnten Handlungen, die von der heterosexuellen Norm abwichen, bis ins Jahr 2003 bestraft werden. Auch in der Bundesrepublik Deutschland – das wollen wir nicht vergessen! – dauerte es bis ins Jahr 1994, um die letzte strafrechtliche Sondervorschrift zur Homosexualität zu streichen. Und wie lange bereitete hier ein Outing in Familie, bei der Verwandtschaft oder im Kollegen-/Freundeskreis verlegenes Schweigen, Probleme oder Anfeindungen?

Fazit: Die Selbstverständlichkeit einer zwischenmenschlichen Wahl bei der Art der Liebesbeziehung überlassen Staaten überhaupt nicht den Entscheidungen von Individuen – sie fassen sie in ein rechtliches Verbot oder eine gesetzliche Genehmigung. Jahrzehntelang wurden bestimmte Formen der Sexualität kriminalisiert, seit etwa 30 Jahren liberalisiert – und nun bringt der Rechtsruck weltweit Regierungen an die Macht, die den ›Backlash‹ massiv vorantreiben.

Nicht vom rechten Rand, sondern von oben

Ein Stern ist aufgegangen am europäischen Himmel der Rechten, die polnische und die ungarische Regierung haben den Ausgang der Wahl stürmisch gefeiert. Die Rede ist von der Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Sie führt die Fratelli d‘Italia. Diese holten 2018 ca. 4 % der Wählerstimmen, 2022 versechsfachten sie das Ergebnis, allerdings verweigerten gut 16 Millionen die Wahlbeteiligung (vgl. zeit.de vom 26.9.22), also über ein Drittel, obwohl es in Italien eine Wahlpflicht gibt, deren Nichtbeachtung früher „mit einem Eintrag in ihr polizeiliches Führungszeugnis“ (n-tv.de, 9.4.06) geahndet wurde.

Meloni führt sich selbst als Inbegriff der modernen Frau vor – insofern sind die heutigen Wiedergänger der Braun- und Schwarzhemden in der Gegenwart angekommen. Ihre Parole: Die ›nationalen‹ Frauen werden nur von den ›Fremden‹ unterdrückt und ausgebeutet. Meloni tritt dabei als selbstbewusste Frau auf, wie schon am Cover ihrer Biografie „Io sono Giorgia“ („Ich bin Giorgia“) und auch bei ihrem Kampf gegen die Leihmutterschaft in Italien zu sehen ist. Ihr geplantes Gesetz gegen die „Gebärmutter-Vermietung“ (de.euronews.com, 20.6.23), wie ihre Partei es nennt, sieht „künftig Strafen zwischen 600.000 und einer Million Euro und Gefängnisstrafen zwischen zwei Monaten und drei Jahren“ vor (derstandard.at, 2.6.23).

Menschen, die bei Kinderlosigkeit ihren Kinderwunsch über eine Leihmutter verwirklichen wollen, werden so kriminalisiert, die Meloni-Regierung erklärt das laut ihrem neuen Gesetz einfach zu einem „universellen Delikt“. „Bei ›universellen Delikten‹ handelt es sich in der Regel um schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit. In Italien zählen bisher unter anderem Völkermord und Terrorismus dazu“ (derstandard.at, 2.6.2023). Auch wenn dieses Vergehen im Ausland stattfindet, können italienische Gerichte die Inkriminierten im Lande bestrafen.

»Mein Bauch gehört mir« – nicht

In ihrem Buch steigt Meloni mit dem Dank ein, dass sie von ihrer Mutter in die Welt gesetzt worden sei – eigentlich hätte sie „gar nicht geboren werden sollen“. Ihre Mutter, die wohl die Rolle einer Alleinerziehenden drohte, da sie von ihrem Ehemann verlassen worden war, spielte mit dem Gedanken einer Abtreibung. Und der Entschluss, es nicht zu tun, wird von Meloni als ein Akt des „reinen Instinkts“ beschworen, d. h. heruntergebrochen darauf, dass es eben zur naturhaften Bestimmung der Frau gehört, der sie auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. Eine Abtreibung steht in diesem Gedankenkonstrukt einer Frau überhaupt nicht zu, vielmehr soll es die Bestimmung jeder Frau sein, Kinder in die Welt zu setzen, am besten gleich mehrere, wie es im Terminus der ›Gebärmaschine‹ karikiert wird.

Keine Mutter zu sein, bedeutet für Meloni den Verzicht der Frau auf das, was sie ist und (eigentlich) will: Kinder gebären! Egal, ob die Wohnungssituation das hergibt und frau sich ein Kind leisten kann etc. – sie hat sich bedingungslos diesem Opfer auszusetzen. Meloni feiert die Aufopferung der Frauen und gibt ihnen zudem die christliche Weihe. Ihre Weltsicht lässt nur ›Frau, Mann und Kind‹ zu, d. h. möglichst viele Kinder, denn das „italienische Volk ist dabei zu verschwinden“. Das richtet sich natürlich gegen proletarische Familien. Von den Familien, gerade den armen, verlangt Meloni ohne mit der Wimper zu zucken die nationalen Dienste ›von der Wiege bis zur Bahre‹: beim Großziehen der Kinder, bei den Härten des Lebens (Niedriglohn, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Trennung) und in der zu erwartenden Altersarmut. Dahinter steckt die Propaganda der Familie als ›Keimzelle der Gesellschaft‹. Nicht dass Frau und Mann einen Kinderwunsch aus Liebe und Zuneigung realisieren – vielmehr sollen für staatliche Anliegen möglichst viele kleine Italiener und Italienerinnen als Dienstkräfte für den Bedarf der Ökonomie gezeugt werden. Und wenn es der Frieden in Europa erfordert und den nationalstaatlichen ›Prinzipien‹ dient, dann gibt es williges ›Kanonenfutter‹ für die Großraumkriege des 21. Jahrhunderts.

Meloni trat schon in der Vergangenheit mit ihren Fratelli d’Italia „homophob, migrantenfeindlich und europaskeptisch auf“ (merkur.de). Nach ihrem Amtsantritt soll ihre Außenpolitik so ausgestaltet werden, dass im „Mittelpunkt das nationale Interesse“ sowie die „Verteidigung der Heimat“ steht (sueddeutsche.de, 16.9.22), womit klargestellt ist, dass ›Bio-Italiener‹ absoluten Vorrang haben vor ›Einwanderung‹, besonders der ›illegalen‹. Die SZ erweckt allerdings den Eindruck, die Berufung aufs nationale Interesse und der Bezug auf die „Heimat“ wären ein spezifisch italienisches Merkmal. Dem ist nicht so, darauf legen im Grunde alle Parteien Wert.

Und das sagt einiges über diesen Rechtsruck aus, über den seit langem in Europa gesprochen wird. Hier wird ja auch der Grundwert Freiheit hochgehalten – und das schließt Ausgrenzung ausdrücklich mit ein, nämlich von der hermetisch abgesperrten „Festung Europa“, die Flüchtlinge abhalten soll. Die lässt die EU am liebsten in außereuropäische Sammellager sperren und dann nach ›brauchbar‹ und ›nicht brauchbar‹ kategorisieren, um einige als billige Arbeitskräfte zu benutzen, die Mehrheit aber in die Wüste zu schicken oder in das Elend (mit Krieg oder anderen zerstörten Lebensgrundlagen) zurückzuführen, dem sie entflohen sind.

»Die Freiheit, die ich meine…«

So heißt es in einem Volkslied zur Vaterlands-, Kriegs- und Heldenverehrung. Meloni destilliert ihren Begriff von „Freiheit“ aus Statements des früheren polnischen Papstes. Freiheit besteht demnach „nicht darin, das zu tun, was einem gefällt, sondern darin, das Recht zu haben, das zu tun, was man zu tun verpflichtet ist“, so ihre Regierungserklärung vom 25. September 2022. Dort warb sie auch für die Wiederentdeckung der „Schönheit des Elternseins“ (tagesschau.de, 25.10.22) und da ist alles, was dem entgegensteht, nicht berücksichtigenswert. Freiheit gilt nur als Erfüllung von staatlich festgelegten Pflichten, jeder darf tun, was von ihm verlangt wird! Der autoritäre Staat wird so wieder eine Konzeption, die europäische Staatenlenker/-innen selbstverständlich vertreten und die auch bei den NATO-Verbündeten als normal gilt.

Noch eine Schlussbemerkung zum Höchstwert Freiheit, den die ‚rechtskonservativen‘, populistischen oder postfaschistischen Parteien ebenfalls vehement vertreten – und sich somit in die EU-Landschaft bestens einfügen: Dem „Reich der Freiheit“ (Marx in: MEW 25, 828) sind die Mühen im „Reich der Notwendigkeit“ vorgeschaltet. Letzteres betrifft in dieser Welt die materielle Produktion, „wo das Arbeiten, das durch äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist“, auch als Lohnarbeit bekannt, die absolute Priorität hat. So ist der hochgehandelte Wert Freiheit immer an Bedingungen geknüpft, die Pflichten heißen. Der zeitlich begrenzte 24-Stunden-Tag abzüglich der nötigen etwa sieben Stunden Schlaf reicht oft nicht aus, wenn mensch auf einem Arbeitsplatz jeden Tag acht Stunden und mehr für die Privateigentümer oder die Staatsapparate zu schuften hat, die ihren Reichtum darüber flott anhäufen oder die allgemeinen Geschäftsbedingungen sichern.

Die Kosten der Knapphaltung des Lohns tragen immer noch die „unmittelbaren“ Produzenten (Marx in: MEW 24, 793). Ihr Wohlbefinden hat hintan zu stehen, Profitmaximierung des Kapitals oder Gehorsam gegenüber den nationalen Pflichten stehen ganz oben auf der staatlichen Agenda. Die Rechten vertreten das auf ihre Weise militant, dabei orten sie die Feinde ihrer Nation sowohl im Inneren wie Äußeren. Melonis Bekenntnisbuch fasst am Schluss ihr ›positives Menschenbild‹ zusammen: Den Sinn des Menschenlebens sieht sie im braven Dienst für den Nationalstaat, gleichgültig, was der Einzelne davon hat. Und die Politik ihrer neo- bzw. postfaschistischen Partei – ganz nach ihrem Credo „Ich bin ein Soldat“ – steht damit in einem ständigen Kampf.

Dessen Programm heißt: „Ja zur natürlichen Familie - nein zur LGBT-Lobby. Ja zur Kultur des Lebens, nein zu Abtreibungen. Ja zu christlichen Prinzipien, nein zu islamistischer Gewalt. Ja zu sicheren Grenzen, nein zur Masseneinwanderung. Ja zu unseren Mitbürgern, nein zur internationalen Finanzwelt. Ja zur Unabhängigkeit der Völker, nein zu den Bürokraten in Brüssel“ (tagesschau.de, 23.7.22). Einige andere Parolen, die die Tagesschau wohl übersehen hat, führt das Neue Deutschland auf: „Ja zur sexuellen Identität; Nein zur Gender-Ideologie; Nein zur Kultur des Todes [Abtreibung und Sterbehilfe]. Hoch lebe das Europa der Patrioten“ (nd-aktuell.de, 23.9.22). Wäre über Derartiges der Duce nicht hocherfreut, auch wenn dabei eine Frau als Regierungschefin anerkennen müsste?

Heutige Neo- oder Post-Faschisten können, da gewählt, frei als Regierungsvertreter der Europäischen Union auftreten, sie sind Teil der gegenwärtigen Krisenlösung, die für Minderheiten, Geflüchtete und die vielen anderen Leidtragenden der modernisierten, europäischen Politik eine Verschlechterung ihrer Lebenssituationen bedeuten. Und Faschistinnen - dies der 'Fortschritt' im 21. Jahrhunderts - mischen dabei genauso flott mit wie ihre männlichen Kollegen.

Literaturhinweise

Herbert Auniger, Ein Kulturkampf für den Backlash, Folge 1 bis 3, 15., 22. und 29. Juni 2023, https://cba.fro.at/623652 https://cba.fro.at/624562 https://cba.fro.at/625536

Gegenstandpunkt, Nr. 1, 2023: Giorgia Meloni: „Io sono Giorgia“ – Autobiografie: Meloni sagt dem Land den Kulturkampf an, https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/neue-italienische-ministerpraesidentin-sagt-land-den-kulturkampf-an

Gegenstandpunkt, Nr. 4, 2022: Heimatschutz mal anders - Amerika streitet über seine Familienwerte, https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/amerika-streitet-ueber-seine-familienwerte

Gegenstandpunkt, Nr. 4, 2006: Eine Familienministerin macht Bevölkerungspolitik: Der Staat kauft sich Kinder, https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/elterngeld-fuer-kindersegen

Eine erste Version dieses Textes ist in der Hamburger Lehrerzeitung der GEW (hlz 9-10, 2023) erschienen. Siehe https://www.gew-hamburg.de/files/hlz/ausgaben/hlz_juli-august_2023.pdf, S. 75-78.


Die AfD als Forschungsobjekt

Zum Aufschwung der AfD brachte das Overton-Magazin kurz vor den Landtagswahlen einen Kommentar von Johannes Schillo. Hier eine aktualisierte Fassung.

„AfD stärker denn je“ (FAZ, 9.10.2023). Bei den Wahlen in Bayern und Hessen hat die Partei weitere Stimmengewinne eingefahren. Und „auf die nächsten Wahlen kann die AfD nach den Erfolgen vom Sonntag optimistisch schauen.“ (FAZ). Die Fachleute warnen – und wundern sich über die Unvernunft der Laien. „Was ist mit dem Wahlvolk los?“, fragt der Bonner General-Anzeiger (9.10.2023).

Dabei hatte noch kurz vor den Landtagswahlen Monika Schnitzer, die Vorsitzende der sogenannten Wirtschaftsweisen, vor Standortnachteilen bei möglichen AfD-Wahlsiegen gewarnt – „Es ist jetzt schon so, dass Investoren diese Entwicklungen kritisch beobachten“; und zur Ursachenforschung hatte die Wirtschaftsexpertin mitgeteilt, dass sich aus rein wirtschaftlicher Sicht die weitverbreiteten hohen AfD-Werte in Ostdeutschland nicht erklären ließen: „Betrachtet man die enorme Aufbau- und Transformationsleistung in den letzten drei Jahrzehnten, gepaart mit dem heute hohen Lebensstandard, gibt es eigentlich in der Regel keinen Anlass für ein solches Wahlverhalten“ (Migazin 2023).

Erklärungen sollen laut der Wirtschaftsweisen eher in der erlebten Unsicherheit zu suchen sein, dem Eindruck des ständigen Wandels – also in einem gestörten Gefühlshaushalt. Dass viele Wähler gegen die etablierten Parteien stimmen, soll sich der Tatsache verdanken, dass sie dagegen sind. Das hat auch Bild jetzt (bild.de, 9.10.2023) mit Unterstützung des Parteienforschers Jürgen Falter herausgefunden: Erstens, die Partei habe zwar Stammwähler, „ein großer Teil der hinzugewonnenen Stimmen dürfte allerdings von Protestwählern stammen.“ Zweitens, „auch möchten viele Wähler nicht ständig moralisch bevormundet werden. Das äußert sich in Proteststimmen.“

Ein ungezogenes Wahlvolk

Tja, „gar nicht so einfach: Für Deutschland zu stimmen, aber ungehörigen Alternativen aus dem Weg zu gehen“, kommentierte jüngst Suitbert Cechura (2023) die neuesten Meldungen zum Umfragehoch der AfD. Das ist für die in Bund und Land regierenden Parteien – von CDU/CSU, SPD, FPD, Grünen bis hin zu den Linken – ebenso ein Skandal wie für die meisten öffentlichen Meinungsmacher, also für die Vertreter der Vierten Gewalt, die sich der Sorge um ein funktionierendes Gewaltmonopol verpflichtet wissen.

Für die maßgeblichen Kommentatoren ist es nämlich eine Störung des laufenden Betriebs in der hochgelobten „liberalen Demokratie“, die in Deutschland herrscht. In der sind die Wähler als Basis der weiteren Machtausübung verplant – und nicht als Querschläger vorgesehen, die wie in Spanien oder den Niederlanden Koalitionen verkomplizieren, Regierungsbildung torpedieren oder sogar der gültigen Staatsräson mit Skepsis begegnen. Dass das nicht geht, müssen die verantwortlichen Kräfte dem Wähler immer wieder einbläuen, damit er versteht: Bei den alternativen Politanbietern handelt es sich schlichtweg um einen Haufen von Radikalen und Extremisten, also um keine anständigen Demokraten wie im Fall der anderen Parteien.

Das gilt auch und gerade jetzt, wo etwa in der Migrations- und Asylfrage selbst Experten sich schwer tun, einen Unterschied zwischen den etablierten Parteien und den Alternativdeutschen festzustellen – in einer Zeit, wo etwa ein Sozialdemokrat Scholz oder eine Christdemokratin von der Leyen bestens mit einer italienischen Neofaschistin kooperieren und Europa vor einer „Migrantionsflut“ schützen. Aber hier, auf europäischer Ebene, sind die Machtverhältnisse eindeutig geklärt. Rechtsextremismus oder -populismus in der BRD dagegen ist eine Störung des eingespielten Betriebs. Das ist das Wichtige, was man wissen muss.

Auch die neue „Mitte-Studie“ (Zick u.a. 2023) bestätigt das – im Grunde ist das ihr wesentliches Ergebnis. Von dieser im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung erstellten Studie werden nämlich, wie die Junge Welt (22.9.2023) kommentierte, ganz im Gefolge der Extremismusdoktrin „Aussagen als Teil oder als Voraussetzung eines ‚rechtsextremen Weltbildes‘ präsentiert, die wohl auch revolutionäre Linke unterschreiben könnten. Knapp die Hälfte der Befragten haben beispielsweise kein Vertrauen in staatliche Institutionen, rund ein Drittel traut dem, was Massenmedien verbreiten, nicht über den Weg, und fast 40 Prozent fühlten sich politisch machtlos.“ Auch der große Bevölkerungsteil, der angeblich einem „Verschwörungsglauben“ anhängt (stolze 38 Prozent!), soll zum radikalen Rand tendieren. Dabei fallen unter diese Abteilung die disparatesten Auffassungen vom Wirken geheimer Kräfte oder böser Mächte – Auffassungen, die sonst in den staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften oder den offiziellen Polit-Narrativen ihren festen Platz haben.

Fachleute sind gefragt

Angesichts dieser Lage ist es klar, dass eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus im Parteienstreit unterbleibt. Aber wie steht es mit den Fachleuten aus Gesellschafts- oder Geisteswissenschaften, sofern sie nicht gerade von einer parteinahen Stiftung beauftragt werden, parteipolitische Abweichler auszugrenzen? Geforscht wird ja eifrig in dieser Abteilung. Doch leider muss man festhalten, dass auch hier oft die genannten Leitlinie des Extremismuskonzepts gilt, somit die politischen Inhalte weniger interessieren.

Armin Pfahl-Traughber, der Fachmann, der direkt aus dem Verfassungsschutzamt kommt und auch schon Meisterleistungen bei der Entlarvung von Marx als Linksextremist zustande gebracht hat, ist z.B. jüngst mit einer Publikation hervorgetreten, die ,,Intellektuelle Rechtsextremisten“ (2022) würdigt – die also irgendwie ernst nimmt, dass man es hier mit einem rechten Gedankengebäude, mit einer Ideologie zu tun hat, die ihrer Fehlerhaftigkeit zu überführen wäre, und nicht mit einem Ressentiment, das das Wählervolk unter Anleitung von Volksverführern emotional aufputscht oder durch eine Biedermann-Pose manipuliert. Der Staatsschutz-Experte muss sogar konstatieren, dass bei AfD und verwandten erfolgreichen Populisten keine eindeutige faschistische Ideologie vorliegt und dass man auf offene Ablehnung der Menschenrechte „eher selten“ (Pfahl-Traughber 2022, 130) trifft.

Norbert Wohlfahrt, der in einer eigenen Studie über den „Antikapitalismus der Neuen Rechten“ (Hamburg 2022) deren Bezugnahme auf theoretische Bruchstücke aus der Kritik des Kapitalismus analysiert hat, weist auf die Schwachstelle von Pfahl-Traughbers Studie hin. Bei ihm würden „die Normen eines Verfassungsstaats als nahezu unhinterfragbare Wertvorstellungen zum ‚prägenden Blick‘ auf das zu untersuchende Phänomen der Neuen Rechten stilisiert, weshalb Abweichungen von dieser Norm sich quasi aus sich heraus theoretisch und praktisch denunzieren. Warum nicht nur bei den Rechten die Berufung auf Volk und Nation hoch im Kurs stehen, warum der Ruf nach mehr staatlicher Souveränität und Durchsetzungsfähigkeit den demokratischen Alltag beherrscht, warum menschenrechtliche Demokratien alles tun, um sich ‚Fremde‘ vom Hals zu halten usw. – all dies sind aus der Perspektive einer von der Welt abstrahierenden Moralität uninteressante Fragen“. (Wohlfahrt, Rezension in: socialnet 2022)

Pfahl-Traughber plädiert nämlich für einen gesunden Patriotismus, der sich von nationalistischen Übertreibungen absetzen soll, leistet sich also, wie Wohlfahrt betont, „eine Abstraktion von allem, was den Inhalt eines völkischen Bewusstseins nun mal ausmacht“ (ebd.). Dass es beim Populismus um die Radikalisierung der patriotischen Moral geht, die in demo- wie autokratischen Nationalstaaten in höchstem Ansehen steht, wird damit definitiv aus dem Blickfeld gerückt. Also bleibt letztlich auch wieder unklar, warum der moderne Wechselwähler in der BRD so leicht zwischen politisch korrekter und unkorrekter Stimmabgabe hin- und herpendelt.

Der neue/alte deutsche Nationalismus

Erstaunlich ist in dem Zusammenhang die neue Studie des FAZ-Feuilletonisten Patrick Bahners (2023), der sich auf die Suche nach den intellektuellen Wurzeln der rechten Partei macht und dabei – wie schon in seiner damaligen Publikation über die antiislamischen, migrationsfeindlichen „Panikmacher“ – im eigenen, nämlich rechten Lager, speziell in einem von der FAZ geförderten Geistesleben fündig wird. Bahners spießte in den „Panikmachern“ die Parallelen der modernen Islamkritik zum Neo- und historischen Faschismus auf – festgemacht etwa an den paranoiden Vorstellungen von einem geburtenstraken, antideutschen Fremdvolk, das sich parallelgesellschaftlich in den Poren des Gemeinwesens festsetzt. „Die Panikmacher“ richteten dabei den Blick nicht primär auf den rechten Rand, sondern auf anerkannte Geistesgrößen, etwa auf Sarrazins Bestseller zur Migrationskritik, den er als „Futter für Rassisten“ (Bahners 2021, 38) bezeichnete.

Diese Spurensuche im „seriösen“ bürgerlichen Milieu setzt Bahners nun fort. Nur stellt er gleich klar, worauf er damit hinaus will: „Spätestens seit zehn Jahren und mit der Gründung der AfD ist der Nationalismus wieder da.“ So heißt es im Klappentext – und damit ist ähnlich wie bei Pfahl-Traughber – Nationalismus als ein Phänomen von Abweichlern identifiziert, das zwar seine Vorläufer im bürgerlichen Lager kennen mag, das aber erst jetzt, mit dem Auftreten der AfD, als politische Haltung existent sein soll.

Interessant auch, wie die FAZ (10.3.2023), die ja angeblich durch Bahners kompromittiert wird, das Buch vorstellte: „Der neue Nationalismus nährt sich aus einem antimoralischen Affekt, ist die organisationsfähige Spielart des libertären Autoritarismus.“ Die Treue zum Vaterland, die Bereitschaft, sich für es aufzuopfern und sein Leben an Werten zu orientieren, statt der Libertinage zu frönen – all das, was die FAZ seit ihrer Gründung (im Feuilleton und überhaupt) feiert, kann also nichts mit dem nationalistischen (Un-)Geist zu tun haben; der soll sich vielmehr einer Antimoral verdanken. Übrigens auch ein nettes Dankeschön des Arbeitgebers an die Adresse seines Feuilletonisten für gelungene Reinwaschung.

Die kurioseste Bestandsaufnahme bzw. Analyse zum neuen Rechtstrend hat der Hochschullehrer Christian Niemeyer, der zuletzt das umfangreiche „Schwarzbuch Neue/Alte Rechte“ (2021) vorlegte, zum Sommer 2023 abgeliefert: „Die AfD und ihr Think Tank im Sog von Trumps und Putins Untergang“. Zusammen mit den auf der Verlagsseite abrufbaren Online-Materialien liegt so ein rund 1.200-seitiges Dossier vor, das im buchstäblichen Sinne erschöpfend Auskunft über die alte und neue Rechte in Deutschland gibt. Kurios ist das Buch an erster Stelle, weil es kontrafaktisch von einem Abwärtstrend der AfD und der auswärtigen Paten dieser Partei ausgeht. Während die beiden Männer Putin und Trump, die die Promoter des hiesigen Rechtspopulismus sein sollen, „aktuell in Zeitlupe zeitgleich kollabieren“, soll es auch „mit der AfD … vorbei sein im Verlauf des Jahres 2023“. Die letzten Versuche von Björn Höcke, „der AfD neuen, Hitler-affinen bellizistischen Geist“ einzuhauchen, dürften sich „im Verlauf des Jahres 2023/24 als toxisch erweisen für diese Partei, gleichsam als Kirsche auf der Torte zu Putins Untergang“ (Niemeyer 2023, 17f).

Niemeyers Publikationen sind auch deswegen ein Kuriosum, weil sie in einer eigenartigen, schwerverständlichen „Erzählweise“ (ebd., 21) abgefasst sind – ein Einfall der postmodernen Wissenschaft, den auch Bahners hatte (und vor ihm schon sein Kollege Schirrmacher mit seiner Studie über den amoralischen „Ego-Kapitalismus“). Die Lektüre wird zudem dadurch erschwert, dass Niemeyer im Anschluss an Nietzsches „Fröhliche Wissenschaft“ den Humor als Hilfsmittel, wenn nicht sogar als Leitlinie seiner Analyse bemüht. Denn das Lachen, so heißt es im Ankündigungstext des Schwarzbuchs, wirke „geradezu Wunder bei der Vermittlung knallharter Fakten“. Eine gewagte These – so etwas hat sich der junge Aiwanger mit seinem Auschwitz-Flugblatt seinerzeit wohl auch gedacht…

Wenn man von diesen Dingen absieht, hat man hier aber ein brauchbares Kompendium zum nationalistischen und rassistischen Ungeist zur Hand, auch wenn es nicht wirklich umfassend ist – es weist z.B. auffällige Leerstellen hinsichtlich italienischer oder ukrainischer Neofaschisten im Regierungsamt bzw. Sicherheitsapparat auf! Aber es belegt ähnlich wie die Materialzusammenstellung von Bahners eine Sache eindeutig: Der rechte Rand hat es nicht geschafft, seine Positionen in der Mitte der Gesellschaft zu verankern; es ist umgekehrt, die Positionen stammen aus der Mitte der Gesellschaft und werden von rechts bei Gelegenheit polemisch gegen die Protagonisten der „liberalen Demokratie“ gewandt.

Niemeyer fasst das in seiner neuen Publikation so zusammen: Die „Neue Rechte“ – also die mit einem theoretischen Überbau auftretende und verschiedene Bewegungen inspirierende rechte Szene – „ist, was Deutschland und Österreich angeht, völkische Bewegung wie die ‚Alte Rechte‘, belehrt, nach 1945, zumeist jedenfalls, um die Einsicht, dass der II. Weltkrieg nicht hätte sein dürfen und die Shoah und die Euthanasie genauso wenig.“ (Ebd., 16) Niemeyer bringt etwa Beispiele aus der Adenauerära, wie der Übergang in die neue Staatsbürgerrolle aussah: Man hatte treu zur damaligen nationalen Führung gestanden und konnte das jetzt fortsetzen, denn mit den Exzessen gegenüber den Juden hatte man nichts zu tun (die toten Kommunisten oder Sowjets waren ja nie das Problem); man hatte sich also im Grunde nichts vorzuwerfen und und brauchte nicht irgendeinem „Schuldkult“ (Höcke) zu huldigen. Die einschlägigen Formulierungen von Strauß oder Augstein, die noch schärfer als bei Höcke ausfielen, sind ja bekannt.

Die großartige bundesdeutsche Vergangenheitsbewältigung in Sachen NS, die jetzt mit der Gleichsetzung von Putin und Hitler an ihr Ende gekommen ist, war ja im Innern der Nation stets eine etwas unhandliche Angelegenheit. Seit Adenauers Zeiten wurde daher auch eine Version zum Hausgebrauch gepflegt, derzufolge das deutsche Volk das eigentliche Opfer einer Clique von NS-Verbrechern war und von diesen missbraucht wurde. Diese Relativierung der NS-Zeit – gutes deutsches Volk, inklusive gute Soldaten, durch „böse“ Kräfte verführt – ist kein Alleinstellungsmerkmal der AfD, sondern Allgemeingut. Das weiß eben Niemeyer und kann es minutiös an der Nachkriegsgeschichte, vom Pacelli-Papst über Strauß, Filbinger, Dregger, Waldheim bis zum „führenden“ Militärhistoriker Sönke Neitzel, belegen.

Zu diesen Verbindungslinien bringt Niemeyer jetzt einige Nachträge – die sich aber, anders als der Titel vermuten ließe, nicht auf den Think Tank der AfD, die Desiderius-Erasmus-Stiftung, konzentrieren (vgl. dazu Schillo 2020, 2022), sondern sich auf das geistige Milieu richten, das dem Rechtstrend Schubkraft verleiht und die Stichworte liefert. Reichliches Material zur Erklärung des merkwürdigen AfD-Aufschwungs liegt also vor…

Nachweise

Patrick Bahners, Die Panikmacher – Die deutsche Angst vor dem Islam. Eine Streitschrift. München 2011.

Patrick Bahners, Die Wiederkehr – Die AfD und der neue deutsche Nationalismus. Stuttgart 2023.

Suitbert Cechura, Umfragehoch für die AfD – oder was die Wähler falsch machen, in: Overton-Magazin, 24. August 2023. https://overton-magazin.de/top-story/umfragehoch-fuer-die-afd-oder-was-die-waehler-falsch-machen/

Migazin, Wirtschaftsweise Schnitzer, AfD-Wahlerfolge wirtschaftlich nicht erklärbar, in: Migazin, 5. Oktober 2023.

Christian Niemeyer, Schwarzbuch Neue/Alte Rechte – Glossen, Essays, Lexikon. Mit Online-Materialien. Weinheim und Basel 2021.

Christian Niemeyer: Die AfD und ihr Think Tank im Sog von Trumps und Putins Untergang – Eine Analyse mit Denk- und Stilmitteln Nietzsches. Weinheim und Basel 2023.

Armin Pfahl-Traughber, Intellektuelle Rechtsextremisten – Das Gefahrenpotenzial der Neuen Rechten. Bonn 2022.

Johannes Schillo, Irre, die AfD hat auch einen Think Tank … in: Telepolis, 8. Februar 2020. https://www.telepolis.de/features/Irre-die-AfD-hat-auch-einen-Think-Tank-4652670.html

Johannes Schillo, Ein nationaler Aufreger – Zur Kritik der Erinnerungskultur. Ulm 2022.

Norbert Wohlfahrt, (Rezension zu) Pfahl-Traughber, Intellektuelle Rechtsextremisten, in: socialnet, 7. Oktober 2022. https://www.socialnet.de/rezensionen/29684.php.

Norbert Wohlfahrt: Revolution von rechts? Der Antikapitalismus der Neuen Rechten und seine radikalpatriotische Moral – eine Streitschrift. Hamburg 2022.

Andreas Zick/Beate Küpper/Nico Mokros, Die distanzierte Mitte – Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/23. Hg. für die Friedrich-Ebert-Stiftung v. Franziska Schröter, Bonn 2023.


September

Denkfabriken fabrizieren Kriegspropaganda

Norbert Wohlfahrt hat Denkfabriken als patriotische Instanzen westlicher Kriegführungsstrategien unter die Lupe genommen. Dazu ein Hinweis der IVA-Redaktion.

Die Kriegsmoral ist in Deutschland auf dem Vormarsch. In Medien, Wissenschaft und Bildung stellen sich die Kopfarbeiter der Nation auf die neue Lage seit der „Zeitenwende“ ein und tragen selbstbewusst zur Formierung der Heimatfront bei. Dass es noch eine Gegenöffentlichkeit gibt, gilt z.B. als Skandal, dem auf Desinformation spezialisierte Behörden nachspüren. Im Wissenschaftsbetrieb wird ebenfalls penibel darauf geachtet – siehe den Fall Guérot –, dass keiner und keine aus der Reihe tanzt. Und in Bildungseinrichtungen weiß das pädagogische Personal im Staatsdienst sowieso, was die Stunde geschlagen hat. So werden sogar in Grundschulen die Kleinen angeleitet, blaugelbe Friedenstauben zu malen, während in der außerschulischen Bildungsszene, die sich früher einmal als Ort der Kontroverse und des staatsfreien, „zivilgesellschaftlichen“ Diskurses verstand, mittlerweile – siehe den Fall Krone-Schmalz – streng auf Linientreue geachtet wird! (Zu den beiden Fällen vgl. Wohlfahrt/Schillo 2023, S. 105ff.)

Wie gesagt, das ist die Leistung von Patrioten und – nicht zu vergessen – Patriotinnen, die angesichts der neuen (Vor-)Kriegslage „ihrem“ Gemeinwesen die Treue halten. Dabei ist es aber nicht so, dass sich der Staat einfach auf die Loyalität seines gemeinen Fußvolks und seiner Funktionseliten verlassen würde. Freerk Huisken hat das in seiner neuen Flugschrift „Frieden“ auch zum Thema gemacht. Als Erstes hält er fest, dass die deutsche Kriegsbeteiligung – die ja in puncto Wirtschaftskrieg direkt gegeben ist, mit den Waffenlieferungen, Ausbildungsmaßnahmen etc. (noch) indirekt – hierzulande auf keinen größeren Widerstand stößt. Die genannten Fälle der Maßregelung, denen man noch einige weitere hinzufügen könnte, stellen Ausnahmen dar. Sie haben allerdings exemplarische Wirkung. Jeder kann an ihnen ablesen, wie weit man gehen darf.

Aber nicht nur das. Der Staat sorgt vor für den Fall, dass es in schweren Zeiten an Loyalität – und sei es bloß bei Meinungsäußerungen und Haltungen – mangeln könnte. Wenn er der „Vierten Gewalt“ die Kriegspropaganda überlässt sowie die Aufgabe, geistige Abweichler an den Pranger zu stellen, dann hindert ihn das „nicht daran, Überlegungen anzustellen, ob nicht im Bereich der anderen drei Gewalten die eine oder andere Nachsorge fällig ist“ (Huisken 2023, S. 85). Huisken geht dann ausführlich auf die Neufassung des „Volksverhetzungsparagraphen“ StGB § 130 ein, die in einem so genannten Omnibusverfahren – in einer „Nacht- und Nebelaktion“, wie die FAZ schrieb – über die Bühne gebracht wurde. Wie passend: Künftig gibt es einen neuen juristischen Hebel, Demonstrationen und Kundgebungen als Straftaten zu werten – wenn die Brandmarkung Putins als Ausgeburt des Bösen zu wünschen übrig lässt.

Im staatlichen Auftrag

Mit dieser Neuerung ist es aus Sicht der Politik aber nicht getan, weitere Ideen zur Formierung sind unterwegs. Möglicher Weise kommt ein Demokratieförderungsgesetz, dass bei Initiativen und Unternehmungen aufräumt, denen früher – etwa als Bürgerinitiativen, Geschichtswerkstätten, Beratungsstellen gegen rechts etc. – eine gewisse Eigenständigkeit zugestanden wurde. Das diente bislang zum Lob der Zivilgesellschaft, die sich im Unterschied zu autokratischen Regimen bei uns frei entfalten darf. In der Stunde der Not muss natürlich auch hier stärker eingegriffen werden, damit die Sache nicht von Extremisten gekapert wird. Vielleicht kommt ja auch ein „Bundesprogramm Patriotismus“, das Demokratieförderung gleich aufs entscheidende Ziel hin orientiert. Ein entsprechender Antrag wurde von der CDU/CSU-Fraktion bereits in den Bundestag eingebracht und stieß nicht auf generelle Ablehnung bei der Ampel.

In dem Kontext ist wichtig, dass Norbert Wohlfahrt jetzt westliche „Think Tanks“ unter die Lupe genommen hat. Es handelt sich hier erstens um die Rand (Research and Development) Corporation, eine US-amerikanische Forschungseinrichtung, die als Non-Profit-Organisation gegründet wurde und sich im Kalten Krieg als auf Verteidigungsfragen spezialisierte Denkfabrik profilierte. Zweitens wird die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) vorgestellt. Die 1962 auf private Initiative gegründete Stiftung wird seit einem Beschluss des Deutschen Bundestag aus den 60ern als „unabhängige Forschungsstelle“ unterstützt und aus Bundesmitteln finanziert. Drittens wird eine jüngere Initiative, die aber mit dem Ukrainekrieg eine besondere Wucht entfaltet hat, abgehandelt: Das Zentrum Liberale Moderne (ZLM), das nach eigener Aussage für die Verteidigung und Erneuerung der liberalen Demokratie streitet. Das Zentrum wurde 2017 von den grünen Politikern Marieluise Beck und Ralf Fücks gegründet und wird seit 2019 im Rahmen der institutionellen Förderung aus dem Bundeshaushalt finanziert.

Wohlfahrt hält dazu allgemein fest, dass diese angeblich seriösen Einrichtungen nicht zu Unrecht als Lieferanten von staatsnützlichen Denkfabrikaten, also als Thinktanks, bezeichnet werden. In ihnen bemühen sich „staatlich finanzierte und mit privatem Geld gesponserte Wissenschaftler um nichts anderes, als der eigenen Nation Vorschläge zur Optimierung ihrer geostrategischen Handlungs- und militärischen Durchsetzungsfähigkeit zu unterbreiten, deren Kriegsfähigkeit zu bewerten und vor Fehlentwicklungen im Interesse der Nation zu warnen.“ (Wohlfahrt 2023)

Wie eindeutig diese Denkfabriken die jeweilige nationale Sache affirmieren (im vorliegenden Text vor allem an dem Unterschied von USA und BRD festgemacht) und wie sehr sie bis zur letzten militärischen, auch nuklearen Konsequenz vorausdenken, zeigt der Autor etwa am Beispiel der Rand Corporation. Diese hatte im Grunde schon immer (Sowjet-)Russland als Rivalen im Visier. 2019 gehörten zu den von RAND „empfohlenen Maßnahmen … verstärkte Waffenlieferungen an die Ukraine zur Kriegführung im Osten, ein Regimewechsel in Belarus und die Forcierung der Spannungen zwischen Armenien und Aserbaidschan. Es gelte russische Erdölexporte zu behindern, russische Gasexporte zu reduzieren und Sanktionen gegen Moskau zu verschärfen“. Seit Kriegsbeginn sieht RAND jetzt die Zurückdrängung des Rivalen auf einem guten Weg. Wörtlich heißt es in einer Studie, die Wohlfahrt zitiert: „Ein langwieriger Konflikt, so abwegig er auch erscheinen mag, hat einige potentielle Vorteile für die Vereinigten Staaten. Solange der Krieg andauert, sind die russischen Streitkräfte weiterhin mit der Ukraine beschäftigt und haben somit nicht die Möglichkeit, andere Länder zu bedrohen.“

Bei den deutschen Denkfabriken sieht es etwas anders aus. Zwar wird auch hier imperialer Klartext gesprochen. Aber im Unterschied zu ihren US-amerikanischen Kollegen – das hält Wohlfahrt fest – können die Wissenschaftler der Stiftung Wissenschaft und Politik nicht von einer durch Deutschland beherrschten Weltordnung ausgehen. Sie müssen vielmehr „ihren Gehirnschmalz darauf verwenden, wie Deutschland eine Führungsrolle in Europa und eine gestärkte militärische Durchsetzungsfähigkeit erlangen kann.“ Anders als aus amerikanischer Perspektive, wo ein lang andauernder Zermürbungs- und Abnutzungskrieg seine Vorteile zeigt, geht es hier um künftigen EU-Besitz. Sprich: Die ganze Ukraine soll es sein!

Wohlfahrt zitiert aus einem SWP-Papier von 2022: „Die beiden Säulen der Militarisierung der russischen Außenpolitik – Fähigkeiten und Absichten – können nur dann gekippt werden, wenn Russland eine klare Niederlage erleidet und die staatliche Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine langfristig gesichert wird.“

So geht Wissenschaft als dienstbarer Geist im Staatsauftrag, der sich gleichzeitig als „unabhängige“ Institution aufstellt und in dieser Rolle gern von den Leitmedien um seine Expertise gebeten wird. Das Zentrum Liberale Moderne (ZLM) steht in dieser Hinsicht übrigens der SWP nicht nach, bringt aber noch eine Variante der Dienstfertigkeit ins Spiel: Vorauseilend und scharfmachend werden der Politik ihre eigenen Ziele vorgehalten, damit sie auf keinen Fall bei deren Verfolgung nachlässt. Wohlfahrt hält als eine der zentralen Aufgaben der grünen Denkfabrik fest, „den grünen Bellizismus wissenschaftlich zu untermauern und auf Mängel der deutschen Kriegswilligkeit aufmerksam zu machen“.

In diesem Zusammenhang ist auch daran zu erinnern, dass das ZLM diese Aufgabe gerade im Vorlauf des Ukrainekrieges wahrgenommen und Wichtiges bei der moralischen Aufrüstung geleistet hat. In einer Analyse bei Telepolis hieß es Anfang 2021: Beim ZLM „geht es wohl auch um ein Signal in Richtung ‚Schwarz-Grün‘ und intern darum, mit gewissen linken Traditionen aufzuräumen. Dazu findet ein dezidierter Anschluss an die Extremismustheorie statt – und damit eine Absage an antikapitalistische Strömungen. Der Kampf gegen ‚die langen Linien antiliberalen Denkens‘ soll nämlich gegen rechts wie links in gleicher Weise Stellung beziehen“ (Schillo 2021). Im Endeffekt jedoch, das zeigte die kritische Analysen des ZLM am Beispiel des Kampfes gegen rechts, ging es darum, jede Kritik am Kapitalismus als antiliberal, somit als extremistisch und damit den Linksextremismus als eigentliche Gefahr zu identifizieren. Dabei musste natürlich die „Gegneranalyse“ des ZLM eine ganze Mengen an intellektuellen Verrenkungen vornehmen. Somit kann man Wohlfahrts Überschrift „Ideologien und Idiotien“ nur zustimmen.

Und schlüssig ist auch sein Fazit: „Die Denkfabriken des Westens produzieren ihr patriotisches Wissen entlang der geostrategischen imperialen Handlungsfähigkeit ihrer Nationen“. Und das tragen sie vor als unabhängige, wissenschaftlich erarbeitete Erkenntnis. Wer hierzulande Zweifel am Regierungskurs und Rechtfertigung vorbringt, entlarvt sich also schnell als Feind im Innern der Nation.

Nachweise

Freerk Huisken, FRIEDEN. Eine Kritik. Aus aktuellem Anlass. Eine Flugschrift. Hamburg 2023.

Johannes Schillo, Adenauers Geist im Dunstkreis der Grünen. Telepolis, 13.2.2021 https://www.telepolis.de/features/Adenauers-Geist-im-Dunstkreis-der-Gruenen-5054199.html

Norbert Wohlfahrt, Wertebasierte Wissenschaft – Denkfabriken als patriotische Instanz westlicher Kriegführungsstrategien. In: Junge Welt, 4.9.2023.

Norbert Wohlfahrt/Johannes Schillo, Deutsche Kriegsmoral auf dem Vormarsch – Lektionen in patriotischem Denken über „westliche Werte“. Eine Flugschrift. Hamburg 2023.


August

Ukrainekrieg: Die Jasager und die Neinsager

Das proletarische Einverständnis mit der promilitärischen Zeitenwende der BRD hat der DGB umgehend hergestellt, es gibt aber noch oppositionelle Stimmen aus den Gewerkschaften. Dazu eine Information der IVA-Redaktion.

Kritik am deutschen Kriegskurs – der wirtschaftlichen Ruinierung Russlands sowie der Aufrüstung des ukrainischen Stellvertreters – und an der kriegsmoralischen Formierung der Öffentlichkeit hat es in den Gewerkschaften seit dem Jahr 2022 gegeben, so etwa beim Gewerkschaftsforum Dortmund (gewerkschaftsforum.de) oder beim GEW-Magazin Ansbach (https://www.gew-ansbach.de/). Jetzt versucht eine Initiative, die Ende Juli 2023 gestartet ist, solchen Einspruch zu bündeln.

„Sagt nein!“

Die Initiative nennt sich: „SAGT NEIN! Gewerkschafter:innen gegen Krieg, Militarismus und Burgfrieden“. Homepage: https://www.sagtnein.de/. Kontakt:info@sagtnein.org. Sie wurde vor allem von Mitgliedern der DGB-Gewerkschaft Ver.di gestartet und wird von verschiedenen Gruppierungen und Sympathisanten unterstützt. Sie hat einen Aufruf veröffentlicht, der über die genannte Homepage oder über www.change.org abgerufen werden kann und der bisher (Stand: 20. August) von mehr als 6.000 Personen unterschrieben wurde.

Wie die Verfasser des Aufrufs schreiben, eint sie „die Ablehnung eines Denkens in militärischen Kategorien“.  Dabei erinnern sie an die mehr als 100 Jahre alte Tradition der Arbeiter-, speziell Gewerkschaftsbewegung, sich den imperialistischen Affären ihrer Herrschaften – bis zum bitteren Ende – als nationale Ressource zur Verfügung zu stellen. Dagegen setzen sie:

„Wir lehnen jegliche Parteinahme für jeden kriegführenden Staat oder die Bündnisse, die an den Kriegen der Herrschenden beteiligt sind, kategorisch ab. Unsere Zukunft ist nicht an der Seite der deutschen Regierung oder irgend einer anderen Kriegspartei, sondern an der Seite der Arbeiter:innen, der Kriegsdienstverweiger:innen, Deserteur:innen und der Flüchtlinge aus und in der Ukraine, Russland, Belarus und weltweit! Arbeiter:innen schießen nicht auf Arbeiter:innen!“

Unmittelbarer Anlass für den Start der Initiative ist der Ver.di-Bundeskongress, der vom 17. bis 22. September 2023 in Berlin stattfindet. Nachdem der DGB-Bundeskongress 2022 auf Betreiben des DGB-Bundesvorstandes sein Ja zu Waffenlieferungen und Aufrüstung abgeliefert hatte, soll nun die Einreihung in die NATO-Front auf Initiative des Ver.di-Vorstandes auch auf dem Bundeskongress verbindlich gemacht werden. Unter dem Deckmantel eines „umfassenden Sicherheitsbegriffs“, so die Kritik des Aufrufs, sollen sich Gewerkschaftsmitglieder als Jasager zur neuen Kriegslogik bekennen.

Die Betreuung der Heimatfront

Auf der „Sagt nein!“-Homepage ist unter dem Titel „An der Heimatfront – die Reihen fest geschlossen!“ ein Text von Johannes Schillo verlinkt, der im Sommer 2022 im Dortmunder Gewerkschaftsforum erschienen ist. Er bezog sich auf den Aufruf „Für Solidarität und Zusammenhalt jetzt!“, der von Ver.di 2022 initiiert worden war und in dem es hieß: „Russlands Machthaber Wladimir Putin will die westlichen Demokratien destabilisieren und spalten. Wir rufen alle Bürgerinnen und Bürger auf: Treten wir dieser zerstörerischen Strategie durch unseren Zusammenhalt gemeinsam entgegen!“ Das kommt nicht vom Verteidigungsministerium, betonte der kritische Kommentar im Gewerkschaftsforum, sondern ist das Bekenntnis eines Arbeitervereins zu seiner nationalen Verantwortung. Der ist sich der schweren Zeiten, die auf Arbeitnehmer zukommen, bewusst und nimmt auch kein Blatt vor den Mund, was die aktuelle Lage betrifft: Wachsende Armut in Deutschland wird angesagt, geleugnet und gleichzeitig als epochale Herausforderung ins Bedrohungsszenario vom bösen Putin eingebaut.

Nachlesen kann man den Beitrag unter: https://gewerkschaftsforum.de/an-der-heimatfront-die-reihen-fest-geschlossen/

„Der Weg ins Zeitalter der Weltkriege – Von August Bebel zu Olaf Scholz“. So hieß ein weiterer Beitrag im Gewerkschaftsforum von Ende 2022. Wo allenthalben Rückblicke aufs abgelaufene Jahr, auf die Folgen der „Zeitenwende“, veranstaltet wurden, sollte ein weiterer Blick – mehr als 100 Jahre – zurück auf die Wende von 1914, als sich die Arbeiterbewegung auf den Weg ins Zeitalter der Weltkriege begab, gerichtet werden. Dabei wird auch die Rolle der Gewerkschaften thematisiert.

Nachzulesen unter: https://gewerkschaftsforum.de/der-weg-ins-zeitalter-der-weltkriege-von-august-bebel-zu-olaf-scholz/

Ebenfalls mit einer Retrospektive befasste sich: „Weg vom Klassenstandpunkt – Die Arbeiterbewegung auf dem Weg ins Zeitalter der Weltkriege“. In dem Text von Frank Bernhardt aus dem GEW-Magazin Ansbach ging es um Anton Pannekoeks Schrift „Klassenkampf und Nation“, die 2022 neu aufgelegt wurde – ein Rückblick auf die Welt am Vorabend des Ersten Weltkriegs, als die Arbeiterbewegung ihre Kritik an der Nation prinzipiell aufkündigte.

Nachzulesen unter: https://www.gew-ansbach.de/2022/12/die-arbeiterbewegung-auf-dem-weg-ins-zeitalter-der-weltkriege/

Auf die aktuelle Lage im Sommer 2022 bezog sich eine weitere Veröffentlichung beim GEW-Magazin: „Auch das noch! Putin verarmt und spaltet »uns«“. Die kritische Bilanz von  Bernhardt/Schillo zu den Folgen des deutschen Wirtschaftskriegs nahm die offiziellen Ansagen der Politik ins Visier, dass mit weiterer Verarmung zu rechnen sei. Dazu hieß es: Armutsforschung und Gewerkschaften stehen dem hiesigen Fußvolk zur Seite und kümmern sich – wenn auch um sonst nichts – um den nationalen Schulterschluss.

Nachzulesen unter: https://www.gew-ansbach.de/data/2022/08/Bernhardt_Schillo_Auch-das-noch-Putin_verarmt_und_spaltet_uns.pdf

Ein weiterer Beitrag im Sommer 2023 befasste sich mit den Fortschritten der Verarmung: „Aktuelle Meldung: Preise bleiben hoch! Inflation frisst Löhne!“ Und sie macht auch vor den Gehältern nicht halt, zitierte Frank Bernhardt aus der Gewerkschaftspresse. „Die Einkommen schrumpfen gewaltig“ (www.gew-hamburg.de, hlz 11-12/22, 22), hieß es bereits im Jahr 2022, nachdem die Ergebnisse der letzten Tarifrunde schon Monate vor der nächsten aufgezehrt waren.

Die Bilanz von Bernhardt war zuvor bereits in der Hamburger Lehrerzeitung der GEW erschienen. Die aktualisierte Fassung ist nachzulesen unter: https://www.gew-ansbach.de/2023/07/aktuelle-meldung-preise-bleiben-hoch-inflation-frisst-loehne/

Dass der nationale Schulterschluss von Gewerkschaften keine Selbstverständlichkeit ist, hat Renate Dillmann in einem Beitrag Anfang 2023 im Gewerkschaftsforum deutlich gemacht: „Lehrstück über kleine Unterschiede – Drei Länder, eine Krise, verschiedene Reaktionen“. Die Autorin hält fest, dass die Regierungen in Europa nach eigener Darstellung angesichts des Kriegs gegen Russland, den sie mitveranstalten und eskalieren, überall vor „harten Herausforderungen“ stehen. Deren Bewältigung soll auf dem Rücken der Lohnabhängigen ausgetragen werden, doch dabei sind durchaus Unterschiede zu verzeichnen: Die deutsche Bevölkerung lässt sich das gefallen. In Frankreich wird gestreikt. Im Vereinigten Königreich kommt der Widerstand von der anderen Klasse. Dillmann liefert dazu ein Lehrstück über nationale Unterschiede.

Nachzulesen unter: https://gewerkschaftsforum.de/lehrstueck-ueber-kleine-unterschiede-drei-laender-eine-krise-verschiedene-reaktionen/

„Deutsche Kriegsmoral auf dem Vormarsch“

Die gleichnamige Flugschrift aus dem VSA-Verlag wurde bereits auf IVA vorgestellt, siehe: Texte2023/Mai, „Zur Kritik der (patriotischen) Moral“. Sie bietet Lektionen in Sachen „patriotische Moral“ – passend zur Formierung der deutschen Öffentlichkeit mit ihrer antirussischen Leitlinie. Dazu gab es ebenfalls beim Gewerkschaftsforum ein Gespräch von  Frank Bernhardt mit dem Ko-Autor Schillo, wobei auch die Rolle der Gewerkschaften zur Sprache kam.

Nachzulesen unter: https://gewerkschaftsforum.de/deutsche-kriegsmoral-auf-dem-vormarsch/

Eine umfassende Kritik am neuen Ideal eines bis an die Zähne bewaffneten Friedens bietet die Flugschrift „FRIEDEN. Eine Kritik. Aus aktuellem Anlass“ von Freerk Huisken, die im August 2023 erschienen ist. (Hamburg, VSA, 154 Seiten, ISBN 978-3-96488-193-9. Homepage des Verlags: https://www.vsa-verlag.de/nc/buecher/detail/artikel/frieden/)

In der Ankündigung heißt es: Die Rede vom Frieden beherrscht die hiesige politische Debatte als moralische Rechtfertigung ihrer Kriegsbeteiligung gegen „das Böse“ in Gestalt der Russischen Föderation. Sie setzt von heute auf morgen die politische Verpflichtung „Nie wieder Krieg!“ außer Kraft und findet sofort Unterstützung in den Reihen hiesiger Bürger. Als loyale Nationalmoral beherrscht sie die Medien, mit deren Hilfe zugleich die Fahndung nach „Putin-Verstehern“ betrieben wird.

Huisken (https://fhuisken.de/) ist Professor im Ruhestand an der Universität Bremen mit dem Schwerpunkt Politische Ökonomie des Ausbildungssektors. Er hat im Auswege-Magazin (bis 2020 herausgegeben von der GEW Ansbach) zahlreiche Beiträge zu Bildungsarbeit und Bildungspolitik veröffentlicht, unter anderem in der Reihe „Gegenreden“. Dort ist etwa 2010 die Gegenrede Nr. 17 zur Kritik des Nationalismus erschienen, ein Gespräch mit einem Schüler: „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein. Warum auch nicht?“

Nachzulesen sind diese und andere Gegenreden unter: https://www.magazin-auswege.de/data/2011/09/Huisken_Gegenrede17_Dialog_Deutschland.pdf

Last but not least sei darauf hingewiesen, dass gerade eine Aufsatzsammlung von Renate Dillmann erschienen ist. Sie enthält Texte, die seit dem Beginn des Ukrainekriegs veröffentlicht wurden. Teil 1 bringt Artikel, die sich mit dem Krieg, seinen Zwecken, seinen Begründungen auseinandersetzen. Teil 2 beschäftigt sich mit den deutschen Medien und ihren Leistungen im Ukrainekrieg. Das knüpft an die Reihe zur Medienkritik an, die die Autorin beim YouTube-Kanal 99zu1 (https://www.youtube.com/watch?v=f0f7q6JYdfI) gemacht hat.

Das neue Buch von Dillmann heißt „Abweichendes zum Ukraine-Krieg“ (Verlag MVB, August 2023, 123 Seiten, 8 Euro) und ist bei Amazon erschienen. Bezug über: https://www.amazon.de.


Deutsche Nationalmoral 2022ff

Zur neuen Gesinnungslage seit der von Kanzler Scholz angesagten „Zeitenwende“ gibt es mittlerweile eine Reihe kritischer Stellungnahmen. Dazu hier einige Hinweise der IVA-Redaktion.

Auf die Gesinnungswende, die hierzulande seit der russischen Invasion in die Ukraine erfolgt ist, hat IVA bereits aufmerksam gemacht. Die Bemerkungen (siehe IVA-Redaktion 2023) bezogen sich auf die Kritik der patriotischen Moral, wie sie in der Flugschrift „Deutsche Kriegsmoral auf dem Vormarsch“ (2023) von Norbert Wohlfahrt und Johannes Schillo versucht wurde. Ausgangspunkt dieser Schrift war, dass in Deutschland – bei aller antisowjetischen bzw. antirussischen Kontinuität seit den Zeiten des Kalten Kriegs – eine Umstellung im nationalen Selbstbild stattgefunden hat.

Signifikanter Ausdruck dieser Wende ist etwa die Tatsache, dass rückblickend das Agieren einer Kanzlerin Merkel oder eines Außenministers Steinmeier der Kollaboration mit dem Feind verdächtigt wird (um von Kanzler Schröder ganz zu schweigen), so dass Deutschland gewissermaßen in eine neue Etappe der Vergangenheitsbewältigung eintritt. Und aktuell wird im Medien- oder Wissenschaftsbetrieb scharf darauf geachtet, dass keiner aus der Reihe tanzt. Bei Renitenz – siehe den Fall Guérot – droht letztlich Berufsverbot.

Friedensmacht Deutschland

Zur neuen Lage gehört aber auch, dass von den Resten der Friedensbewegung rückblickend die Ära der Entspannungspolitik bemüht wird, um Prostest gegen den aktuellen militaristischen Regierungskurs einzulegen. Freerk Huisken hat dies in seinem Beitrag für die Junge Welt (31.7.2023) am Beispiel des Friedensappells von Peter Brandt, dem Sohn Willy Brandts, aufgegriffen: Es handle sich hier um die übliche, idealisierende Deutung der Nachkriegsgeschichte im Lichte einer „Friedens-und Entspannungspolitik“, die Deutschland zur Friedensmacht stilisiere.

Dieser Politik des ehemaligen Frontstaats sollen sich, so Brandt jr. und die anderen Appellanten, nicht nur die „deutsche Einheit und die Überwindung der europäischen Spaltung“ verdanken. Auch die Vereinten Nationen, die dem Aufruf zufolge „mit dem Konzept der gemeinsamen Sicherheit den Weg in eine friedliche Welt aufgezeigt“ haben, basieren demzufolge auf deutscher Friedenspolitik. Denn die „Wurzeln“ dieses Konzepts liegen, wie es im Aufruf heißt, ebenfalls „in der deutschen Friedens- und Entspannungspolitik“.

Huisken resümiert: „Man höre und staune! An deutschem Friedenswesen soll nicht nur in Zukunft – bei der Beendigung des Krieges – die Welt genesen, sondern diesem Wesen soll sich auch mindestens der europäische Frieden der jüngeren Vergangenheit verdankt haben.“ Huisken führt seine Kritik an solchen Vorstellungen in den ersten Kapiteln seiner neuen Flugschrift „Frieden“ (2023) aus. Dabei geht es nicht nur darum, die Idealisierung der Entspannungsära zu dekonstruieren, die mit ihrem „Wandel durch Annäherung“ ja die Feindschaft zum Ostblock aufrecht erhielt. Huisken zielt vor allem auf den Gehalt, der Friedensordnung, die der Westen mit dem Ukrainekrieg wiederherstellen will, und widmet dem den Hauptteil seiner Schrift. Es handle sich um eine Ordnung, die ihre Kriegsträchtigkeit von vornherein in sich trägt. Daher sein Fazit: „Vor dem Frieden aus der ‚Mitte der Gesellschaft‘, aus der dieser Appell stammt, kann man nur warnen“.

Wenn von Deutschlands Rolle als ehemaliger Friedensmacht im Ost-West-Gegensatz die Rede ist – plakatiert mit der doppelten Losung „Nie wieder Krieg! Nie wieder Auschwitz!“ und repräsentiert durch einen Friedensnobelpreisträger Brandt, der sich doch tatsächlich bei seinem Besuch in Warschau zu einem Kniefall hinreißen ließ –, dann sollte man sich als Erstes den harten Kern des damaligen weichen Kurses in Erinnerung rufen: Es ging darum, dem Feind, der zum Ärger des Westens ein ‚nukleares Patt‘ hinbekommen hatte, etwas entspannter, auch zum Nutzen deutscher Geschäftemacher (siehe das Gas-Röhren-Geschäft), zu begegnen. Und zwar deshalb, um auf seine inneren Verhältnisse wirksam Einfluss zu nehmen, Unmut in der Bevölkerung zu fördern und im feindlichen „Block“ Konflikte zu schüren.

Trotzdem trifft es zu, dass sich die patriotische Moral damals mit einem Friedensidealismus schmückte, der auch bei massivster Auf- und „Nach“-Rüstung (gerade durch sozialdemokratische Politiker beflügelt) bis zum Beginn des Kosovokrieg Bestand hatte und selbst dann noch fortlebte. Fischer, Scharping und Co. beriefen sich für die deutsche Kriegsbeteiligung ja auf die antifaschistische und antimilitaristische Gründungslegende der BRD. Und bei den folgenden Militäreinsätzen wurde ebenfalls daran festgehalten. Sie wurden als Friedensmissionen eingestuft, zu friedenserhaltenden Maßnahmen oder (wie später von Putin kopiert) zu Spezial-Operationen deklariert, die bloß eine geordnete Sicherheitslage wiederherstellen sollten. Das galt bis in die jüngste Vergangenheit, bis Verteidigungsminister Guttenberg nach 10 Jahren Besatzungsregime in Afghanistan einräumte, man könne auch umgangssprachlich von Krieg sprechen.

Mit dieser „Zurückhaltung“, wie sie von Gauck und Konsorten immer wieder gegeißelt wurde, ist jetzt definitiv Schluss. Deutschland hat keine Hemmungen mehr, „Verantwortung“ zu übernehmen, wie das andere Mantra der Kriegstreiber seit über 30 Jahren lautet.

Die neue Kriegsmoral

Huisken hält fest: Friedensmoral ist mittlerweile Kriegsmoral. Sie bekennt sich – fast schon im imperialistischen Klartext – zur gewaltsamen Sicherung eines Zustandes, der mit dem alten pazifistischen Ideal gewaltloser Staaten-Verhältnisse nichts mehr zu tun hat. Frieden ist kein Gegensatz zum Krieg mehr, sondern „Krieg in seiner Möglichkeitsform“. Und als Nationalmoral beherrscht dieses Bekenntnis die Medien, mit deren Hilfe zugleich die Fahndung nach „Putin-Verstehern“ betrieben wird.

Damit ändert sich das Selbstbild der Nation, während beim Feindbild ‚bloß‘ an einer über hundert Jahre alten antirussischen Tradition von der imperialistisch-zaristischen, jüdisch-gottlos-bolschewistischen, totalitären, autokratischen, neoimperialen… Macht im Osten weitergestrickt wird. Die deutsche Nation ist dagegen die geläuterte, zum Guten berufene Macht auf dem Globus, angeleitet durch Werte und basierend auf Regeln sowie zu robuster Führung verpflichtet. Dabei möglicher Weise etwas durch US-Dominanz daran gehindert, ihre Potenziale zu entfalten, und fürs Erste auf nukleare Teilhabe beschränkt.

Somit haben sich gewisse Umständlichkeiten für die deutsche Nation – die sich früher einmal mit der Vergangenheitsbewältigung des Nationalsozialismus herumschlagen musste – erledigt. Und so hat sich auch die Aufregung um einen „Schuldkult“ (Björn Höcke u.a.), der die deutsche Politik angeblich lähmt, gelegt. Die Kritik der deutschen Erinnerungskultur, die etwa Johannes Schillo Ende Februar 2022 unter dem Titel „Ein nationaler Aufreger“ vorlegte, betraf so gesehen eine vergangene Epoche. Im Grund war das Buch (Redaktionsschluss: Ende Dezember 2021) am Tag seines Erscheinens veraltet.

Die Umstellung kann man an zwei Entwicklungen studieren. Einmal spielt die AfD jetzt eine neue Rolle. Fraktions- und Parteichef Tino Chrupalla und der AfD-Ehrenvorsitzenden Alexander Gauland machten etwa dieses Jahr angesichts des ,Tags des Sieges‘ der Sowjetarmee über Nazi-Deutschland am 8./9. Mai 1945 einen Besuch in der russischen Botschaft; und auf einem Foto ist eigens dokumentiert, wie Chrupalla, dem russischen Botschafter ein Geschenk überreicht (Berliner Zeitung, 11.5.2023). Oder bei „Maybrit Illner“ ging es nach dem NATO-Gipfel um die Frage, ob eine stärkere NATO eine Provokation für Russland darstelle. Der eingeladene Gauland bekannte in dem Gespräch: „Ich finde es keine gute Idee, wenn deutsche Panzer russische Soldaten töten“ (welt.de, 14.7.2023). Dabei fiel ihm sogar die unselige deutsche Vergangenheit ein, worauf die Moderatorin ihn mit seiner eigenen Einsicht konfrontierte, bei der NS-Zeit habe es sich doch nur um einen „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte gehandelt…

Zum andern überbieten sich alle Parteien im Bekenntnis zur deutschen Nation – von der Ampel über CDU/CSU oder Bodo Ramelow bis zu den Rechtspopulisten, die eigentlich zum guten Deutschland nicht dazugehören. Ein markantes Beispiel ist hier das „Bundesprogramm Patriotismus“, das im Frühjahr 2023 die (noch) größte Oppositionskraft, angestoßen von Philipp Amthor aus dem machtgeilen Christen-Nachwuchs, in den Bundestag einbrachte (siehe Bundestags-Drucksache 20/6903 https://dserver.bundestag.de/btd/20/069/2006903.pdf). Wie Norbert Wohlfahrt und Johannes Schillo ausgeführt haben (siehe ihre Beiträge in Junge Welt und Konkret), ist dieser oppositionelle Vorstoß in der Hauptsache eine Bekräftigung dessen, was sowieso in der Nation gilt und von oben angesagt ist.

Und was aus dem Mainstream der Linkspartei dagegen an trostlosen Einsprüchen kommt, wird ausführlich in der Flugschrift von Huisken oder in der Analyse des Gegenstandpunkts (Nr 2, 2023) behandelt…

Nachweise

Peter Decker (und Redaktion), DIE LINKE und der Ukraine-Krieg – Von den Schwierigkeiten eines antimilitaristischen Politikangebots in Zeiten des Krieges, in: Gegenstandpunkt, Nr. 2, 2023.

Freerk Huisken, FRIEDEN. Eine Kritik. Aus aktuellem Anlass. Eine Flugschrift. Hamburg 2023.

Freerk Huisken, Kritik der falschen Kriegskritik – Über fehlerhafte Vorstellung vom deutschen Staat und dessen Friedenswillen, in: Junge Welt, 31.7.2023.

IVA-Redaktion, Zur Kritik der (patriotischen) Moral, in: IVA, Texte23, Mai 2023.

Johannes Schillo, Ein nationaler Aufreger – Zur Kritik der Erinnerungskultur. Ulm 2022.

Johannes Schillo, Mehr Vaterland wagen – Wie Unionspolitiker von der Bundesregierung etwas fordern, was sie sowieso längst tut, in: Konkret, Nr. 8, 2023.

Norbert Wohlfahrt/Johannes Schillo, So stolz – Philipp Amthor fordert mehr Nationalgefühl. Über den Patriotismus und seine Brauchbarkeit in Friedens- wie Kriegszeiten, in: Junge Welt, 15.6.2023.

Norbert Wohlfahrt/Johannes Schillo, Deutsche Kriegsmoral auf dem Vormarsch – Lektionen in patriotischem Denken über „westliche Werte“. Eine Flugschrift. Hamburg 2023.


Juli

Die Zeitenwende – Eine historische Parallele?

Der Sozialdemokrat Julian Borchardt (1868 – 1932) war 1914 ein entschiedener Gegner der Burgfriedens-Politik der SPD. Sein Pamphlet „Vor und nach dem 4. August 1914“ von 1919 wurde jetzt neu ediert.

Die Website Rätekommunismus (www.raetekommunismus.de) hat den Text von Borchardt zum Ersten Weltkrieg jetzt wieder zugänglich gemacht. Dazu hier einige Informationen aus dem Vor- und Nachwort zur Neuausgabe.

1. Deutschland

„Der russische Überfall auf die Ukraine markiert eine Zeitenwende. Er bedroht unsere gesamte Nachkriegsordnung. In dieser Situation ist es unsere Pflicht, die Ukraine nach Kräften zu unterstützen bei der Verteidigung gegen die Invasionsarmee von Wladimir Putin. Deutschland steht eng an der Seite der Ukraine.“ (zdfheute, 26.2.2022)

So charakterisierte Bundeskanzler Olaf Scholz kurz nach Beginn des Ukrainekriegs Ende Februar 2022 die aktuelle Weltlage und erläuterte die Aufgaben Deutschlands. In der Folge kam es zu weitreichenden Maßnahmen gegen Russland durch die Bundesregierung mit Unterstützung des Parlamentes, mit und ohne Abstimmung mit den EU- und NATO-Partnern.

Zunächst wurden einschneidende wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen gegen Russland beschlossen. Der Ausschluss russischer Banken aus dem internationalen Zahlungssystem SWIFT, der angekündigte Importstopp fossiler Rohstoffe aus Russland und ein Lieferstopp wichtiger technologischer Güter sollten Russland ökonomisch in die Knie zwingen.

Militärisch legte Deutschland ein gigantisches Aufrüstungspaket auf. Mit 100 Milliarden Euro, die Scholz unmittelbar nach Kriegsbeginn aus der Tasche zauberte, und der Ankündigung, zukünftig die Vorgabe einzuhalten, mindestens zwei Prozent des Haushaltes für die Rüstung bereitzustellen, sollte die Bundeswehr zur stärksten europäischen Militärmacht werden.

Ideologisch wurde die bundesdeutsche Bevölkerung auf die Kriegführung eingestimmt. Die Friedensschalmei, mit der die Menschen in Deutschland zusammen mit ihrer staatlichen Führung bisher das Lied von der rundum friedliebenden Nation anstimmen konnten, wurde entsorgt und durch die Kriegstrompete ersetzt. Von nun an beherrschten die Kriegsberichterstattung und die Aufklärung über besonders effektive Tötungsmaschinen aus deutscher Produktion die Medien.

Der regierungsamtliche Hinweis und seine mediale Verbreitung, dass Putin und Russland die Schuldigen am Kriegsausbruch seien, reichte aus, die Mehrheit der Bevölkerung hinter dem Kriegsprogramm der Bundesregierung zu versammeln. Als treue Untertanen und mit dem Gefühl, dass ihr Dasein ohnehin von den Entscheidungen ihrer Herrschaft abhängt, unterstützten die Staatsbürger mehr oder weniger kritisch die einschneidenden Maßnahmen.

Dabei richteten und richten sich die einschneidenden Maßnahmen nicht nur gegen Russland und das persönliche Umfeld Putins, sondern auch gegen die eigene Bevölkerung. Eine hohe Inflation, insbesondere eine Steigerung der Energiepreise in einem bisher unbekannten Maße, ruinierte vor allem die ärmeren Schichten in der Bevölkerung. Auch mit der Aussicht auf einen möglichen Krieg, der nicht mehr auf die Ukraine beschränkt bleibt, wurden die Menschen konfrontiert. Aber der Hinweis des Kanzlers, dass man die Sicherheit der Bundesrepublik bei allen Maßnahmen verantwortungsvoll im Blick behalte, beruhigte das treue Volk. Und welche Zwecke verfolgt der „Westen“ mit seiner großzügigen Unterstützung der Ukraine und deren Streitkräfte im Kampf gegen Russland? Zur Aufklärung kann hier die die Analyse der Interessen beitragen, die die russische Seite geltend macht.

2. Russland

„Es geht darum, was uns besonders beunruhigt und besorgt, um diese fundamentalen Bedrohungen, die Jahr für Jahr, Schritt für Schritt grob und ungeniert von unverantwortlichen Politikern im Westen gegen unser Land gerichtet werden. Ich meine damit die Ausdehnung des Nato-Blocks nach Osten, die Annäherung seiner militärischen Infrastruktur an die Grenze Russlands … Die Kriegsmaschinerie ist in Bewegung, und, ich wiederhole, sie nähert sich unseren Grenzen… Das Problem besteht darin, dass auf den an uns angrenzenden Gebieten – ich betone, auf unseren eigenen historischen Gebieten – ein uns feindlich gesinntes Anti-Russland geschaffen wird, das unter vollständige Kontrolle von außen gestellt wurde, von den Streitkräften der Nato-Länder intensiv besiedelt und mit den neuesten Waffen vollgepumpt wird… Die Umstände verlangen von uns, dass wir entschlossen und sofort handeln… Wir haben nicht vor, die ganze Ukraine zu besetzen, aber sie zu demilitarisieren. Das Ziel der russischen Spezialoperationen ist es, die Menschen zu schützen, die acht Jahre lang vom Kiewer Regime misshandelt und ermordet wurden. Zu diesem Zweck werden wir versuchen, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren …“ (zeit.de, 24.2.2022)

So begründete Putin Ende Februar 2022 den Angriff auf die Ukraine. Während sich der Westen bei seinem militärischen Engagement auf eine „regelbasierte Weltordnung“ beruft, die von russischer Seite gefährdet werde, sind die Argumente Russlands von einem handfesten nationalstaatlichen Anspruchsdenken bestimmt: Hier geht es klipp und klar um die Bedrohung der staatlichen Existenz, so wie sie von der russischen (Ex-)Weltmacht definiert wird.

Auch Russland bringt seine Bevölkerung in eine prekäre Situation. Nicht nur Hunderttausende Soldaten müssen ihr Leben im Kriegsgebiet riskieren, auch die Zivilisten leiden unter den Einschränkungen durch die wirtschaftlichen Sanktionen des Westens. Erstaunlich mag auch hier die augenscheinliche Ruhe in der Bevölkerung sein. Zwar gibt es hier und da einige Proteste, die fachgerecht von der Staatsgewalt niedergeschlagen werden, aber das positive Bekenntnis des Volkes zu seiner Führung bleibt insgesamt ungebrochen.

Und was ist nun los auf dem eigentlichen Kriegsschauplatz, der Ukraine?

3. Ukraine

Zum Kriegsausbruch bemerkte kurz und bündig der ukrainische Präsident Selenskyj: „Die Zukunft der europäischen Sicherheit wird hier entschieden, in der Ukraine.“ (NZZ, 24.2.2023) Das klingt recht uneigennützig. Kaum vorstellbar, dass ein Staatsmann sein Land anderen Kriegsparteien zur Austragung ihrer Konflikte zur Verfügung stellt! Aber selbstlos ist der dortige Kriegsherr nicht. Selenskyj ist ein Visionär. Er nutzt den Gegensatz der Weltmächte, um seinem Land eine bedeutende Rolle in dieser Konkurrenz zuzuschanzen. Die Folge, dass ein Großteil der ukrainischen Bevölkerung sein Leben verliert oder seiner Existenzgrundlagen beraubt wird, soll kompensiert werden durch eine erstklassige nationale Moral, die sich durch Russenhass und Selbstverleugnung auszeichnet.

Als Belohnung erwarten Selenskyj eine großzügige Wiederaufbauhilfe sowie die Integration in die Europäische Union und in die NATO. Auf dieser Grundlage, so die Vision, können die Potenzen des großartigen ukrainischen Volkes – oder was davon übriggeblieben ist – mitsamt seinen natürlichen Ressourcen ein blühendes und mächtiges Vaterland befördern.

4. Resümee

Verarmung, Zerstörung von Existenzen, tote Zivilisten und Soldaten sind die Kosten des Kampfes der beteiligten Nationen um Vorherrschaft. Überall auf der Welt gibt es aber immer noch engagierte Menschen, die den Kopf schütteln über so viel Unvernunft der Regierenden. Diese wollen, so heißt es, nicht begreifen, dass Konflikte auch gewaltlos geregelt werden können. Die Freunde des Friedens sehen als Gründe für die aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen hochgerüstete Nationen und verlangen sofortige Abrüstung, beklagen eine aggressive Kommunikation, die eine Verständigung verunmöglicht und fordern Friedenserziehung statt Völkerhass.

Das aktuelle Engagement für die Menschen in der Ukraine und Russland (z.B. die Unterstützung von Kriegsdienstverweigerern aus beiden Ländern) ist durchaus verständlich. Jedoch zeigen die idealistischen Forderungen, wie Zerstörung und Tod in Zukunft verhindert werden könnten, dass die Friedensfreunde die wirklichen Gewaltverhältnisse in der Welt nicht zur Kenntnis genommen haben.

Wenn es schon kein Staat in seinem Innern schafft, friedliche Verhältnisse ohne Gewalt und Gewaltandrohung zu schaffen, wie sollen es dann die Staaten untereinander fertigbringen, einen friedfertigen Umgang miteinander zu pflegen? Die Einrichtung der UNO als friedensstiftende Instanz, die verschiedenen Weltorganisationen, die sich um einen geregelten Waren- und Geldverkehr kümmern, sind doch Ausdruck einer Welt, die permanent Konflikte produziert, deren Austragung zur Selbstzerstörung dieser fragilen Weltordnung führen kann.

Es gibt wohl kaum einen Staat auf der Welt, der nicht gemäß seinen Möglichkeiten militärisch aufgerüstet ist. Keiner verlässt sich auf die internationalen Gremien, sondern will im Notfall seine Interessen auf seine eigene Kraft gestützt durchsetzen. Da jedoch die militärischen Kapazitäten für den Fall des Falles oft nicht ausreichen, schließt man sich in militärischen Bündnissen zusammen, deren Schlagkraft die eigene bei weitem übersteigt. Auch innerhalb dieser Bündnisse geht es nicht immer friedlich zu, da jedes Mitglied die Gesamtstärke der militärischen Vereinigung für seine Interessen einsetzen will. Und so bildet sich im Laufe der Zeit eine Machtstruktur innerhalb des Bündnisses, das ein Mitglied zur Führungsmacht befördert. (Natürlich kann diese Befehlsstruktur – wie bei der NATO – schon von vornherein gegeben sein.) Es gibt also neben den bisweilen „hilflosen“ internationalen Gremien die militärische Gewalt der Staaten. Das Ideal eines jeden Staates ist, ein Gewaltmonopol regional oder sogar weltweit zu repräsentieren. Darum ringen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die großen Mächte, und aktuell sind einige auf dem Weg dahin, aus ihren untergeordneten Plätzen aufzusteigen, um dann die USA im Rahmen einer multipolaren Weltordnung als „einzig verbliebene Supermacht“ abzulösen.

5. Julian Borchardt

Aber warum finden tagtäglich diese Kämpfe um Weltmacht und -herrschaft statt, die auf diplomatischer Ebene in Gebietsforderungen, Einklagen von Mitspracherechten, Dominanzbestrebungen und moralischer Disqualifizierung des Gegners zum Ausdruck kommen; Kämpfe, die auch auf wirtschaftlichem Gebiet mit den Mitteln der Import- und Exportbeschränkungen, der Zölle und sonstigen Handelsbeschränkungen geführt werden; und die, wenn alle diese Mittel nicht zielführend sind, mit der Sprache der puren Gewalt ausgetragen werden.

Julian Borchardt versuchte am Beispiel des Ersten Weltkrieges und der Kapitulation der Sozialdemokratie die Gründe für die Bestrebungen der Groß- und Kleinmächte nach Erweiterung ihres Machteinflusses außerhalb der Grenzen des eigenen Landes zu erklären. In der ökonomischen Grundlage der modernen Staaten sieht er den Grund. Hier sei in wenigen Sätzen sein Resümee formuliert:

Der Gewinn ist der Zweck der kapitalistischen Produktion. Dieser wird auf Kosten der Arbeiter erzielt, deren Arbeitszeit der Kapitalist eingekauft hat. Innerhalb dieser Arbeitszeit produziert der Arbeiter nicht nur den Gegenwert seiner Lebenserhaltungskosten, sondern auch einen Mehrwert, der dem Kapitalisten gehört. Da die Gewinnproduktion seine Grenzen findet in der Zahlungsfähigkeit der Bevölkerung, sieht sich der Kapitalist gezwungen, sein Geschäft über die Grenzen des eigenen Landes auszuweiten. Dieses Vorhaben wird vom Staat unterstützt, er verteidigt es nach innen und notfalls auch über die Grenzen hinweg, ist er doch der Nutznießer dieser Produktion, weil sie ihm die notwendigen Mittel für sein regional- oder weltpolitisches Engagement liefert.

6. Der 4. August 1914

Am 25. Juli 1914, am Vorabend des Ersten Weltkrieges, verkündete der Parteivorstand der deutschen Sozialdemokraten: „Wir wollen keinen Krieg! Nieder mit dem Kriege! Hoch die internationale Völkerverbrüderung!“. Nur zehn Tage später, am 4. August 1914, stimmte die Reichstagsfraktion der SPD den Kriegsanleihen zu und ermöglichte so dem Kaiserreich die Führung eines Krieges, wie die Welt ihn bis dahin noch nicht gesehen hatte.

Der bei der SPD in wichtigen Abstimmungen herrschende Fraktionszwang führte zu einer einstimmigen Zustimmung, obwohl einige Abgeordnete dem Votum der Parteimehrheit nicht folgen wollten. Die Begründung für diesen scheinbaren Gesinnungswandel kam vom SPD-Vorsitzenden Hugo Haase (der übrigens zu den internen Gegnern der Zustimmung gehörte). Er klagte einerseits Imperialismus und Wettrüsten als Ursache für den Krieg an, aber betonte andererseits, dass ein „blutrünstiger russischer Despotismus“ das „Recht eines Volkes auf nationale Selbstständigkeit und Selbstverteidigung“ bedrohe. Über 100 Jahre später ist diese Diagnose die Begründung für die Teilnahme Deutschlands am Krieg gegen Russland.

Der 4. August 1914 war für die SPD eine Zeitenwende. Zwar fiel die Zustimmung zur Kriegführung des deutschen Kaiserreiches nicht vom Himmel, denn die Sozialdemokratie zeichnete sich nie durch eine geschlossene Gegnerschaft gegen Krieg, Kapital und Staat aus. Aber die Führung der damaligen SPD wusste, dass die Zustimmung zur Kriegführung für sie die mögliche Eintrittskarte in die Regierungsgeschäfte des Reiches bot, was sich nach der Niederlage 1918 auch bewahrheitete.

Der 24. Februar 2022 war ebenfalls eine Zeitenwende. Hier verkündete die SPD-Führung unter Kanzler Scholz ihrem Volk, dass jetzt Kriegszeiten angesagt seien und mit Friedensparolen Schluss sei. Die SPD ist ihrer Tradition treu geblieben.

Der Text von Borchardt findet sich auf der Rätekommunismus-Website unter: https://www.raetekommunismus.de/Texte_Sozialdemokratie_Arbeiterpolitik.html. Dort gibt es auch weitere Hinweise des Herausgebers. Betont wird u.a., dass die Schrift zum Besten gehört, was die radikale Anti-Kriegs-Literatur vor und nach Beginn des Krieges hervorgebracht hat. Neben Josef Strassers „Der Arbeiter und die Nation“ (1912) und Anton Pannekoeks „Klassenkampf und Nation“ (ebenfalls aus dem Jahre 1912, neu aufgelegt bei Red & Black Books, Hamburg 2022, siehe: https://gewerkschaftsforum.de/der-weg-ins-zeitalter-der-weltkriege-von-august-bebel-zu-olaf-scholz/) habe Borchardt anhand der Verlaufsformen der ersten Monate nach Beginn des Ersten Weltkrieges den Zusammenhang zwischen dem Kapitalismus und seiner kriegsbereiten politischen Herrschaft mit allen seinen Konsequenzen deutlich gemacht. Borchardt arbeitete zeitweise mit Anton Pannekoek und Karl Radek zusammen, denen er in den „Lichtstrahlen“ ein Forum für ihre Kritik gab. Bis zu seinem Tod war Borchardt publizistisch tätig und veröffentlichte u.a. 1920 eine zusammenfassende Ausgabe aller drei Bände des „Kapitals“ von Karl Marx in gemeinverständlicher Sprache. 1931 erhielt Borchardt eine Berufung an das Marx-Engels-Institut in Moskau, die er wegen einer schweren Erkrankung nicht mehr annehmen konnte. Am 16. Februar 1932 verstarb er in Berlin.


Juni

„Was ist Sozialismus?“

Im Mai 2023 ist bei Red & Black Books „Was ist Sozialismus?“ von L.L. Men erschienen (siehe den Hinweis unter „Bücher“). Hier ein einführender Text von Hermann Lueer, der das Buch des chinesischen Autors übersetzt und herausgegeben hat.

Außer in einer Wirtschaft, in der alles in beliebiger Menge und zum gewünschten Zeitpunkt vom Himmel fällt, würde jede Gesellschaft verrecken, die für ein paar Wochen die Arbeit einstellt, da die den verschiedenen Bedürfnissen entsprechenden Mengen von Produkten verschiedene und quantitativ bestimmte Mengen der gesellschaftlichen Gesamtarbeit erfordern.

„Dass diese Notwendigkeit der Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit in bestimmten Proportionen durchaus nicht durch die bestimmte Form der gesellschaftlichen Produktion aufgehoben, sondern nur ihre Erscheinungsweise ändern kann, ist selbstverständlich. Naturgesetze können überhaupt nicht aufgehoben werden. Was sich in historisch verschiedenen Zuständen ändern kann, ist nur die Form, worin jene Gesetze sich durchsetzen. Und die Form, worin sich diese proportionelle Verteilung der Arbeit durchsetzt in einem Gesellschaftszustand, worin der Zusammenhang der gesellschaftlichen Arbeit sich als Privataustausch der individuellen Arbeitsprodukte geltend macht, ist eben der Tauschwert dieser Produkte. Die Wissenschaft besteht eben darin, zu entwickeln, wie das Wertgesetz sich durchsetzt.“ (So Marx in einem Brief an Kugelmann vom 11. Juli 1868, siehe: MEW 32, S. 552f.)

Die Erklärung, warum in der bürgerlichen Gesellschaft grundsätzlich keine bewusste gesellschaftliche Regulierung der Produktion stattfindet und sich stattdessen „das Vernünftige und Naturnotwendige nur als blind wirkender Durchschnitt“ hinter dem Rücken der Gesellschaftsmitglieder durchsetzt, ist die Leistung von Marx und Engels. Ihre Wertkritik ist aber nicht nur die Grundlage der Kapitalismuskritik, sondern liefert zugleich die Ableitung der Grundprinzipien einer das kapitalistische Produktionsverhältnis überwindenden Gesellschaftsform – wie immer wir sie nennen wollen: Kommunismus, Sozialismus oder schlicht den arbeitsteiligen Zusammenschluss freier und gleicher Menschen. An die Stelle der indirekten Regulierung durch den Wert tritt hier die bewusste Koordination von Produktion und Konsumtion durch die Berechnung der Arbeitszeit.

Geld- und Arbeitszeitrechnung sind Ausdruck unterschiedlicher Produktionsverhältnisse. Da in beiden Produktionsverhältnissen eine Verrechnung der gesellschaftlichen Güterbewegung stattfindet, entsteht äußerlich der Eindruck, in beiden herrsche das gleiche Prinzip der Güterzirkulation. Tatsächlich aber sind Form und Inhalt grundlegend verändert. Während in der über die Arbeitszeit vermittelten Güterzirkulation „niemand etwas geben kann außer seiner Arbeit und nichts in das Eigentum der einzelnen übergehen kann außer individuellen Konsumtionsmitteln“, kann in der über das Geld vermittelten Marktwirtschaft fremde Arbeit ausgebeutet werden, um nicht nur individuelle Konsumtionsmittel, sondern auch Produktionsmittel in das Eigentum des Geldbesitzers übergehen zu lassen. Das Geld, das mit dem Eigentum an den Produktionsmitteln in die Welt kommt, ist die vergegenständlichte Form, in der das gewaltsame Ausschlussverhältnis der Gesellschaftsmitglieder wirkt. „Mit dem Verfügungsrecht über die Produktionsmittel hat die besitzende Klasse zugleich die Verfügung über die Arbeitskraft; das heißt, sie herrscht über die Arbeiterklasse“ (Gruppe Internationaler Kommunisten, Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung, 2020, S. 25) So wird es möglich, durch die Aneignung der Differenz zwischen dem Wert der Arbeitskraft und dem Wert der durch sie geschaffenen Produkte den privaten Zugriff auf den gesellschaftlichen Reichtum immer weiter auszudehnen. Die Armut der Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder wird so zur Grundlage des Reichtums der Minderheit.

Die Verteilung der Güter auf der Grundlage der Produktionszeit ist dagegen Ausdruck grundlegend veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse. Indem die Menschen durch ihre Arbeitszeit ihr Verhältnis zum arbeitsteiligen Produkt bestimmen, wird die Lohnarbeit und damit die Herrschaft derer, die über den gesellschaftlichen Produktionsapparat und das gesellschaftliche Produkt verfügen, aufgehoben. Nicht die Bewertung unserer Arbeit durch die Konkurrenz auf den Märkten, sondern unsere Arbeit bestimmt, welchen Anteil wir am Reichtum der Güter erhalten. Die Trennung von Arbeit und Arbeitsprodukt ist damit aufgehoben. Das Verfügungsrecht über das Arbeitsprodukt und damit über die Produktionsmittel steht allen Mitgliedern der Gesellschaft gleichermaßen zu, ebenso die Leitung und Verwaltung der gesellschaftlichen Produktion. Das Geld als allgemeine Zugriffsmacht (Ausbeutung) ist abgeschafft.

Die wissenschaftliche Leistung, „zu entwickeln, wie das Wertgesetz sich durchsetzt“ – egal ob im Kapitalismus oder Staatskapitalismus –, war vor Marx das größte gesellschaftliche „Missverständnis“ und verblieb es auch im Zuge der Entwicklung des „Marxismus“ mit fatalen Folgen für die soziale Revolution. (Wobei Missverständnis hier in Anführungszeichen steht, da der Grund für das Missverstehen meistens politisch motiviert war und ist.)

Durch die argumentative Auseinandersetzung mit diesem „Missverständnis“ wurde die negative Kritik positiv und lieferte, wie Marx es ausdrückte, „gewissermaßen eine Einführung in den wissenschaftlichen Sozialismus.“ (Siehe die Vorbemerkung von Marx zur französischen Ausgabe der Schrift „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ von Engels, MEW 19, S. 185.)  Die Kritik an Proudhon und den Frühsozialisten in „Das Elend der Philosophie“, die Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie in der „Kritik des Gothaer Programms“ und dem „Anti-Dühring“ und die ausführliche Kritik des Anarchismus und Bolschewismus in den späteren Schriften der Gruppe Internationaler Kommunisten sind bis heute in ihren Argumenten so aktuell wie das „Missverständnis“ der marxistischen Kritik des Wertes und seiner materialisierten Form des Geldes.

Als L. L. Men – ein in Hongkong lebender linker Kommunist, der mit interessierten Leuten in Europa korrespondierte – in den 1980er Jahren mit Bezug auf die Schriften von Marx und Engels seine „Zwei Texte zur Definition des kommunistischen Programms“ vorlegte, kannte er zum Glück die bereits 1930/35 erschienenen „Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung“ nicht. Zum Glück, weil er seine zwei Texte zur Definition des kommunistischen Programms sonst wahrscheinlich nicht geschrieben hätte, wir aber so über eine weitere eigenständige Einführung in den wissenschaftlichen Sozialismus verfügen, die zur Kritik des hartnäckigen „Missverständnisses“ sehr lesenswert ist.

Die Texte, die ursprünglich 1984 bzw. 1985 auf Chinesisch erschienen, wurden 1986 von L. L. Men in gekürzter und ergänzter Form auf Englisch veröffentlicht. Bei der hier vorliegenden deutschen Übersetzung wurde ebenfalls auf einige Passagen verzichtet, die für die gegenwärtige Diskussion weniger relevant erscheinen. Der erste Text – „Die kapitalistische Natur der ‚sozialistischen‘ Länder: Eine politökonomische Analyse“ – weist in seiner werttheoretischen Analyse nach, dass im Anschluss an die soziale Revolution in den sogenannten sozialistischen Ländern trotz der Verstaatlichung der Produktionsmittel die für das kapitalistische Produktionsverhältnis grundlegende Koordination von Produktion und Konsumtion über den Wert nicht aufgehoben wurde – mit der unvermeidlichen Folge, dass das kapitalistische Produktionsverhältnis völlig intakt blieb und die Vertreter der herrschenden Klasse schließlich ihre vollständige Herrschaft über die gesamte Gesellschaft wiederherstellten.

Der zweite umfangreichere Text – „Russland: Revolution und Konterrevolution (1917-1921)“ – ergänzt die werttheoretische Argumentation des ersten Textes am Beispiel von Theorie und Praxis der Russischen Revolution und zeigt eindrucksvoll, wie das Versäumnis der Bolschewiki, ein korrektes ökonomisches Programm umzusetzen, unweigerlich zur Entartung und schließlich zur vollständigen Niederlage der sozialen Revolution führte.


Mai

Zur Kritik der (patriotischen) Moral

Der VSA-Verlag legt eine Kritik der „deutschen Kriegsmoral“ vor. Aus diesem Anlass hier einige Anmerkungen der IVA-Redaktion zur Moral im Allgemeinen und zur patriotischen im Besonderen.

Ende Mai 2023 erscheint im VSA-Verlag eine „Flugschrift“ von Norbert Wohlfahrt und Johannes Schillo zum Thema „Deutsche Kriegsmoral“. Das Büchlein beschäftigt sich – anknüpfend an das bekannte Diktum der deutschen Außenministerin „Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland“ – mit der Gesinnungswende, die hierzulande seit der russischen Invasion in die Ukraine Platz gegriffen hat. Bei aller antisowjetischen bzw. antirussischen Kontinuität seit den Zeiten des Kalten Kriegs hat ja eine Umstellung stattgefunden, so dass rückblickend sogar das Agieren einer Kanzlerin Merkel oder eines Außenministers Steinmeier der Kollaboration mit dem Feind verdächtigt wird. Und aktuell wird im Medien- oder Wissenschaftsbetrieb scharf darauf geachtet, dass keiner und keine aus der Reihe tanzt; bei Renitenz – siehe den Fall Guérot – droht letztlich Jobverlust.

Eine solche rasche und weit gehende Wende kann allerdings nur erfolgen, wenn ein verlässliches Fundament patriotischer Moral vorhanden ist, dem der Umgang mit nationalen Freund- und Feindbildern als Selbstverständlichkeit gilt. Und dem es ebenfalls selbstverständlich ist, in den Kollisionen der Großmachtkonkurrenz nicht die Interessengensätze und ihre Gründe zur Kenntnis zu nehmen, sondern sich als Teil eines Lagers zu begreifen, also für das „Gute“ (NATO) und gegen das „Böse“ (Putin) Partei zu nehmen. Zur Kritik dieser Grundlage sollen hier einige Punkte aus der neuen Publikation aufgegriffen werden.

Recht und Freiheit…

Kinder kommen auf die Welt und werden in die Gesetze, Regeln und Gebräuche der Sittlichkeit ihres Volkes eingeführt und an sie gewöhnt. Man nennt das Erziehung. Das ist nötig, weil Kinder ihren Willen, das praktische Organ ihrer Freiheit, zunächst willkürlich betätigen und ihre Bedürfnisse unmittelbar befriedigt haben wollen. Denn diese Freiheit bzw. dieser Wille sind noch gänzlich unausgebildet, d.h., sie sind noch nicht geschult im Umgang mit den Gefahren des Alltags, die ihnen begegnen können, und noch nicht eingeübt in die Umgangsweisen mit ihren gesellschaftlichen Bezugsgruppen. Obwohl jede Mutter, jeder Vater und die mit der Erziehung des Nachwuchses zumindest zeitweilig Beschäftigten es besser wissen könnten, ist hier gerade in der bürgerlichen Gesellschaft, die die individuelle Freiheit ganz groß auf ihre Fahnen geschrieben hat, ein eigenartiges Verständnis unterwegs: Die meisten Zeitgenossen würden, wenn man sie fragt, Freiheit als die willkürliche Betätigung ihres Willens definieren, machen zu können, was man eben will – also genau als das, was sie ihrem Nachwuchs abzugewöhnen versuchen.

Praktisch sind sie nämlich ganz anders unterwegs. Je nach ihrer sozialen Rolle – die sie der Sache nach (obwohl man das heute nicht mehr so sehen soll) in zwei Gesellschaftsklassen unterteilt – stellen sie Leute in ihre Unternehmen ein, um sie für sich arbeiten zu lassen, machen Geschäfte mit Investments jeder Art oder sie gehen gegen Lohn bzw. Gehalt in Fabriken und Verwaltungen arbeiten, verdingen sich als sonstige gesellschaftliche Dienstleister etc. Sie wissen, dass ihr Alltagsleben gar nicht funktionierte, gäbe es nicht feste Regeln und Vorschriften für alle möglichen Abläufe, die sie zum Inhalt ihres Willens machen und an denen sie sich orientieren. Diese Regeln sind vor allem die staatlichen Gesetze, die detailliert alle Lebensbereiche der Gesellschaft bestimmen, so dass der Wille des Staates nahezu allen Sozialbeziehungen innewohnt.

Die Bürger wollen ausdrücklich die Gesetze und halten sich im Großen und Ganzen auch an sie, weil sie in ihnen nicht nur die Bedingung für die Realisierung ihrer materiellen Interessen sehen, sondern auch so etwas wie die Garantie für das Aufgehen eben dieser Interessen. Doch in der Praxis erweist sich diese Ansicht für sehr viele von ihnen als ausgewachsener Idealismus. Denn der Staat erkennt zwar in seinem Recht die Freiheit der Bürger an, ihren Materialismus zu verfolgen, zugleich schreibt er ihnen aber die Anerkennung des Eigentums vor, das sehr unterschiedlich verteilt ist, und damit die Konkurrenz ums Geld als Zugriffsmittel auf jegliche Gestalt von Reichtum.

Da kommt es, obwohl und weil das Recht im Willen der Beteiligten lebt, zwangsläufig zu Widersprüchen: zwischen denjenigen, die in der Konkurrenz ihr Glück suchen und bei vermeintlich gleichen Rechten bzw. Interessen aneinander geraten, so dass sie sich zur Durchsetzung der eigenen Sache an den Staat als die Instanz der letztlichen Entscheidung wenden (Beispiel: Vertragsbruch), oder zwischen Bürger und Staat, der etwa einen Rechtsverstoß als Affront gegen sich nimmt und ahndet, sich dabei aber auch im Blick auf seine formale Regeltreue selber überprüfen lässt (Beispiel: Verwaltungsgerichte).

Eine auf Basis der Konkurrenz funktionierende Klassengesellschaft ist deshalb ohne eine politische Gewalt, die die Eigentumsverhältnisse durchsetzt und als äußere Klammer deren Gegensätzlichkeit aufrechterhält, nicht zu haben. Das wissen die Bürger auch, wenn sie bei jedem Konflikt und Schaden nach dem Staat rufen. Insofern ist – bei Licht betrachtet – der Inhalt der Freiheit ein Ensemble von Gesetzen und nicht die Idylle, wo man nach eigenen Vorstellungen sein Leben gestaltet, wie nicht wenige Zeitgenossen meinen, wenn sie ihr Gemeinwesen als Überwindung „autokratischer“ oder „totalitärer“ Verhältnissen begreifen. Die viel beschworene Freiheit ist eben ein Herrschaftsverhältnis, sie stellt den Einzelnen in ein fix und fertiges Produktionsverhältnis, an dem es nichts zu rütteln gibt.

…und ihre moralische Deutung

Indem nun die Bürger im Recht ihr Mittel sehen und in seinem Rahmen frei ihren berechtigten Interessen nachgehen, stellt sich in der Realität ihres Konkurrenzalltags immer wieder heraus, dass es doch nicht unbedingt ihr Mittel ist. Obwohl sie sich voll dem Recht anbequemen, kommen sie nicht zu dem Ihren. Mit Blick auf die Klassenunterschiede bebildert: Sie werden entlassen, finden keinen neuen Job, müssen im Niedriglohnsektor arbeiten, suchen verzweifelt eine bezahlbare Wohnung etc., sind also existenziell betroffen; oder sie haben finanzielle Probleme beim Einsatz ihres Kapitals, das nicht wie erwartet seine Funktion der Geldvermehrung erfüllt, weil Konkurrenten oder der Staat mit seiner Bürokratie das verhindern…

Sie werden daher skeptisch, aber nicht primär gegenüber dem Recht und seinem Urheber, sondern vor allem gegenüber sich und Ihresgleichen. Sie erklären sich nicht die Notwendigkeit ihrer negativen Erfahrungen aus der Konkurrenz um Geld und Eigentum. Vielmehr halten sie an ihrer Meinung fest, dass die Gesellschaft durchaus vernünftig organisiert sei und eine Erwerbstätigkeit es ermögliche, sich zu bewähren, also erfolgreich zu sein, wenn alles mit rechten Dingen zuginge. Ihre Negativerfahrungen verarbeiten sie dann durch „normative Anforderungen“ an die allgemein geltenden Regeln des Bürger- und Staatshandelns, und halten damit den herrschenden Verhältnissen moralische Maßstäbe entgegen, an denen sie sich zu orientieren hätten: Gerechtigkeit, Toleranz, Menschenwürde etc. Würden diese Werte in der Alltagspraxis gelten, könnte im Prinzip das Leben für alle harmonisch aufgehen.

Vor ihrem ideellen Gerichtshof überprüfen die Bürger sich und Ihresgleichen, ob bei ihrem Tun alles mit rechten Dingen zuging oder ob ein laxer bis widersetzlicher Umgang mit dem Recht und den sonstigen Regeln des gesellschaftlichen Verkehrs für Schäden bei den Mitbürgern oder dem Gemeinwesen gesorgt hat. So kommt das moralische Denken ins Spiel, das zwar im Recht sein Maß hat, es aber durch Idealisierung einer höheren Kontroll- und Beurteilungsinstanz unterstellt. Vor der habe sich sowohl das Handeln der Bürger zu verantworten, ob es wohlgemeint und -getan ist, als auch das staatliche Recht im Blick darauf, ob es gerecht ist und auch so ausgeübt wird.

Wo Abweichungen festgestellt werden, folgen Empörung und Kritik gegenüber den Adressaten, weil sie das Allgemeinwohl strapazieren, also die Gesinnung vermissen lassen, die eine rechtstreue Bürgerschaft auszeichnet. Wer sich z.B. in Corona-Zeiten fünf Packungen Toiletten-Papier in den Einkaufswagen legte und damit das Regal leer räumte, machte rechtlich nichts falsch, lag moralisch aber daneben; er wurde als Egoist und von Raffgier erfüllter Charakter beschimpft, weil er offensichtlich das Interesse anderer Mitbürger unbeachtet ließ…

Dabei werden die moralischen Maßstäbe vom einzelnen Bürger im Lichte seines eigenen Interesses interpretiert und seiner Vorstellung gemäß an das Verhalten anderer angelegt. Sie werden eingesetzt zur Relativierung fremder und Legitimation eigener Interessen. Was für den Einen vom Standpunkt seines Interesses gerecht ist, ist für den Anderen ungerecht, was für den Einen dem Gemeinwohl dient, ist für den Anderen Ausdruck von Eigensinn, was für den Einen noch toleriert werden kann, ist für den Anderen inakzeptabel und bedarf des Verbots. Die Beispiele kennt jeder.

Aus der Widersprüchlichkeit der moralischen Debatten folgen Streit und Uneinigkeit zwischen den Bürgern wie zwischen ihnen und dem Staat. Das fordert die öffentliche Gewalt heraus, die den Meinungs- und Rechtsstreit über das Toleranzgebot so regelt, dass er in der Verpflichtung zur gewaltfreien Austragung seine Verlaufsform erhält. Kants kategorischer Imperativ – so die vor allem in Deutschland gepflegte philosophische Tradition – soll nun in moralischer Absicht Hilfestellung bei den Streitereien geben, indem er die subjektive Regel einer bestimmten Handlungsweise (Maxime) auf ihre Eignung zum allgemeinen Gesetz überprüft.

Doch der kategorische Imperativ kann nicht leisten, was ihm nachgesagt wird. Es ist nämlich in den konkreten Handlungssituationen unmöglich, „daß ich durch mein Urteil verifizieren kann, ob meine Maxime zu einer solchen allgemeinen Gesetzgebung geeignet sei, während das eben doch zahllose Reflexionen voraussetzt, deren der einzelne Mensch gar nicht mächtig ist und zu der auch unendlich Vieles an Wissen und Kenntnis gehört…“ (Adorno 2019, 232) Bei Licht betrachtet lässt sich mit Kants Imperativ lediglich feststellen, ob eine subjektive Handlungsregel mit einem schon geltenden Gesetz übereinstimmt, sie ihm also nicht widerspricht. In einer auf Eigentum basierenden Gesellschaft ist Diebstahl als subjektive Handlungsregel ein Widerspruch, also nicht nur juristisch, sondern auch moralisch verwerflich. In einer Gesellschaft von Seeräubern sieht das anders aus. Mit Kants kategorischem Imperativ lassen sich also bestenfalls geltende Regeln bestätigen, keinesfalls aber ihre Vernünftigkeit beurteilen.

Nationalstaat und patriotische Moral

Indem die Bürger in Recht und Freiheit die maßgeblichen Bedingungen ihrer Existenz sehen, wollen sie ihren Staat, der ihnen beides gewährt. Der konstituiert sich in Abgrenzung zu anderen Staaten als Nation mit Territorium und Volk. In der in Beschlag genommenen Bevölkerung bildet sich durch gemeinsames Recht und Brauchtum sowie praktische Gewohnheiten eine nationale Identität aus. Mit der ausgestattet sind sich die Bürger darin einig, dass die Existenz und der Erfolg ihrer Nation die unverzichtbare Bedingung ihrer Freiheit und Lebensweise sind. Die damit gegebene patriotische Gesinnung blendet die Negativerfahrungen aus, die die Folgen einer ihre Lebensverhältnisse bestimmenden Konkurrenz um den Zugang zu Geld sind; sie verlangt vielmehr von der Nation, dass sie sich in der internationalen Konkurrenz bewährt und durchsetzt, also eine nationale Politik realisiert, die das Volkswohl steigert.

Mit dieser auf der „Absolutheit des Staates“ gründenden Moral, in der der Wille des einzelnen Bürgers „das Wollen des Gesetzes“ (Hegel) und damit des dieses repräsentierenden Vaterlandes wird, vollendet sich dem Bürger die subjektive Freiheit. Sie existiert als Übereinstimmung seines individuellen Wollens mit der Freiheit des Staates, der damit letztlich auch über das Leben seiner Bürger verfügen kann. Die moralische Pflicht, die sich daraus ergibt, ist eine Gesinnung, die das Opfer von Eigentum und Leben zugunsten der die Freiheit garantierenden staatlichen Ordnung als selbstverständliche Konsequenz des staatsbürgerlichen Wollens erachtet.

Unabhängigkeit des Rechts und (Kriegs-)Moral

Nicht in den materiellen Lebensverhältnissen, sondern im Staat und in der politischen Herrschaft hat der Begriff der Freiheit seine Realität (so auch der Staatsrechtler Möllers 2020, 193). Mit dem Staat als Freiheitsgaranten und dem Recht als dem Inhalt der gewährten Freiheit wird die Ordnung konstituiert, die die Regeln für das „gesellschaftliche Miteinander“ setzt. Die Unabhängigkeit dieser Regelsetzung von der Moral (oder Akzeptanz) der Bürger ist für das Recht konstitutiv und deshalb gilt für die Rechtsnorm die Absolutheit ihrer Geltung. Dazu einer der berühmtesten Staatsrechtler des 20. Jahrhunderts, Hans Kelsen (1977, 29):

„Eine Rechtsnorm gilt nicht darum, weil sie einen bestimmten Inhalt hat, das heißt: weil ihr Inhalt aus dem einer vorausgesetzten Grundnorm im Wege einer logischen Schlussfolgerung abgeleitet werden kann, sondern darum, weil sie in einer bestimmten, und zwar in letzter Linie in einer von einer vorausgesetzten Grundnorm bestimmten Weise erzeugt ist. Darum und nur darum gehört sie zu der Rechtsordnung, deren Normen dieser Grundnorm gemäß erzeugt sind. Daher kann jeder beliebige Inhalt Recht sein.“

Die Unabhängigkeit objektiven Rechts vom Willen der diesem Recht unterworfenen Bürger sorgt für eine „Verbindlichkeit“, an der unterschiedlichste Moralauffassungen, die sich gegen es in Stellung bringen, scheitern. Denn ebenso wie ein „Recht auf Widerstand“ eine moralische und keine rechtliche Frage ist, weil es dieses Recht nicht gibt, hat das Insistieren auf individueller Freiheit gegen die Regeln, die den Inhalt dieser Freiheit bestimmen, keine Grundlage in deren rechtlicher Gewährleistung. Auch hier agieren Moralisten (aktuelles Beispiel: Impfgegner) gegen das Recht, das die Basis und letztlich der gültige Bezugspunkt ihrer Moral ist.

In (Vor-)Kriegszeiten zeigt sich dann schnell, wie es die engagierten Protagonisten mit dem Insistieren auf individueller Willensfreiheit meinen: Dann sind die ansonsten im Clinch liegenden und sich streitenden Interessen ebenso wie die um ihre Identität kämpfenden unterdrückten gesellschaftlichen Gruppen alles andere als Gegner staatlich befohlenen Tötens, sondern machen sich einen Reim auf die von der Nation geforderte Unterscheidung von Gut und Böse. Es ist dann nur folgerichtig, dass die aus nationalem Interesse beschlossenen Maßnahmen auch den Fortschritt der moralischen Parteinahme diktieren: Was anfangs noch undenkbar erschien (z.B. Panzerlieferungen an die Ukraine), lässt sich dann als unumgängliche Hilfe für eine vom Terror bedrohte Bevölkerung interpretieren und jeder Kriegsfortschritt lässt sich als ein notwendiger Beitrag zur Friedenssicherung verbuchen.

Fazit

Wenn derjenige, der das Recht setzt, die letztgültige Instanz der Freiheit ist, dann wird diese Instanz in Gestalt der Nation zum absoluten Bezugspunkt dessen, worum es bei der Freiheit geht. Der Inhalt von Freiheit, eigentlich mit der sachbezogenen Gestaltung der Bedingungen individueller Willensentscheidungen identisch, verwandelt sich, wo es um die Souveränität des Freiheitsgaranten geht, für den Bürger in eine finale Notwendigkeit: Er muss mit der Bereitschaft zur Aufopferung von Leben und Eigentum für die Fortexistenz seines Staates sorgen. Diese brutale Fortentwicklung von der Freiheit zum Opfer erfordert wiederum eine entsprechende Moral.

Die patriotische Moral, die angesichts des Ukraine-Krieges die gesamte Gesellschaft erfasst hat und zu Angst einflößenden Willensbekundungen führt, wie sie von der guten Sache überzeugte Nationalisten mit und ohne Anleitung der öffentlichen Meinungsmacher zum Besten geben, gründet auf der Freiheit der Nation, d.h. des Staates. Für diese sich einzusetzen und Opfer zu bringen, ist der selbstverständliche Inhalt dieser Moral (die deshalb nicht eine Sekunde an der Absurdität zweifelt, dass mehr Waffen Leben retten). Die moralischen Debatten drehen sich in erster Linie darum, welche Mittel und Wege geeignet sind, den nationalen Erfolg durchzusetzen.

Die diese Moral kennzeichnenden Tugenden wie Selbstlosigkeit und Selbstaufopferung gelten auch im Frieden, werden aber insbesondere in Kriegszeiten hochgehalten. Sie sind der Inbegriff eines idealistischen Wollens, das das Gute (aktuell: Völkerrecht, Menschenrechte, regelbasierte Ordnung etc.) zu seinem Inhalt hat; und deshalb ist der Feind das durch alle seine Handlungen sich entlarvende Böse, das es zu bekämpfen gilt. Wie das geht, weiß mittlerweile jeder: Wenn Putin Energie lieferte, diente das allein der Erpressung, seine Staatsidee ist noch vom Zarentum geprägt, sein Herrschaftsstil ist diktatorisch, seine Kulturrepräsentanten sind Knechte des Totalitären usw. Sogar eine zerstörte russische Pipeline gilt als das Werk eines perfiden Terrorstaats, der seine Selbstschädigung dazu nutzt, den Feind mit falschen Beschuldigungen zu attackieren.

Der Kampf gegen das Böse legitimiert sich durch die Moral, die das Gute will. Wenn Annalena Baerbock Russland als Kriegsgegner definiert, dann agiert sie mit all der ihr zur Verfügung stehenden Moralität. Der Kampf für die Werte, denen sie Herz und Verstand widmet, hat allerdings keine moralischen, sondern handfeste geostrategische Gründe. Diese sind nicht erst seit Februar 2022 bekannt. Wer sie aber seitdem zur Sprache bringt – siehe unter Texte23 „Der Fall Guérot I und II“ –, wird als Außenseiter gebrandmarkt und verliert tendenziell sein Rederecht. Beispiele dazu listet das neue Buch auf, das sich als explizite Gegenrede versteht.

Nachweise

Theodor W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie. Frankfurt/Main 2019.

Hans Kelsen, Die Rechtsordnung als hierarchisches System von Zwangsnormen, in: N. Hoerster (Hg.), Recht und Moral, München 1977.

Christoph Möllers, Freiheitsgrade – Elemente einer liberalen politischen Mechanik. Berlin 2020.

Norbert Wohlfahrt/Johannes Schillo, Deutsche Kriegsmoral auf dem Vormarsch – Lektionen in patriotischem Denken über „westliche Werte“. Hamburg 2023.


„Altersarmut – aber sicher!“

Neue Pläne zur Altersvorsorge sind unterwegs. „Renten-Revolution“ meldet die Bildzeitung Ende April. Hier ein Hinweis der IVA-Redaktion, um welche altbekannten Dinge es bei diesen Neuigkeiten geht.

Der Staat entlastet sich mit einem „Generationenkapital“, hieß es letztens beim Gewerkschaftsforum. Es ging um die neuen Pläne der Ampel-Koalition, die gesetzliche Rentenversicherung um eine „Aktienrente“ zu ergänzen, damit die Funktionsfähigkeit der großartigen sozialstaatlichen Errungenschaft gesichert wird, die es in Deutschland seit den Zeiten von Kaiser Wilhelm und seiner Sorge um eine funktionsfähige Arbeiterklasse gibt.

Seit Bismarcks Zeiten Reformbedarf…

Bekanntlich ist das ein Dauerthema. Denn da der Lohn, der ein Berufsleben lang dem normalen Arbeitnehmerhaushalt gezahlt wird, von sich aus keinen selbstfinanzierten Lebensabend hergibt, greift eine spezielle Konstruktion, die immer wieder nachjustiert werden muss: Das Kollektiv der Lohnabhängigen wird per staatlichem Zwang dafür in Haftung genommen, dass es mit seiner Lohnsumme eben doch das hergeben soll, was der Einzelne nicht schafft. „Generationenvertrag“ nennt sich diese Verpflichtung zu einem Umlageverfahren, das bestimmten Erwerbstätigen auferlegt wird – die übrigens so zu einer Klasse zusammengefasst werden, obwohl der bürgerliche Staat sonst von einer Klassengesellschaft nichts wissen will. Alle Konjunkturen, mit denen es diese Klasse zu tun hat, muss daher der vorsorgende Sozialstaat auch immer hinsichtlich der verbrauchten Arbeitskräfte im Blick haben: Wie viele erreichen das Renteneintrittsalter und müssen wie lange alimentiert werden? Wer erwirbt dabei welchen Anspruch? Wie viele aus der aktiven Arbeiterarmee stehen überhaupt in einem Normalarbeitsverhältnis und sind somit als Einzahler an der Umlage beteiligt? Usw

Und das betrifft alle Staaten, in denen das Kapital mit dem Einsatz von Lohnarbeit wirtschaftet, wie man zur Zeit an den europäischen Führungsnationen sehen kann, die an den Ausgaben für die Alten sparen. In Frankreich hat Macron gerade einen gnadenlosen Kampf für die Erhöhung des Renteneintrittsalters geführt, wobei er auch nicht vor eine Politik der Notverordnungen, also dem Ausnahmezustand, zurückschreckte. In England war eigentlich eine Erhöhung des Rentenalters von 66 auf 68 Jahre geplant, die jetzt aber vom Arbeitsminister abgesagt wurde. Sein Argument: Nach der letzten Rentenreform 2017 habe „sich das Tempo der steigenden Lebenserwartung verlangsamt“ (FAZ, 1.4.23). Wenn die Leute früher sterben, der Rentenbezug sich also verkürzt, liefert das ja ebenso einen Spareffekt; es muss weniger ausgezahlt werden. Im anderen Fall des späteren Eintrittsalters wird entweder länger eingezahlt oder man muss, wenn man es bis zum offiziellen Ende nicht schafft, mit deftigen Abschlägen in den Ruhestand gehen.

Natürlich wissen die Experten nie, ob der (ebenfalls in Deutschland registrierte) Trend, dass die Lebenserwartung nicht mehr in der bisherigen Form steigt, anhält und eine feste Kalkulationsgröße abgibt. Und so bleibt es etwa auch in England bei der Regelung, dass bei den nach 1960 Geborenen das Renteneintrittsalter bis 2028 auf 67 Jahre steigen soll. Und in Deutschland (wo der Anstieg auf 67 Jahre bis 2030 stattfinden wird) macht man sich genau so Gedanken, ob man dem Trend vertrauen soll. Die Bildzeitung, die ein „Geheimpapier“ der CDU kennt, hat daher die nächste „Renten-Revolution“ schon angekündigt: „Wir sollen NOCH länger arbeiten – 4 Monate pro Jahr längerer Lebenserwartung. Begründung: Entlastung für die heranwachsende Generation.“ (21.4.23)

Die Lösung: Der Markt muss es richten

„Angedacht“, also als diskussionswürdige Notwendigkeit der Sozialpolitik in Umlauf gebracht, ist die „Rente mit 70“ längst und auch schon in den deutschen Medien propagiert. Der Koalitionsvertrag der Ampel soll das laut Ansage des Arbeitsministeriums zwar ausschließen. Aber was heißt das schon? Dies ist auch die Schlussfolgerung im Beitrag „Altersarmut – aber sicher!“, der jetzt in der Mai-Ausgabe der Zeitschrift Konkret (Nr. 5/23: „Geht sterben! Altersarmut in Deutschland“) erschienen ist. Der Autor Johannes Schillo setzt sich dort vor allem mit dem – im Prinzip – bereits beschlossenen aktuellen Reformprojekt auseinander, das bis zur Jahresmitte in einen Gesetzesentwurf gegossen werden soll, nämlich mit der Ergänzung der gesetzlichen Rente durch „kapitalgedeckte Elemente“. Abgesegnet vom Arbeitsminister Heil ist Finanzminister Lindner hier zum Jahresbeginn mit der Wortschöpfung „Generationenkapital“ an die Öffentlichkeit getreten und hat die Diskussion über die Rentenversicherung um ein neues Highlight bereichert.

Worum geht es? Um den – aus staatlicher Perspektive – misslichen Zustand, dass das Umlageverfahren seit Adenauers Zeiten durch einen Zuschuss ergänzt werden muss. „Daneben (neben den Beiträgen) wird die gesetzliche Rentenversicherung zu einem erheblichen Anteil durch den Bundeshaushalt finanziert. So betrugen die Bundeszuschüsse 2022 über 100 Mrd. Euro und entsprechen damit rund 30 % der Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung.“ (Bundesfinanzministerium) Zwar haben die letzten Entwicklungen am Arbeitsmarkt zu einer gewissen Entspannung der Finanzlage bei der Rentenversicherung geführt, weil Beitragseinnahmen anstiegen; gleichzeitig waren – nicht nur durch die Pandemie bedingt – hohe Sterbezahlen zu verzeichnen, die die Ausgaben verringern. Aber der Skandal bleibt: Man stelle sich vor, hier wird einfach der Lebensunterhalt alter Leute finanziert! Für dieses Geld kennen Politiker natürlich eine bessere Verwendung. Schließlich stehen sie vor großen Herausforderungen wie der Subventionierung der Wirtschaft in Konkurrenz zu Amerika, der forcierten Aufrüstung und der Finanzierung des Kriegs in der Ukraine.

Deshalb braucht es neue Lösungen. Und die sollen, passend zur obersten staatlichen Priorität der Förderung des Wirtschaftswachstums, durch die Tätigkeit einer Stiftung auf dem Finanzmarkt herbeigeführt werden. Eine geniale Lösung: Man lässt einfach das Geld arbeiten! Was immer da im Einzelnen noch kommen mag – immerhin haben die letzten Schadensfälle im Bankensektor einige Verunsicherung hervorgerufen (siehe „Schon wieder eine Bankenkrise) –, muss man abwarten. Eins steht aber jetzt schon fest: Armut im Alter ist in Wahrheit ein Notfall der staatlich betreuten Kassen. Das ist das Problem, das Anerkennung verdient. Was nichts anderes heißt, als dass auch in Zukunft die Rentner und vor allem Rentnerinnen es schwer haben werden, mit ihrem beschränkten Einkommen über die Runden zu kommen, während die Wirtschaft vor steigenden Lohn(neben)kosten bewahrt und der Staatshaushalt nicht stärker belastet wird.

Die aktuellen Trends zur Armutslage sind ja bekannt. Nach den letzten Erhebungen des Statistischen Bundesamtes „reichte bei zwölf Prozent mehr Senioren als vor einem Jahr die Rente nicht zum Leben“. Sozialverbände protestieren. Denn Stand Dezember 2022 beziehen 1,2 Millionen Menschen Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung und immer mehr Rentner sind auf die Grundsicherung angewiesen, „weil ihre Rente nicht zum Leben reicht“. Um den berühmten Spruch vom ehemaligen Arbeitsminister Blüm abzuwandeln: Eins ist also sicher – die Armut im Alter.


April

Buchtipp: Digitalisierung

2022 hat Peter Schadt kritisches „Basiswissen“ zum allseits beschworenen Megatrend Digitalisierung veröffentlicht. Hier ein Buchtipp von Frank Bernhardt.

Das Thema Digitalisierung ist durch Corona, den Ukrainekrieg und die heimischen Folgen der Wirtschaftssanktionen etwas in den Hintergrund gerückt. Dabei ist der Gegenstand – gerade für Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen – von bleibendem Interesse und verdient eine kritische Aufarbeitung. Denn eins ist sicher, mit der gängigen schönfärbenden Rede davon, man müsse den „digitalen Wandel gestalten“ (bmwk.de, 9.12.22), da er „Risiken“, vor allem aber „Chancen“ böte, werden die Interessengegensätze eher verschleiert als offengelegt.

Peter Schadt, Sozialwissenschaftler, Gewerkschaftssekretär und Mit­veranstalter des Podcasts „Arbeitsweltradio“ (arbeitsweltradio.podigee.io), hat zu dem wissenschaftlich und politisch schon vielfach breit getretenen Thema Ende 2022 seine Einführungsschrift „Digitalisie­rung“ vorgelegt. Was kommt hier an aufklärendem Basiswissen zur Sprache?

Kritisches Basiswissen

Schadt befasst sich in der Einleitung (Kapitel 1) mit Stellungnahmen aus Wissenschaft und Politik zur Einbindung der neuen Technik in das Bemühen nach fortdauerndem Wachs­tum, wie es in den weltweit durchgesetzten ka­pita­listi­schen Ökonomien als Selbstverständlichkeit gilt. Daraus, aus der Einbet­tung der Technik in kapitalistische Verhältnisse, die sich durch konkurrierende Unter­neh­men und Staaten auszeichnen, ergeben sich die sozialen Konsequenzen. Schadt weist auf den zu Grunde liegenden Gegensatz von Kapital und Arbeit hin; der beschert Lohnabhängigen immer existenzielle Sorgen, was sich jetzt so zuspitzt: Die eine Seite setzt „mit digital erneuerten“ Betrieben auf „gesteigerte Produktivität“, die andere ist angesichts dessen mit dem beängstigenden Gedanken konfrontiert, den Job zu verlieren „oder dequalifiziert zu werden“ (S. 11).

Die Frage „Wessen Digitalisierung zu wessen Nutzen?“ (Kapitel 2) schließt sich passender Weise an. Seit gut zehn Jahren ist der Slogan „Industrie 4.0“ unterwegs, wobei die „intelligente Vernetzung“ (so das politische Selbstlob auf plattform-i40.de) der Fabriken mit dem Internet auch unerwünschte Nebenwirkungen zeitigt, also staatlicher Aufsicht bedarf. Seit­ dem Ingangsetzen des industriepolitischen Programms ist die Entwicklung erheblich vorangetrieben worden. Themen im Buch: „Digitalisierung als Vernetzung von Produktion und Zirkulation“ (S. 13) sowie die dadurch beflügelte Kon­kurrenz der Kapitale untereinander – besonders die Konkurrenz zwischen den industriellen und den IT-Konzernen und die „um den Standard“, also um die Frage, wer ihn setzt.

Schadt untersucht den Fortgang der technischen Auswirkungen auf die beiden Hauptakteure der politischen Ökonomie – auf die Subjekte des Verhältnisses von „Lohnarbeit und Kapital“ (MEW 23, 794). Dazu passt eine aktuelle Meldung (tagesschau.de, 20.1.2023), dass nämlich die Tech-Giganten mittlerweile hohe Zahlen von Entlassungen verkünden: Amazon 18.000, Google 12.000, Meta 11.000, Microsoft 12.000, Saleforce 8.000 und HP 6.000. Nach zehn Jahren Prosperität und Gewinnerhöhungen von 50 bis 80 Prozent auf den Aktienmärkten folgt nun wohl die Rezession.

Das „Internet der Dinge“, dieses weltumspannende Netzwerk, verbindet die kapitalmächtigen Produ­zenten mit den Zulieferbetrieben, mit Händlern und Kaufinteressenten, mit Werbeplattformen und Zahlungsinstituten; auch der Ein- und Verkauf von Rohstoffen und Vorprodukten, die Ersatzteilbeschaffung und andere Dienstleistungen sind betroffen. Die Technik ist auf Automatisierung und Effektivierung der Produktion und Zirkulation ausgerichtet, also ein Mittel der Rationalisierung (S. 106). So ersetzen Algorithmen etwa die Kopfarbeit, die fehlerhafte Teile aussortiert; Verwaltungsabläufe werden digitalisiert und damit zentralisiert, so dass möglichst viele Tätigkeiten der Büroangestellten wegfallen. Was das für den ‚subjektiven Faktor‘, die Arbeit, bedeutet, ist klar: Die Profite erreichen neue Höhen, den Schaden haben die Beschäftigten. Bestehende Ar­mut bekommt einen neuen Schub: „Trotz Arbeit arm“ – dieses Prinzip verschärft sich und expandiert.

(Kapitel 3) Es geht um den Weg von der „Industrie 4.0“ zur „digitalen Souveränität“. Schadt nimmt das mit hohem staatlichem Geldeinsatz seit 2011 forcierte Großprojekt in den Blick: Was treibt die Akteure von Kapital- und Staatsseite? Eine der prominenten Sorgen natürlich: Man könnte den Anschluss an die internationale Konkurrenz verlieren. Die industrielle Produktion soll nicht nur als der „hintere Teil der verlängerten Werkbank“ (Merkel) dienen, sondern im Einklang mit der Digitalisierung vorangetrieben werden. Um Technologieführerschaft geht es eben (S. 53ff). Die so oft beschworene internationale Gemeinschaft ist nämlich kein Gemeinschaftswerk, wo alle an einem Strang ziehen, sondern ein Sam­melsu­rium von Gegenspielern – was wirtschaftliche, politische und militärische Bündnisse nicht ausschließt.

Hier fällt dann auch das Stichwort „Digitalisierung des Militärs“. Beispiele: UAV, also Drohnen, die von der Flugabwehr nicht erkannt werden; Satellitensysteme, die jede militärische Bewegung des Feindes in Echtzeit übermitteln; somit das Szenario eines „Cyberkriegs“, in dem etwa die Kriegsführung mit gestählten Robotern bzw. mit deren Umprogrammierung stattfindet. Mit steigender Produktivität vergrößern sich eben auch die Mittel der Destruktion…

„Arbeit im Zeitalter ihrer gesteigerten technischen Reduzierbarkeit“ (Kapitel 4) Was passiert mit den Arbeitsplätzen? Im Marx‘schen Sinne bestimmt Schadt die neue Technik im Verhältnis von bezahlter Arbeit und „Surplusarbeit“, also unbezahlter Mehrarbeit: nach deren Seite hin wird der Zeiger deutlich ausschlagen – wohin auch sonst bei einer Rationalisierung? Für die Erhöhung des Mehrwerts müssen die Lohnabhängigen mit Arbeitsverdichtung geradestehen. Das führt zur Reduzierung des Anteils der notwendigen Arbeit, den die Arbeiter für sich, also für ihre Reproduktionskosten als „Ware Arbeitskraft“ leisten – all das, „um den Teil zu verlängern“, den sich der Kapitalist aneignet (S. 109). Der Ausbeutungsgrad steigt, also der Ausschluss der Arbeitenden von den Produkten ihrer Anstrengung.

Einigen Ideologien der Digitalisierung widmet sich Kapitel 5. Ein historischer Rückblick: Es gab einmal eine Zeit, da gingen Arbeiter nicht gegen ihre Peiniger vor, sondern zerstörten deren Maschinen. Dem lag das Fehlurteil zugrunde, die Maschine sei der Gegner – und nicht das Eigentumsverhältnis. Technik wurde dabei zu einem Scheinsubjekt stilisiert, ähnlich ist es heute bei der Digitalisierung, ohne dass es dabei zu einer arbeiterbewegten Maschinenstürmerei käme. Die ökonomischen Interessen und damit der wirkliche Gegner fallen aber wie früher unter den Tisch. Zu den einschlägigen Ideologien zählt übrigens auch die Schlaraffenland-Vorstellung vom „Ende der Arbeit“ (S. 105), wo die Technik alle Arbeit überflüssig machen soll.

Auf jeden Fall bleibt es – ob jetzt mehr Risiken oder mehr Chancen vorkommen – bei der Beschwörung eines „Geistersubjekts“, eines Megatrends, der heutzutage ablaufen soll und dem sich keiner entziehen kann, natürlich auch nicht im Bildungs- und Schulbetrieb. So jetzt wieder in einem aktuellen Kommentar (General-Anzeiger, 25.4.2023), dem anlässlich der Computerpannen beim NRW-Abitur die Losung ‚Deutschland erwache‘ einfiel: „Wenn es zumindest eine gute Sache an der Pandemie gab, dann war es der Schub, den Corona uns in Sachen Digitalisierung beschert hat. Deutschland, so schien es, erwachte erzwungenermaßen zumindest in der Privatwirtschaft aus seinem analogen Dornröschen-Schlaf.“ Aber leider gestaltet sich die Digitalisierung im Bildungsbereich, so die bekannte Klage, „weiterhin besonders zäh“. Da hilft nur eins, die Bildungspolitik muss spuren und dann den Lehrern und Lehrerinnen Druck machen…

Fazit: ein Buch, das mit seiner grundlegenden Aufklärung sowohl in der schulischen als auch der betrieblichen Ausbildung von Nutzen sein kann, weil es in kompakter Form Auskünfte über die betreffende Tech­nologie und vor allem über die divergierenden Interessen liefert, die hier im Spiel sind.

Frank Bernhardt hat auch eine Buchvorstellung gemacht, die gerade in der Hamburger Lehrerzeitung der GEW (Nr. 3-4/23) erschienen ist. Ein Interview mit Peter Schadt hat Ende 2022 das Overton-Magazin unter dem Titel „Noch ein Wirtschaftskrieg? Deutschland in der Digitalisierungs-Offensive“ veröffentlicht: https://overton-magazin.de/krass-konkret/noch-ein-wirtschaftskrieg-deutschland-in-der-digitalisierungs-offensive/. In dem Interview kommen auch die Erwartungen an die Gewerkschaft zur Sprache, sie müsste bei der „Gestaltung“ der Digitalisierung eine bestimmende Rolle einnehmen. Schadt hat übrigens bereits 2020 eine große Studie über die „Digitalisierung der deutschen Autoindustrie“ vorgelegt. Siehe im Internet: https://shop.papyrossa.de/epages/26606d05-ee0e-4961-b7af-7c5ca222edb7.sf/de_DE/?ObjectPath=/Shops/26606d05-ee0e-4961-b7af-7c5ca222edb7/Products/745-7.

Peter Schadt, Digitalisierung. Basiswissen Politik/Geschichte/Ökonomie. Köln (PapyRossa Verlag) 2022, 118 Seiten, 9,90 €, Internet: https://www.papyrossa.de/neuerscheinung-92.


Die Zeitenwende erzwingt einen großkalibrigen Ministerwechsel

Manfred Henle hat im Overton-Magazin einen Beitrag über eine – scheinbare – Marginalie veröffentlicht, über den Personalwechsel im deutschen Verteidigungsministerium. Hier eine aktualisierte Fassung des Textes.

Unter dem Titel „Verteidigungsministerin der Zeitenwende: Christine Lambrecht verabschiedet“ (bmvg.de, 29.3.23) ehrten die politischen Entscheidungsträger die ehemalige Verteidigungsministerin mit dem Großen Zapfenstreich, „dem feierlichsten militärischen Zeremoniell der Bundeswehr“ (BMVG). Dieses Zeremoniell gab auch einiges vom neuen bzw. alten militärischen (Un-) Geist zu erkennen. (Wer starke Nerven hat, kann sich die Veranstaltung im Original ansehen unter: https://www.ardmediathek.de/video/phoeni.x-vor-ort/grosser-zapfenstreich-fuer-christine-lambrecht/phoenix/Y3JpZDovL3Bob2VuaXguZGUvMzA5ODQyNQ.) Deshalb hier eine kleine Würdigung von unmaßgeblicher Seite.

1. Ein ehrwürdiger Zapfenstreich

Berlin, 28. März 2023, Paradeplatz am Bendlerblock, 20:15 Uhr; dunkel die Nacht und kein störender, die Aufmerksamkeit des Publikums ablenkender Lärm der Straße; ansonsten das in Szene gesetzte Ritual in kaum erhellendes, mildes, dezent-orangefarbenes Licht getaucht; hervorgehoben dadurch die leicht flackernden Flammen der Fackelträger, die in Marschkolonne und strammem Gleichschritt antreten; dazu Marschmusik und Trommelwirbel; zuweilen der die Nacht durchdringende Befehl an die aufmarschierte Kolonne: „Gewehr ü, Gewehrt ab, Augen rechts“. Auf der Ehrentribüne versammelt nicht das gewöhnliche Volk, sondern die ehrenwerte Gesellschaft von ausgewählten Persönlichkeiten des Landes. Insgesamt: Zurschaustellung einer Ehrfurcht erweckende Atmosphäre – gedacht als politische Botschaft für die Wohnstuben daheim.

Der jetzt amtierende Verteidigungsminister Boris Pistorius, der zuerst das Wort an seine Vorgängerin richtet, betont, dass der Große Zapfenstreich als Ehrenbekundung des Militärs gegenüber der politischen Leitung einer zentralen historischen Traditionslinie folge: „Der zivile Oberbefehl über die Streitkräfte ist eine wichtige, eine entscheidende demokratische Tradition“. Demnach hat die demokratisch in Szene gesetzte „Ehrenbekundung“ nicht das Geringste mit den gleich gelagerten Veranstaltungen unter Mussolini oder Hitler zu tun. Wenngleich etwa Leni Riefenstahl (Ehre, wem Ehre gebührt) das damalige Zusammenspiel von politischer Leitung und dienstbereitem Militär mindestens genauso gekonnt in Szene setzte – unvergessen ihre Reichsparteitagsinszenierung „Triumph des Willens“ mit Fackelträgern und Marschkolonnen! Am grundlegenden Dienstverhältnis zwischen politischer Leitung und seinem Militär ist jedenfalls – ästhetisch und inhaltlich – kein Unterschied auszumachen. Beide Male würdigt das Militär seinen Oberbefehlshaber.

Wie auch immer: Die ganze Szenerie des Zapfenstreichs zu Ehren der ehemaligen Verteidigungsministerin versinnbildlicht dem gewöhnlichen Publikum gegenüber das Entscheidende, es bringt das Prinzip von Befehl und unbedingtem soldatischem Gehorsam zur Anschauung – symbolträchtig inszeniert als eine gleichsam „liturgische Erfahrung“ (so der Staatsrechtler Rudolf Smend in seinem Buch „Verfassung und Verfassungsrecht“ von 1928 – der Mann erfreute sich übrigens von Weimar übers Dritte Reich bis zur BRD einer ungebrochenen akademischen Karriere). Die Zeremonie ist also keine belanglose Ausschmückung eines Verwaltungsaktes, sondern Ehrerweisung und Feier dieses bemerkenswerten Gehorsams, der eine unbedingte Todes- und Tötungsbereitschaft der dazu professionell Ausgebildeten und Erzogenen unterstellt, und zwar dann, wenn die Regierungsverantwortlichen den Ernst der Stunde anordnen.

Dies findet heutzutage in Deutschland natürlich immer mit der Betonung statt, dass diesem eigenartigen Gehorsam in der ausgerufenen Zeitenwende bei aller Traditionsverbundenheit eine ganz andere, neuartige Bedeutung bei der „immer neuen Herstellung der Staatsgemeinschaft als Willensverband überhaupt“ (Smend) zukomme – nämlich anders als zu der Zeit, als Leni Riefenstahl die Show inszenierte.

Was sagt uns nun der Abschied von Frau Lambrecht? Gemessen am jetzt geschaffenen Zustand einer „Zeit höchster Intensität“, die zugleich „das „größte Ertüchtigungspaket in der Geschichte der Streitkräfte“ (Pistorius) ausgelöst hat, soll die ehemalige Verteidigungsministerin im Urteil der kriegstrunkenen massenmedialen öffentlichen Meinung versagt haben. In der 13 Monate währenden Zeitenwende habe sie die Macht, die ihr qua Amt zukam, nicht genutzt, um angemessen für die „Riesenaufgabe, für eine starke Bundeswehr“ (Pistorius) zu sorgen. Also für den Schritt, der Deutschland in Europa zur unbestrittenen militärischen Führungsmacht erhebt und, im Verbund damit, Europa zu einer globalen geopolitischen Machtprojektion befähigt – nebst der endgültigen Erledigung der Russischen Föderation durch den ukrainischen Oberbefehlshaber, der die Befehlsgewalt über „seine“ Bevölkerung innehat.

Bisher gelang „nur“ die Erreichung dieses einen Kriegsziels. Dank USA, NATO, EU etc. konnte die militärische Gewalt der Ukraine dazu befähigt werden, die Russische Föderation in einen seit Monaten währenden konventionellen Stellungs- und Abnutzungskrieg hinein zu manövrieren – mit dem für den Westen bislang produktiven Zustand, einen Krieg gegen Russland führen zu können, ohne die eigene menschliche Kriegsressource der unmittelbaren Todes- und Tötungssituation ausliefern zu müssen.

Angesichts des nicht unbescheidenen westlichen Anspruchs, die etablierte „regelbasierte“ Weltordnung unter allen Umständen unantastbar zu machen, wurde unter der ehemaligen Ministerin die dazu notwendige Zeitenwende beim Militär angeblich verschlafen, so sie „das Verteidigungsministerium in eine tiefe Lethargie gefallen.“ (Der Spiegel, 14.1.2023, Titelgeschichte „Heerjemine!“ Man hätte natürlich auch auf den klassischen Spiegel-Titel von 1962 „Bedingt abwehrbereit“ zurückgreifen können!) Mit einem Wort: „Lambrecht beschämt ganz Deutschland“ (Bild, 2.1.2023). So konnte es also nicht bleiben, ein Rücktritt musste sein.

2. Ein ehrloser Rücktritt

Am 16. Januar 2023 zieht die Verteidigungsministerin die Konsequenz und tritt vom hohen Amt zurück. Vorausgegangen war eine über Monate anhaltende, vernichtende Kritik an ihrer Amtsführung. Den Gipfel ihrer so genannten „Entgleisungen“ und „Fehltritte“ bildete demnach ihre Video-Silvesterbotschaft an die berühmten „Menschen draußen im Lande“. Skandalös, blamabel, unprofessionell, unwürdig, geschmacklos lautete unisono das Urteil einer kriegsmoralisch glänzend aufgestellten Öffentlichkeit: eine Neujahrsbotschaft, die nichts als „Spott und Häme“ verdient, das waren noch die mildesten Kommentare der herabsetzenden und hasserfüllten Verurteilung. Der öffentlichen Kriegsbegeisterung entsprechend zählen solche Wortmeldungen aber nicht als Hassbotschaften. Den Rücktritt der Ministerin nahmen die Leitmedien vielmehr als Gelegenheit, die Schuldfrage bei dieser endgültig ehr- und charakterlosen Abdankung zu klären: „Christine Lambrecht schiebt die Schuld für ihren vorzeitigen Abgang auf die Medien.“ (Bild, 16.1.2023)

Diese Aburteilung legt jedoch nur Buchstabe für Buchstabe Zeugnis ab vom Geist der Kritik, der seit der ausgerufenen Zeitenwende auf dem Vormarsch ist. Deshalb soll hier im Nachgang der berühmt-berüchtigten Neujahrs-Videobotschaft noch einmal ein Blick auf diese Inszenierung einer verantwortlichen Persönlichkeit geworfen werden – durchaus im Kontrast zur jetzt erfolgten öffentlichen Inszenierung des Großen Zapfenstreichs, „dem feierlichsten militärischen Zeremoniell der Bundeswehr.“ (BMVG) Sind doch in der Beurteilung der Neujahrsbotschaft durch die kriegsbereite Öffentlichkeit sämtliche Maßstäbe der Kritik, die die geistig-moralische Zeitenwende hervorgebracht hat, versammelt.

3. Eine Videobotschaft ans Volk

„Es ist mehr oder weniger der Sinn der Stellung aller Staatsoberhäupter, die Einheit des Staatsvolkes zu ‚repräsentieren‘ oder zu ‚verkörpern‘, d.h. ein Symbol für sie zu sein, wie es Fahnen, Wappen, Nationalhymnen … sind“. (Smend)

Silvesterabend, 31.12.2022 („Spott und Häme für Lambrechts Neujahrsvideo“, so die Überschrift der Aufzeichnung bei YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=iuIl_WfcTqk): Die deutsche Verteidigungsministerin, irgendwo in Berlin auf offener Straße; vom Wind ständig aufs Neue zersauste Haare, inmitten ohrenbetäubender Silversterkracher und Böllerschüsse, die die Worte der Ministerin so gut wie unverständlich machen. Also eine Politikerin, ununterscheidbar vom gewöhnlichen Menschen auf der Straße, weder eine feierlich angemessene Kleidung, noch eine stilvolle Atmosphäre; kein stiller, andächtiger, symbolträchtig ausstaffierter und aufgeladener Raum, in den kein störender Lärm der Straße dringen kann; keine noble, souveräne, Ehrfurcht gebietende Distanz der hohen, amtsführenden, entscheidungsbefugten Person zum niederen Volk der Straße.

Hergott noch mal – und das im Land von Leni Riefenstahl! Welch ein Unterschied zur gekonnten, professionell aufbereiteten Distanz zum gemeinen Volk, die sich zugleich als betonte Volksnähe inszeniert in der Ansprach der „lieben Bürgerinnen und Bürger…“, die also die unterwürfige Distanz des niederen Straßenvolkes zum politischen Entscheidungsträger zur Grundlage hat, wie etwa die Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten (https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2022/12/221225-Weihnachtsansprache-2022.html) oder die Neujahrsansprache des Bundeskanzlers anschaulich belegen (https://www.bundesregierung.de/breg-de/mediathek/videos/neujahsransprache-kanzler-2155688). Ebenso wenig bedächtige, wohltemperierte, ausgefeilt berechnende Sentenzen, die die bedeutungsschwangere Erhabenheit des Gesagten gleichermaßen hervorheben, wie sie die unvergleichliche Persönlichkeit eines Regierungsverantwortlichen gegenüber den gewöhnlichen Bürgern des Landes betonen; keine geschliffenen Rede, denen die Menschen im Lande nachdenklich-ergriffen lauschen sollen; keine Inszenierung mit einer möglichen „liturgischen Erfahrung“ (Smend), wie sie der Große Zapfenstreich vorführt; keine Ehrfurcht erregende und Respekt fordernde Atmosphäre gegenüber der Repräsentantin eines Hohen Amtes und dem Hohen Amt selbst; nirgendwo eine deutsche oder europäische oder ukrainische Fahne, von denen jede das Bekenntnis und die innere Verbundenheit mit der jeweiligen, übergeordneten politischen Gemeinschaft symbolhaft zum Ausdruck bringt; kein Wille zum Krieg, keine demonstrierte Kriegsbereitschaft, schon gar nicht eine Kriegsbegeisterung, wie sie die Zeitenwende, ihre regierungsamtlichen Vertreter und, im vorauseilenden Gehorsam, die Vierte Gewalt unterm Signum einer Propaganda, die jeden Defätismus oder Pazifismus anprangert, rund um die Uhr in die Wohnstuben und bis ins hinterletzte Kinderzimmer tragen.

Endgültig und unwiderruflich ehrlos: Kein Feindbild ist auszumachen, wie es insbesondere ihrem Amt ziemt, wie es ihre Amtskollegen ihr so vorbildlich vorleben. Und Höhepunkt des vaterlandslosen und menschelnden Auftritts: kein Wort über die immense Aufrüstung, die ja weit über die 100 Milliarden Sondervermögen hinausgeht bzw. hinausgehen muss; kein Wort über die zügig weiter voranzutreibende Eskalation des Krieges mittels Waffenlieferungen in die Ukraine; kein Wort über die Notwendigkeit eines Sieges über Russland. Und zum Abschluss am Vorabend des neuen Jahres der Zeitenwende auch noch das: keine öffentliche Verurteilung Putins und seines „völkerrechtswidrigen Angriffskrieges“! Die Verteidigungsministerin hingegen freundlich wie der letzte Grüßaugust: „Mitten in Europa tobt ein Krieg. Und damit verbunden waren für mich ganz viele besondere Eindrücke, die ich gewinnen konnte, viele, viele Begegnungen mit interessanten und mit tollen Menschen. Dafür sage ich ein herzliches Dankeschön“.

Solches Verhalten offenbart dem herrschenden Sachverstand eine politische Pflichtvergessenheit, unwürdig einer politischen Amtsträgerin und des Amtes, das sie gegenüber den einfachen Menschen auf der Straße repräsentiert. Also lautet das politische Todesurteil: An dieser Amtsträgerin ist nirgendwo die Personifikation der Staatsräson in der Zeitenwende sichtbar, auf die das Volk einen unbedingten Anspruch hat. Die Dame ist nicht als die Versubjektivierung des demokratische Willens zum Krieg erkennbar – der jetzt durch eine „Zeit höchster Intensität“ (Pistorius) radikalisiert ist. So ist die Freude über den Abschied kein Wunder: „Bei der Bundeswehr herrscht seit dem Wochenende Erleichterung über den Abgang von Christine Lambrecht, aber große Anspannung mit Blick auf die Entscheidung über ihre Nachfolge. ‚Der nächste Schuss muss sitzen‘, heißt es.“ (Bild, 16.1.2023)

Und der der nächste Schuss wird sitzen, mit dem erwählten Nachfolger im Amt, im Verein mit Seinesgleichen, oder auch über ihn hinaus, so oder so.

4. Der Nachfolger – ein wahrer Kriegsminister!

„Deutschland hat endlich wieder einen Kerl an der Spitze der Bundeswehr und er ist beliebt wie niemand sonst. Wie macht er das? … Er ist gerade drei Wochen im Amt, hat noch immer nicht Russland besiegt, was kann man da schon über ihn sagen? … Was für ein Mensch ist da an der Macht?“ (ntv-Interview mit Pistorius, 10.2.2023) Das Rätsel um die Beliebtheit ist leicht gelöst, denn die Antwort auf diese rhetorische Frage liefert der Sender stellvertretend für die Öffentlichkeit in der Zeitenwende gleich mit: „Der Name Boris Pistorius allein – so könnte man auch eine römische Kriegsgaleere taufen. Er hat die Statur einer Munitionskiste. Seine Stimme brummt und raspelt sonor wie ein rangierender Radpanzer. Seine Mimik ist fest, aber nicht starr, zwischen den Brauen liegen Falten der Konzentration, aber nicht des Zorns … Seine Sätze sind kurz. Seine Antworten sind schnell, wie aus dem Pistorius geschossen … ‚Bum Bum Boris‘ (‚Bild‘) weiß, was er da tut“. (ntv)

Kein Zweifel: Der Neue ist die perfekte Personifikation des radikal gewordenen, entschlossenen Willens zum Krieg. Darüber hinaus anscheinend begnadet mit der Durchsetzungsfähigkeit, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um mitzuhelfen, der Russischen Föderation eine solche militärische und politische Niederlage zu bereiten, dass sie ihre (auch nukleare) Kapitulationsurkunde signiert. Viel mehr noch: Donnerwetter, der Neue im Amt scheint definitiv entschlossen, seine ganze Macht und Persönlichkeit in die Waagschale zu werfen, um Deutschland – durchaus in Konkurrenz zu Macron und Frankreichs groß-ambitioniertem (auch rentenkürzendem) Projekt eines auf 2024-2030 finalisierten 413 Milliarden Euro schweren „Loi Programmation Militaire (LPM)“ – innerhalb Europas zur unwidersprechlichen militärischen Führungsmacht zu erheben. Und in diesem Sinn Europa unter deutscher Führung zu einem souveränen Global Player in den kommenden geo- und weltpolitischen Auseinandersetzungen – bekannt als „Herausforderungen“ an „unsere Verantwortungsbereitschaft“ – zu machen.

Das überzeugt im Zeitgeist der Zeitenwende, da muss der Neue im Amt sich gar nicht bemühen, „durch Charisma (zu) punkten“ (ntv), denn solche zur Schau gestellte Entschlossenheit macht schon sein ganzes Charisma aus. Das ist er also, der neue „Mensch da an der Macht,“ und glaubwürdig erscheint er als „das Gegenteil von Christine Lambrecht“ (ntv). Vollendung, Bewunderung und endgültigen Zuspruch findet der Personenkult um den Neuen im Amt in dem, was er als seine politische Weltanschauung berechnend der Öffentlichkeit zuleitet – etwa in seinen Antworten „wie aus dem Pistorius geschossen“, die gleichsam in Stein gemeißelt rüberkommen (hier in plakative Schlagzeilen gegossen von ntv nach einem Bildzeitungsinterview mit Pistorius, 8.2.2023):

Die Ukraine hat tolle Soldaten. Soll die Ukraine gewinnen? Ja, natürlich gilt der Satz noch. Und der Atomkrieg? Das macht mir nicht wirklich Angst. Ist die Welt ohne Putin besser? Das kann man ohne zu Zögern und ohne Abstriche sagen.„ Was macht das Amt mit Ihnen? Nichts.

Mit einem Wort: „Es sind diese kleinen Dinge, an denen die Öffentlichkeit erkennt, was für ein Mensch da an der Macht ist. Sie kann nur begrenzt beurteilen, welche Panzerzahl die richtige und ob ein Gesetzentwurf klug ist.“ (ntv)

Um aber andererseits Regierungsverantwortliche daheim und im Ausland zu überzeugen, die zu dem aufgemachten Personenkult beifällig nicken, ihn sonst aber nicht weiter ernst nehmen, bedarf es etwas mehr als aus der Pistole geschossenen Sätze. Doch auch da kann der Neue im Amt beeindrucken, weshalb er nicht von ungefähr in es berufen wurde. In den Kreisen Seinesgleichen ist der Neue gut angekommen, schon als Innenminister wartete er mit einem Plan „Krieg in Europa – In der Krise zusammenstehen: Bund-Länder-Pakt für den Zivil- und Katastrophenschutz“ auf (Pistorius, März 2022, siehe Unter: https://augengeradeaus.net/2023/01/niedersaechsischer-innenminister-wird-neuer-chef-im-verteidigungsministerium/). Der Plan soll u.a. Antworten darauf geben, „wie auf eine anspruchsvollere äußere und innere Gefährdungslage zu reagieren ist.“ Die politischen Aktionen und Reaktionen hinsichtlich der Gefährdungslagen kommen sich dabei nicht in die Quere: „Denn beide Bereiche, äußere und innere Verteidigung, sind zwei Seiten einer Medaille und stehen nicht miteinander in Konkurrenz … Entscheidend dabei ist: Gerade die Stärkung der inneren Verteidigungsfähigkeit erfordert ein Zusammenspiel von Bund, Ländern und Kommunen. Alle staatlichen Ebenen sind gefordert, hierzu ihren Beitrag zu leisten.“

Angesichts von Krieg und Wirtschaftskrieg gegen Russland und den Zumutungen, die die Zeitenwende der Mehrheit der Bevölkerung abverlangt, kommt der inneren Verteidigungsfähigkeit gegen eine möglicherweise anwachsende Unzufriedenheit, gegen innere Unruhen, gegen ein Aufbegehren größerer Bevölkerungsteile eine nicht unbedeutende Rolle zu. In Anbetracht des anvisierten Ziels, über Russland und die Ukraine hinaus auch mittels Krieg Deutschland und Europa zu einem globalen, zudem nuklear durchsetzungsfähigen Auslöser und Akteur kommender geopolitischer Auseinandersetzungen zu machen, ist der äußeren Landesverteidigung gleichwohl ein grundlegender Vorrang einzuräumen. Das (nukleare) Kriegsszenario im Gedanken schon einmal durchgespielt, ergeben sich laut ‚Pistorius-Plan‘ folgende Notwendigkeiten für das existenzielle Überleben von Staat, Standort und Nation:

„Resiliente Bevölkerung … Aufrechterhaltung der Staats- und Regierungsfunktionen… ebenenübergreifender geschützter Kommunikationsfähigkeit sowie einer zugehörigen Infrastruktur für Ausweichsitze relevanter Behörden – Ausbau der Strukturen für den flächendeckenden physischen Schutz der Bevölkerung durch Schutzräume bzw. alternative Schutzmöglichkeiten“.

Gegenwärtig ist es aber noch nicht soweit. Der von der NATO – per „leading from behind“ – geführte Krieg gegen die Russische Föderation ist noch nicht zu seinem für den wertegeleiteten Westen befriedigenden Abschluss gekommen. Da liegt noch Einiges im Argen, wie auch das ZDF stellvertretend für seine Kollegen im In- und europäischen Ausland vermerkt: „ZDF: Aber gibt es dafür denn überhaupt noch genügend Munition? Also man hört ja, dass die offenbar schon auf Sparflamme schießen, die ukrainischen Soldaten… Pistorius: Also, der Eindruck ist heute hier nicht erweckt worden, dass auf Sparflamme geschossen wird. Ganz im Gegenteil… ZDF Munitionsknappheit gab und gibt es aber auch. Pistorius: Da sind wir mit der Rüstungsindustrie sehr weit. In Kürze wird eine neue Produktionsstraße für diese Munition eröffnet. Wir haben außerdem noch Verhandlungen laufen mit zwei, drei Ländern, von denen wir möglicherweise Munition bekommen können. (ZDF-Interview mit Pistorius in Kiew, 7.2.2023)

In die deutsch-europäische Zukunft gedacht, ist dem konstruktive Zusammenspiel von politischer Leitung, Militär und militärisch-industriellem Komplex wohl eine glänzende Zukunft beschieden, denn: „Es muss mehr von Europa kommen, sehr viel mehr. Unser Ziel ist eine moderne Allround-Armee, die ein starker militärischer Kooperations- und Anlehnungspartner ist. Das ist eine starke Antwort auf die Zeitenwende – und ein Versprechen für die Zukunft: Deutschland leistet einen substanziellen Beitrag zur militärischen Stärke Europas. Übrigens gilt das nicht nur für die Landes- und Bündnisverteidigung, sondern auch für das internationale Krisenmanagement. Und nicht nur für die Ostflanke, sondern ebenso mit Blick auf weitere Regionen, in denen Sicherheit und Ordnung unter Druck stehen – allen voran den Indopazifik“. (Pistorius-Rede auf der MSC 2023, 23.2.2023)

Keine Frage, der Neue im Amt ist ein wahrer Kriegsminister! Um aber das geplante Kommende ordnungsgemäß in Angriff zu nehmen ist noch eine Frage hinsichtlich des Völkerrechts zu klären. Die deutsche Außenministerin hat dazu die notwendige Auskunft erteilt.

5. Ein Ausblick auf völkerrechtskonforme Kriege

„Man muss immer im konkreten Fall prüfen, ob ein Einsatz zu mehr oder zu weniger Leid führen wird und ob er auf dem Boden des Völkerrechts steht.“ (Baerbock, Mit Dialog und Härte, April 2021 unter: https://www.gruene.de/artikel/mit-dialog-und-haerte/) Das will wohlüberlegt sein für die kommenden Einsätze, aber damit ist ebenfalls klargestellt: „Ist das gewissenhaft geprüft, dann steht auch einer notfalls nuklearen Auseinandersetzung mit dem Aggressiven und Bösen nichts mehr im Wege.“ (J. Schillo, Ein nationaler Aufreger, Ulm 2022, S. 97)

Der allgemeine Geisteszustand der Zeitenwende ist darauf längst ausgerichtet und eingestellt: „Eskalationsphobie – eine deutsche Krankheit“, so die Diagnose eines Politikprofessors und Direktors des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (faznet, 7.2.203); zu einem möglichen Atomkrieg äußert Oppositionspolitiker Friedrich Merz (n-tv.de, 2.5.2022): „Ich habe keine Angst“. Sorgen brauchen sich die Hohen Damen und Herren ja nicht zu machen, da die „Aufrechterhaltung der Staats- und Regierungsfunktionen sowie einer zugehörigen Infrastruktur für Ausweichsitze relevanter Behörden“ nicht zuletzt dank dem ‚Pistorius-Plan‘ gesichert ist. Und wenn die ARD (daserste.de, 3.4.2023) im Frühling mit der Sondersendung „Können wir Krieg?“ aufwartet, dann muss man angesichts des neuen Ministers eins sagen: Dieser Mann kann es!


Russland und NATO: Ein Historiker erklärt die „Fakten“

Herbert Auinger hat in einem Radiokommentar eine „Qualitätskontrolle“ zum neuesten Faktencheckbetrieb in Sachen Ukrainekrieg vorgestellt. Hier eine aktualisierte Fassung seines Beitrags.

„Wagenknecht, Krone-Schmalz, Guérot und Co.: Die Liste der selbsternannten Russland-Experten ist lang, das Fachwissen gering. Klaus Gestwa nervt das. Der Experte kontert mit Fakten.“ Das meldet t-online in seinen „Nachrichten für Deutschland“ (26.3.2023) unter der Überschrift: „Professor landet YouTube-Hit mit Fakten zu Russland und Ukraine“ (https://www.t-online.de/region/stuttgart/id_100144110/tuebinger-professor-begeistert-bei-youtube-fakten-zu-russland-und-ukraine.html).

Professor Gestwa ist natürlich kein selbst ernannter, sondern ein staatlich ernannter Experte. Diesen Unterschied gilt es zu beachten, der Mann stellt sich ja im Video als staatlich zertifizierter Gelehrter „für osteuropäische Geschichte und Landeskunde der Universität Tübingen“ vor. Er forscht demnach seit über 30 Jahren zu Osteuropa und ist bzw. war seither in Russland und in der Ukraine unterwegs. In letzter Zeit will er bemerkt haben, dass sich „in der deutschen Öffentlichkeit sehr meinungsstarke, aber auch oftmals ahnungslose Stimmen laut zu Wort melden“, mit Auskünften, „die wissenschaftlich sich nicht belegen lassen“. Daher ist es ihm ein „Anliegen, diese Falschannahmen zu thematisieren und einen klaren Blick auf die Entwicklung im östlichen Europa zu werfen.“

In den folgenden Bemerkungen soll es speziell um die von dem Fachmann beanspruchte wissenschaftlich fundierte Deutungshoheit gehen, wie sie auch im „Fall Guérot“ (siehe unten) von akademischen Kollegen, inklusive der Universitätsleitung, geltend gemacht wurde. Dazu wird die erste von acht Thesen Gestwas unter die Lupe genommen. (Alle Zitate stammen, so weit nicht anders angegeben, aus dem Transkript des YouTube-Beitrags; der Link zum Video: https://www.youtube.com/watch?v=6GqWDhHzRdo.)

Durfte Russland sich bedroht fühlen?

Wo es explizit um Fakten geht, hier vorweg und zur Erinnerung kurz Folgendes. Die NATO-Osterweiterung war der Vorgang, der von Russland zunehmend mit Vorbehalten zur Kenntnis genommen wurde. Zur Chronologie die nackten Fakten: 1999 wurden Polen, Tschechien, Ungarn NATO-Mitglied; 2004 Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei, Slowenien; 2009 Albanien, Kroatien; 2017 Montenegro; 2020 Nordmazedonien. Das Standardwissen dazu kann man bei Wikipedia nachlesen. „Noch im Jahr 2004 gratulierte Präsident Putin den baltischen Staaten zum Beitritt. Er sagte am 2. April 2004 ‚Hinsichtlich der Nato-Erweiterung haben wir keine Sorgen mit Blick auf die Sicherheit der Russischen Föderation.‘ Mit Unterzeichnung durch denselben Präsidenten Putin trat am 31. Dezember 2015“ – nach dem Regimewechsel in Kiew und der Annexion der Krim – „eine neue Militärdoktrin in Kraft, welche erstmals die USA sowie deren Alliierte, die NATO und die EU als Bedrohung für Russland und seine Nachbarn benannte.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/NATO-Osterweiterung#Erste_NATO-Osterweiterung_1999)

Darum geht es, wobei man bei Wikipedia auch noch mit Expertenmeinungen versorgt wird: „Von einigen westlichen Politikern und Wissenschaftlern wird die Erweiterung als Reaktion auf den Wandel der russischen Außenpolitik, vor allem unter den Präsidenten Boris Jelzin und Wladimir Putin interpretiert. Ursprünglich sei neben und oberhalb der NATO eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands beabsichtigt worden. Die wachsende Unsicherheit und Bedrohungslage durch Russland habe aber mehr und mehr Staaten dazu veranlasst, sich dem westlichen Militärbündnis anschließen zu wollen. Diese Aufnahmewünsche seien ab 1997 angenommen worden. Vertreter des Realismus in internationalen Beziehungen, besonders John Mearsheimer, interpretieren die russische Ablehnung der Erweiterung der NATO als allgemeines rationales und erwartbares Verhalten zur Sicherung der Interessensphäre eines Landes.“

Das führt nun zur ersten These, die in der westlichen Öffentlichkeit nichts mehr zu suchen hat, mit der man sich vielmehr ins Abseits der „Falschannahmen“ begibt und von den wirklichen Fachleuten zur Ordnung rufen lassen muss: Die Nato hat Russland bedroht – Putin musste sich verteidigen. Gestwa führt dazu aus: „Diese These ist schlichtweg Unfug. Leider ist es nach 1991 nicht gelungen, eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur zu schaffen, in die Russland eingebunden und mit seinen imperialen Ambitionen auch eingehegt ist, dazu haben unterschiedliche wechselseitige Missverständnisse beigetragen, aber daraus ein Bedrohungsszenario Russlands durch die NATO abzuleiten, ist ziemlich übertrieben.“

Damit steht die faktengestützte Gegenthese fest: Die Bedrohung Russlands – eine Übertreibung durch Missverständnisse auf Grund einer gescheiterten gemeinsamen antirussischen Sicherheitsarchitektur. Korrekt nimmt Gestwa darauf Bezug, dass die „nicht gelungene gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur“ ein eindeutiges Subjekt hat. „Es“ ist – dem Westen – in der Tat am Ende doch nicht gelungen, Russland nach seinen Vorgaben einzubinden und einzuhegen, also friedlich zurückzudrängen. Von Seiten der westlichen Akteure wie vom Historiker Gestwa ist dabei als selbstverständlich unterstellt, dass von einem gleichberechtigten Verhältnis – sozusagen „auf Augenhöhe“ – nie die Rede sein konnte. Vielmehr handelte es sich um den Versuch, gewissermaßen als Platzanweiser die Oststaaten und ebenso Russland in die westlich definierte „Sicherheitsarchitektur“ einzusortieren. Dadurch sollten die als unstatthaft, als illegitim definierten russischen Interessen – Gestwa: „imperiale Ambitionen“ – wirksam hintertrieben werden.

Der kontinuierliche Marsch der NATO nach Osten, gegen die wachsenden russischen Einwände durchgezogen, soll natürlich nichts mit westlichen „imperialen Ambitionen“ zu tun haben. Er ist von vornherein als Implementierung einer „Sicherheitsarchitektur“ bestimmt, in deren Rahmen Russland seiner Einkreisung auch noch hätte zustimmen sollen, was allerdings 2014 sein Ende fand. Wenn man die der ganzen Überlegung vorausgesetzte Parteilichkeit des Historikers für die „American Primacy“ (Brzeziński 1997) einmal beiseite lässt, stellt sich gleich folgende Frage: Wenn die russischen Ambitionen schon „imperial“ sind – wie sollten sie denn anders eingehegt werden als durch abschreckende Bedrohung? Die NATO ist doch kein Gesprächskreis! Was sollen denn die Russen da falsch verstanden haben?

Die Aufklärung der von Gestwa erwähnten „wechselseitigen Missverständnisse“ findet übrigens nicht statt. Stattdessen geht es mit einem ganz anders akzentuierter Hinweis weiter. Demnach soll es sich nicht um „Missverständnisse“ bzw. eine „Übertreibung“ gehandelt haben, dank derer Russland auf die Idee einer „Bedrohung“ verfiel, sondern gleich um eine reine Erfindung.

Die Bedrohung: Russischer Offizier entlarvt Erfindung

„Ich möchte hier in dieser Stelle nur die ‚Allrussische Offiziersversammlung‘ zitieren, die am Tag der russischen Großinvasion in die Ukraine, am 24. Februar 2022 verkündet hat, dass die Gefahr aus dem Ausland herbeiphantasiert worden ist, um die kriegerische Provokation eines Angriffs auf das Nachbarland zu kaschieren.“ (Gestwa)

Eine interessante Auskunft, wo doch die Ost-Experten sich sonst darin einig sind, dass die Russische Föderation ein autokratisch regiertes, totalitäres Gebilde darstellt. Jetzt erfährt man, dass es auch in Russland einen politischen Pluralismus gibt. Da wird heftig diskutiert, sogar die ganze Kriegslegitimation in Frage gestellt. Der Verfasser des Aufrufs der „Allrussischen Offiziersversammlung“ – ein Veteranenverband – ist ein gewisser Generaloberst Iwaschow. Er gehört zu den nationalistischen Kritikern Putins. Der Generaloberst leidet nämlich anders an der Lage seiner Nation. Er glaubt, Russland habe andere Probleme und daher andere Prioritäten, wobei sein wesentliches Argument – als militärische Expertise vorgetragen – lautet, die Putin‘sche „Spezial-Operation“ müsse wohl in den großen Krieg gegen die NATO münden und könnte schlecht ausgehen… (Hier der Link zum „Iwaschow-Dokument“: https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/sirius-2022-2010/html?lang=de. Das nur nebenbei: eine ganz interessante Lektüre, viel Unsinn, aber durchaus informativ, was die russische Nationalideologie betrifft.)

Was macht Professor Gestwa aus dieser Stellungnahme? Er bläst diesen Beitrag, der aus dem russischen Pluralismus stammt und dort eine krasse Außenseiterposition darstellt (so wie die Statements des Amerikaners Noam Chomsky ebenso belanglos für die gültige US-Linie sind) zur maßgeblichen Quelle schlechthin auf. Das wird erschlichen, um akademische Glaubwürdigkeit zu erzielen, durch ein kleines „nur“. „Ich möchte hier … nur die ‘Allrussische Offiziersversammlung’ zitieren“, formuliert der Fachmann – so als gäbe es diese Position in Russland gleich in vielfacher Ausführung und zur Straffung der Darstellung begnüge er sich mit nur einer Variante.

Die vielen entgegengesetzten Experten-Positionen zur Bedrohung Russlands durch die NATO, die keineswegs nur in Russland, sondern gerade auch von US-amerikanischen politologischen „Realisten“ geäußert werden, darf man natürlich nicht ernst nehmen. Sie taugen nicht für den Beweiszweck des Historikers, sind als Quellen daher unerheblich. Ihre Urheber fallen wahrscheinlich unter das Verdikt, dass sie das offizielle russische Narrativ bedienen – wie an Krone-Schmalz oder Guérot vorgeführt. Ein russischer Militärdissident, der das dortige Narrativ bezweifelt, ist dagegen per se glaubwürdig.

Weiter geht es mit dem nächsten seltsamen Argument.

Die Bedrohung: Gerechtfertigt wegen baltischer Ängste

„Wenn wir uns die Chronologie genauer anschauen, werden wir feststellen, dass in den 90er Jahren die ehemaligen und auch die baltischen Staaten, die ja Teil des Sowjetimperiums gewesen sind, gute Gründe gehabt haben, der NATO beizutreten; die Initiative zu dieser Erweiterungsrunde ging von diesen Staaten aus, weil Mitte der 90er Jahre waren in Russland wieder neoimperiale Stimmen zu vernehmen, die eben in den ostmitteleuropäischen Staaten und im Baltikum große politische Ängste ausgelöst haben und deshalb dort die Regierungen dazu veranlasst haben, über einen NATO-Beitritt nachzudenken.“ (Gestwa)

Bei der Zurückweisung der russischen Sicherheitsbedenken müsste sich der Fachmann eigentlich entscheiden: Wenn u.a. die baltischen Staaten „gute Gründe“ hatten, der NATO beizutreten, da „in Russland wieder neoimperiale Stimmen“ laut wurden, wenn es also Fakt ist, dass die „Ängste“ der Balten berechtigt waren, dann ist die damalige Lage ja klargestellt: Dann half dagegen nur eine glaubwürdige Bedrohung Russlands durch die NATO, die sich diesem Neoimperialismus entgegenstellt – eben im Sinne ihrer Bündnisses, das wie gesagt kein Hilfswerk für verunsicherte Nationen darstellt, sondern über die größte Militärmaschinerie der Welt verfügt.

Und damit war diese Bedrohung Russlands eben kein Missverständnis und kein Phantasieprodukt, sondern logischerweise eine materiell untermauerte und auch von Strategieexperten bekannt gemachte (siehe den Fachmann Brzeziński, der schon 1997 die Ukraine als zentralen Ansatzpunkt zur Zerlegung des russischen Imperiums ins Visier nahm), wirkliche Bedrohung, nämlich eine, die durch die „Ängste“ der Balten gerechtfertigt war. Oder zählen diese „Ängste“ etwa zu den erwähnten „Missverständnissen“?

Professor Gestwa hat kein Problem mit solchen Widersprüchen, er fährt einfach fort.

Ein grundloses Bedrohungsgefühl und ein rücksichtsvoller Westen

„In der westlichen Politik ist der NATO-Beitritt dieser Staaten lange Zeit kontrovers diskutiert worden, weil man auch im Blick hatte, dass sich Russland dadurch vielleicht etwas echauffieren würde, deshalb hat man auch versucht die Sicherheitsinteressen Russlands zu berücksichtigen, und hat sie in der NATO-Russland-Grundakte von 1997 schriftlich fixiert, und diese Grundakte ist dann 2002 zum NATO-Russland-Rat institutionalisiert worden. Und was steht drin in dieser Grundakte – in dieser Grundakte verpflichtet sich die NATO dazu, östlich der Elbe keine Militärstützpunkte zu unterhalten und auch nicht mehr als 5.000 Nato-Soldaten in den der NATO beitretenden ostmitteleuropäischen Staaten zu stationieren, das bedeutet, dass wir es hier nur mit einer politischen, aber eben nicht mit einer militärischen Erweiterung der NATO zu tun haben. Dieses Zerrbild, das immer in den Medien verbreitet wird, dass rund um Russland herum NATO-Stützpunkte aufgebaut worden wären, das entspricht eigentlich nicht der Realität, und selbst nach 2014, nach der Annexion der Krim war es so, dass niemals mehr als 8.000 NATO-Soldaten auf dem Gebiet der neuen Beitrittsländer stationiert gewesen sind, das heißt also, dass die NATO sehr darauf geachtet hat dass die russischen Sicherheitsinteressen Beachtung finden.“ (Gestwa)

Der Westen hat also versucht, die „Sicherheitsinteressen Russlands zu berücksichtigen“, wie schön! Also irgendwie war das russische Bedrohungsgefühl keine pure Erfindung. Aber wieder erfolgt eine deutliche Erinnerung daran, wer aus westlicher und professoraler Sicht für die Sicherheitsinteressen Russlands zuständig ist – die NATO nämlich, Russland ist es jedenfalls nicht.

Wie wurden denn nun diese russischen Interessen berücksichtigt? Von der von Gestwa erwähnten Verpflichtung, keine „Militärstützpunkte östlich der Elbe“ einzurichten, ist in der zitierten Grundakte nicht die Rede, der Terminus „Militärstützpunkt“ kommt in dem Dokument gar nicht vor. Was in der Grundakte dagegen enthalten ist: „Die Mitgliedstaaten der NATO wiederholen, dass sie nicht die Absicht, keine Pläne und auch keinen Anlass haben, nukleare Waffen im Hoheitsgebiet neuer Mitglieder zu stationieren.“ Vielleicht verwechselt Gestwa das mit „Militärstützpunkten“? Die Absage an Nuklearwaffen ist übrigens durchaus bedingt. „Keinen Anlass“ sehen die NATO-Staaten – derzeit!

(Hier die Quelle: Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der Nordatlantikvertrags- Organisation und der Russischen Föderation (1), online: https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/grundakte-ueber-gegenseitige-beziehungen-zusammenarbeit-und-sicherheit-zwischen-der-nordatlantikvertrags-organisation-und-der-russischen-foederation-1--803640)

Ein Zusatz: Was in der Grundakte steht

„Die NATO wiederholt, dass das Bündnis in dem gegenwärtigen und vorhersehbaren Sicherheitsumfeld seine kollektive Verteidigung und andere Aufgaben eher dadurch wahrnimmt, dass es die erforderliche Interoperabilität, Integration und Fähigkeit zur Verstärkung gewährleistet, als dass es zusätzlich substantielle Kampftruppen dauerhaft stationiert. Das Bündnis wird sich dementsprechend auf eine angemessene, den genannten Aufgaben gerecht werdende Infrastruktur stützen müssen.“ (Grundakte)

Was heißt das? Die „kollektive Verteidigung“ nach der Osterweiterung war nicht darauf ausgelegt, dass Truppen aus den westlichen NATO-Staaten in die Beitrittsländer einrücken und das dortige Militär ersetzen – dieses Zerrbild entwirft Gestwa, um es dann, mit Hinweis auf ohnehin nur „8.000 NATO-Soldaten“ dementieren zu können. Stattdessen ging und geht es bei der Osterweiterung darum, das Militär der Beitrittsländer in die NATO-Streitkräfte zu integrieren – diese sollten darauf vorbereitet werden, sich nützlich zu machen, durch „Interoperabilität“ samt „Infrastruktur“ für allfällige „Verstärkungen“. Die NATO war nicht darauf aus, westliche Kampftruppen für die Bedürfnisse der Beitrittsländer abzustellen, sondern umgekehrt, deren Truppen in die NATO-Strategie einzubeziehen, sie nach NATO-Standards umzurüsten und gegebenenfalls kämpfen zu lassen!

Nur einige Beispiele, die ebenfalls Standardwissen nach Wikipedia sind: „Ukrainische Kontingente beteiligten sich an NATO-geführten militärischen Interventionen in den Jugoslawienkriegen, im Irakkrieg und in Afghanistan… Während des Irakkrieges 2003 war die Ukraine an der Koalition der Willigen beteiligt und entsandte 1.650 Soldaten mit militärischem Gerät in den Irak. Mit seinem Kontingent verfügte das Land über die sechstgrößte Truppenstärke im besetzten Irak. Es befand sich im territorialen Zuständigkeitsbereich Polens.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Ukrainische_Streitkr%C3%A4fte) Also nicht nur die östlichen NATO-Mitglieder, sondern auch diejenigen, die für eine Mitgliedschaft ins Auge gefasst waren, wurden auf westliche Militäreinsätze vorbereitet, ja durften sich an ihnen tatkräftig beteiligen, völkerrechtswidrige Angriffskriege wie im Irak inbegriffen!

Und wie das im großen Maßstab geht, ist derzeit in der Ukraine zu besichtigen, ganz ohne formelle NATO-Mitgliedschaft. Was das Faible von Gestwa für die nicht vorhandenen, von Russland erfundenen Militärstützpunkte betrifft, noch folgende Bemerkung: Wenn die Balten, wenn Polen und Rumänien nun Mitglieder der NATO sind, dann sind deren Streitkräfte integriert und damit ist jede Kaserne dort ein NATO-Stützpunkt mit NATO-Soldaten. Damit sind um Russland herum NATO-Stützpunkte eingerichtet. Oder besteht für Gestwa die polnische Armee etwa aus NATO-Soldaten zweiter Klasse?

Hier noch der wissenschaftlichen Genauigkeit und Vollständigkeit halber eine Ergänzung zur Grundakte, die der Kenner Gestwa gegen ahnungslose Figuren wie Krone-Schmalz oder Guérot ins Feld führt. Was ebenfalls in der besagten Akte enthalten ist, das sind die Positionen, auf die sich Russland beruft, nämlich u.a. auf das „naturgegebene Recht“, über die Gewährleistung seiner Sicherheit selbst zu entscheiden: „Achtung der Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Unversehrtheit aller Staaten sowie ihres naturgegebenen Rechtes, die Mittel zur Gewährleistung ihrer eigenen Sicherheit sowie der Unverletzlichkeit von Grenzen und des Selbstbestimmungsrechts der Völker, wie es in der Schlussakte von Helsinki und anderen OSZE-Dokumenten verankert ist, selbst zu wählen.“ (Grundakte)

Die in der Grundakte vorgesehenen Konsultationen, auf die sich Russland vergeblich berief, sollten dazu dienen, „die Sicherheit der jeweils anderen Seite und die aller Staaten im euro-atlantischen Raum zu verbessern, ohne die Sicherheit eines Staates zu beeinträchtigen“. Also auch die Sicherheitsbedenken der „anderen Seite“ sollten berücksichtigt werden. Professor Gestwa hält es da aber ganz entschieden mit der einen Seite, nämlich der westlichen Politik, die entscheidet, welches Sicherheitsinteresse wo zählt und welches Bedrohungsgefühl gerechtfertigt ist.

Dieses „einäugige“ Verfahren war es übrigens, das Russland ständig kritisierte. Ein Beispiel von vielen: „2010 in Astana und davor 1999 in Istanbul haben alle Präsidenten und Premierminister der OSZE-Länder ein Paket unterzeichnet, das miteinander verknüpfte Prinzipien zur Gewährleistung der Unteilbarkeit der Sicherheit enthält. Der Westen hat nur einen Slogan aus diesem Paket ‚herausgerissen‘: Jedes Land hat das Recht, seine Verbündeten und Militärbündnisse selbst zu wählen. Aber in diesem Paket ist dieses Recht mit einer Bedingung und einer Verpflichtung für jedes Land verbunden, die der Westen unterschrieben hat: die eigene Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer zu stärken …“ (Außenminister Lawrow am 28.1.2022)

Die Bedrohung: Schon von Nord Stream 2 widerlegt

Geradezu kindlich mutet ein „weiteres Argument“ von Gestwa an, nämlich „dass in der ganzen Zeit die wirtschaftlichen Verbindungen vor allen Dingen von Deutschland aus mit Russland immer wieder ausgebaut worden sind, all das spricht doch dafür, dass die Interessen Russlands in der westlichen Politik doch sehr starke Beachtung gefunden haben.“

Alles was recht ist, aber wie weltfremd darf ein deutscher Gelehrter sein? Seit wann sind denn wirtschaftliche Beziehungen, das ökonomische Ausnutzen anderer Länder, ein Garant dafür, den sonstigen Interessen der Ausgenutzten positiv zu begegnen? Wenn man es denn schon dem westlichen Wirtschaftskrieg gegen Russland nicht entnehmen will, wo die „wirtschaftlichen Verbindungen“ gezielt als Waffe eingesetzt werden (um Russland zu „ruinieren“, wie die deutsche Außenministerin verkündete); und wenn der staatlich zertifizierte Historiker bei seinen Geschichtsstudien nicht viel vom Wirtschaftsgeschehen mitgekriegt hat (es gab ja sogar mal eine Phase, wo der „Wandel durch Annäherung“ explizit die Unterminierung der gegnerischen Macht per Handelsbeziehungen zum Programm erklärte) – ein Blick in die gegenwärtige Nachrichtenlage könnte ihn darüber informieren, dass die ökonomischen Beziehungen der USA zu China mit schwersten politischen Differenzen (und der Vorbereitung des nächsten militärischen Großkonflikts) koexistieren.

Denn es ist ja grundsätzlich so, dass sich ökonomische Beziehungen nur unter politischem Vorbehalt und unter hoheitlichen Einschränkungen gestalten – statt umgekehrt naturwüchsig für gute Beziehungen zu sorgen! Bemerkenswert auch der Subjektwechsel: Die wirtschaftlichen Verbindungen speziell mit Deutschland werden hier zur Sprache gebracht. Also Beziehungen – siehe Nord Stream 2 –, die schon lange von den USA kritisiert wurden. Sie sollen belegen, dass russische Interessen „in der westlichen Politik“ insgesamt „Beachtung“ gefunden hätten? Und das soll man bei Handelsbeziehungen erkennen, von denen Deutschland stets versicherte, dass es seinen wirtschaftlichen Vorteil suche und sich dabei von seiner Gegnerschaft gegen das „Putin-Regime“ in keiner Weise abhalten lasse.

Die Bedrohung: Wegen realer Bedrohung aufgeschoben

„Auch die immer wieder erwähnte Gefahr, die ausgegangen sei durch einen möglichen NATO-Beitritt der Ukraine, auch diese Gefahr ist mehr herbeiphantasiert als Realität. Es hat unter der Bush-Administration 2007/2008 die Idee gegeben, dass Georgien und auch die Ukraine der NATO in einer weiteren Erweiterungsrunde beitreten könnten. Allerdings haben dann Deutschland und Frankreich auf dem NATO-Gipfel im April 2008 das Veto gegen diesen Beitritt eingelegt, und die Kompromissformel, die gefunden wurde, war, dass die Ukraine und Georgien sich später mit ihrem Wunsch noch einmal an die NATO wenden können, um dort aufgenommen zu werden, aber faktisch war damit der Beitritt der Ukraine und auch Georgiens eigentlich von der politischen Agenda in Europa verschwunden. Da brauchen wir uns kein (sic!) vormachen, das ist etwas, was unmittelbar vor dem Kriegsausbruch am 24. Februar 2022 Scholz, Macron und auch Biden immer wieder versucht haben, Putin zu vermitteln. Meines Erachtens ist die herbei phantasierte Bedrohung durch die NATO von Seiten des Kreml nur ein propagandistisches Zerrbild, um den eigenen Angriffskrieg so als Präventivkrieg erscheinen zu lassen, und damit von den tatsächlichen Gründen des Kriegsausbruches abzulenken.“ (Gestwa)

Der NATO-Beitritt der Ukraine wurde also aufgeschoben, wegen interner NATO-Differenzen. So viel kann man diesem Faktencheck entnehmen. Das heißt im Klartext: Zumindest den europäischen Bedenkenträgern (aber auch anderen Experten wie Kissinger oder Brzeziński) war völlig klar, welche Bedrohung Russland damit zugemutet wurde. Das erwähnte „Veto“ unterstellt genau die Bedrohung Russlands, die Gestwa sonst nirgends entdecken kann!

Nicht aufgeschoben hingegen wurde die massive und kontinuierliche Aufrüstung, die ganz ohne offizielle Mitgliedschaft ab 2014 vor allem von den USA, Großbritannien und Frankreich betrieben wurde. Sie entsprach dem, was in der NATO-Russland-Grundakte für die Neo-Mitgliedsländer vorgesehen war: „Interoperabilität, Integration und Fähigkeit zur Verstärkung“, samt der dafür nötigen „Infrastruktur“. Milliarden an Unterstützungsleistungen wurden für das Land mobilisiert.

Das Ergebnis ist bekannt: An der Aufrüstung dieses NATO-Landes ohne Mitgliedschaft ist das ursprüngliche russische Kriegsziel gescheitert; nur wegen der massiven westlichen Aufrüstung und eines von der NATO praktizierten „leading from behind“ konnte und kann die Ukraine standhalten. Auch Ex-Kanzlerin Merkel hat ja inzwischen angedeutet, die damaligen Abkommen von Minsk wären nie ernst gemeint gewesen, sondern hätten den Zweck gehabt, der Ukraine und der NATO Zeit zur Aufrüstung zu verschaffen.

Dieser ganze Aufmarsch des Westens soll aber laut Professor Gestwa gar nicht stattgefunden haben bzw. ein Zerrbild der russischen Seite sein, die sich nach anfänglichen Missverständnissen für ihr neoimperales Projektes ein westliches Bedrohungsszenario zusammenphantasierte? Das ist schon eine geniale Umdeutung der Faktenlage. Der Faktencheck gibt also nicht vielmehr zu erkennen als die imperiale Selbstgerechtigkeit des Westens, an die sich der staatlich anerkannte Fachmann Gestwa anschließt. Denn andernfalls – siehe den Fall Guérot – würde wohl auch in Tübingen die Universitätsleitung einschreiten und dem Mann zeigen, wo der Hammer hängt.

Die Kommentare von Herbert Auinger im Internet: https://cba.fro.at/podcast/kein-kommentar.


Der Fall Guérot II

Die deutsche Gesinnungswende fordert ihren Tribut, das thematisierte Teil I. Wie sich hier das Ethos der Wissenschaft herausgefordert fühlt, war Thema der Marginalie „Ulrike im Wunderland“ von Johannes Schillo, zuerst erschienen bei Telepolis im März 2023. Hier eine aktualisierte Fassung des Textes.

Seit ihrem Auftritt bei Markus Lanz am 4. Juni 2022 (https://www.zdf.de/gesellschaft/markus-lanz/markus-lanz-vom-2-juni-2022-100.html) ist die Bonner Politikprofessorin Guérot – milde ausgedrückt – persona non grata im öffentlichen Leben. Hatte sie mit ihrem Essay „Wer schweigt, stimmt zu“, der Kritik an den staatlichen Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung vorbrachte, schon Anstoß erregt, so war mit ihrem im November 2022 erschienenen Buch „Endspiel Europa“ für den Mainstream der deutschen Medienlandschaft endgültig klar: Diese Frau hat im Wissenschaftsbetrieb und im öffentlichen Diskurs, wie er hierzulande geführt wird, nichts verloren. Mittlerweile hat auch der Arbeitgeber Guérots reagiert, was noch einmal für Wirbel sorgte.

Eine Exkommunikation – oder doch nicht?

Der Eindruck liegt nahe und die begründete These steht ja auch im Raum, dass es hier um die Exkommunikation einer unbequemen Autorin aus der scientific community geht. Guérot hat zusammen mit dem Wissenschaftler Hauke Ritz in ihrem Endspiel-Buch, das sich bewusst als Essay vom üblichen Publikationswesen des akademischen Betriebs absetzt, den Weg des Westens hin zum Ukrainekrieg analysiert und dabei den Anteil der NATO an der Eskalation deutlich zur Sprache gebracht. Und sie hat, als Fazit, die Europäische Union dazu aufgefordert, „nicht als Stellvertreter der USA zu fungieren“, wie es bei Krass & Konkret in einem Resümee des Autorenduos hieß. Dabei beriefen sich die beiden – unter Rückgriff auf die kulturelle Tradition des Abendlands – auf eine „EUtopie, die humanistisch, antifaschistisch, antimilitärisch, inter-nationalistisch und antikapitalistisch ist“, und schlossen mit der Forderung: „Deswegen muss Europa alles tun, um diesen Krieg sofort zu beenden.“

Von der Universität, von Kollegen, aber auch von Medien wie der FAZ, die sich auf eine regelrechte Kampagne gegen die zur Außenseiterin erklärte Politologin verlegten, gab es Einspruch gegen einen solchen europäischen Friedensidealismus, der bis zur „Zeitenwende“ – und der damit verbundenen Gesinnungswende (https://overton-magazin.de/top-story/was-man-ueber-die-vorgeschichte-des-ukrainekriegs-nicht-wissen-darf/) – hierzulande als Selbstverständlichkeit galt. Unisono wurde die Unwissenschaftlichkeit von Guérots Positionen festgestellt, die – so kann man die Vorwürfe auf den Punkt bringen – nicht dem NATO-Narrativ folgen. Das Bonner Uni-Rektorat verabschiedete 2022 eine Erklärung, die sich zur Parteinahme für den Westen und gegen Russland bekannte und noch ohne Nennung Guérots den Rahmen setzte, in dem der wissenschaftliche Diskurs stattzufinden habe; womit auch klargestellt war, dass weitergehende juristische Möglichkeiten zum Ausschluss dissidenter Meinungen geprüft wurden.

Das ist mittlerweile geschehen. Der bekannte Plagiatsforscher Stefan Weber hat in Telepolis (https://www.telepolis.de/features/Fall-Guerot-Kuendigung-wegen-Querdenkens-oder-Nichtdenkens-7527536.html) darüber berichtet: Die Uni Bonn hat der Wissenschaftlerin gekündigt, und nun „tobt die Debatte: Waren Plagiate Auslöser oder politisches Engagement? Der Fall geht wohl vor Gericht.“ Weber eiert in seinem Text etwas herum, um den offenkundigen Zusammenhang der Kündigung mit der Äußerung abweichender politischer Meinungen in den Hintergrund zu rücken. Natürlich sind auch schon andere Wissenschaftler (oder Politiker!) über Plagiate in ihren akademischen Arbeiten gestolpert, aber es „ist in den seltensten Fällen so, dass Wissenschaftler genuin wegen wissenschaftlichen Fehlverhaltens berufliche Nachteile haben“. Das hält Weber fest und man merkt ihm die Bauchschmerzen an, mit denen er die politische Einflussnahme auf diese – angeblich – rein innerwissenschaftliche Kontroverse konstatiert.

Das ist übrigens auch der Presseberichterstattung zu entnehmen – und sei es in der Form des entschiedenen Dementis wie in der FAZ (25.2.2023). Die Bonner Lokalpresse (siehe General-Anzeiger, 4./5.3.2023) hat den Fall groß gewürdigt und sich Sorgen gemacht, es könnte „ein zäh erkämpftes Grundrecht“, nämlich die Wissenschaftsfreiheit, Schaden nehmen. Genauer gesagt: Das könnte geschehen, wenn nicht konsequent dem Eindruck entgegengearbeitet wird, bei der Einleitung von „arbeitsrechtlichen Schritten“ hätten politische Überlegungen, vulgo: Zensur, eine Rolle gespielt. Und die Sorge betrifft natürlich das Ansehen des Hochschulbetriebs, wie von einem Kommentator gleich bemerkt wurde: „Wenn sich die Vorwürfe gegen Guérot auf die Zeit vor ihrer Berufung beziehen, dann wirft das auch ein schlechtes Licht auf die Bonner Uni. Hätten die Defizite in Sachen wissenschaftlichen Arbeitens dann nicht früher auffallen müssen?“ (G.-A., 25./26.2.2023) Ja, das hätte in der Tat besser ausgesehen.

Nun geht es wahrscheinlich so weiter, wie der Arbeitsrechtler Volker Rieble ganz gelassen mitteilt (G.-A., 6.3.2023). Nach den Angriffen auf die Professorin werde sich das Gerichtsverfahren erst einmal Jahre hinziehen. „Wenn dann ein Vergleich mit einer kleinen Abfindung herauskommt, hat die liebe Seele eine Ruh’. Die Öffentlichkeit kriegt das ohnehin nicht mehr mit.“ Solche abgebrühten Stellungnahmen gehen in der Öffentlichkeit, der hier ein Fachmann erzählt, wie sie funktioniert, ohne Weiteres durch: Öffentlich ist die Frau diffamiert, sachlich ist wohl weniger dran, was sich nach Jahren herausstellen dürfte, doch erst einmal hat die Kampagne ihre Funktion erfüllt…

Möglicher Weise geht es jetzt aber auch schneller, wenn die geschasste Professorin klein beigibt und sich auf einem demnächst anstehenden „Gütetermin“ mit einer „kleineren Abfindung“ (G.-A., 10.3.2023) abfinden lässt.

Im Reich der exakten Wissenschaft, oh Gott!

Tja, die Koinzidenz von Einspruch gegen das NATO-Narrativ und Aufdeckung wissenschaftlichen Fehlverhaltens ist wirklich unschön. Plagiatsforscher Weber macht sich auch ein Gewissen daraus, aber dann findet er einen festen Halt. Arbeitsrechtlich verzwickt, politisch unschön, Konsequenzen unklar – das muss man konzedieren (und sich auch fragen, ob das „für einen Rauswurf“ genügt). Nur eins soll definitiv feststehen: Die Autorin hat „in zumindest zwei Büchern plagiiert, die sie als Wissenschaftlerin verfasst hat und die sicher nicht der Nicht-Wissenschaft, also etwa der Kunst zuzuordnen sind“.

Und jetzt kommt endlich mal Butter bei die Fische, die Vorwürfe werden von Weber substantiiert. Er bringt nämlich ein Beispiel – eine einzige Textstelle aus Guérots Essay „Wer schweigt, stimmt zu“ –, und von diesem Beleg versichert er nur noch, dass er weitere, ähnliche Fälle anführen könnte (und dass er auch schon Einschlägiges bei den Kritikern Guérots gelesen habe). Worin besteht nun der Beweis, das einzige Argument für Guérots Verstoß gegen wissenschaftliche Standards, das geliefert wird?

Was da geboten wird, ist ein erstaunlicher Beleg für den Geisteszustand des Wissenschaftsbetriebs. Aber im Einzelnen! Weber bringt ein Zitat aus dem Buch „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ des Kommunikationsforschers Paul Watzlawick (1976, S. 101):

Wir alle, jeder von uns auf seine Weise, befinden uns auf einer unablässigen, wenn auch oft ganz unbewußten Suche nach dem Sinn der uns umgebenden Geschehnisse, und wir alle neigen dazu, selbst hinter den verhältnismäßig unbedeutenden Vorfällen unseres täglichen Lebens das Wirken einer höheren Macht, sozusagen ,eines metaphysischen Versuchsleiters’ zu sehen. Es gibt wohl nicht viele Menschen, die den Gleichmut des Königs in »Alice im Wunderland« besitzen, der es ihm ermöglicht, das unsinnige Gedicht des Weißen Kaninchens mit der philosophischen Bemerkung abzutun: »Wenn kein Sinn darin ist, so erspart uns das eine Menge Arbeit, denn dann brauchen wir auch keinen zu suchen.« Zum Beispiel: Es gibt wahrscheinlich eine recht große Zahl von Personen, die eine private Mythologie über Verkehrsampeln haben…

Guérot hat auf Watzlawick, den sie als wissenschaftliche Autorität schätzt, in ihrem Buch mehrfach Bezug genommen. Sie knüpft explizit an seine Aussagen an, beansprucht also in keiner Weise, hier eine eigenständige wissenschaftliche Leistung zu präsentieren, sondern, im Gegenteil, einem Konsens zu folgen. Dann bringt sie auf Seite 101 ihres Buchs – ohne nochmals auf Watzlawick eigens als Urheber zu verweisen – zwei Sätze, die Weber als Plagiat beanstandet. Guérot übernimmt den Satz: „Es gibt wohl nicht viele Menschen … abzutun“ und schließt das Zitat von Lewis Carroll aus dem 12. Kapitel seines berühmten Buchs (mit kleinen Änderungen) an. Der Spruch findet sich übrigens in vielen populären Sammlungen mit den besten Zitaten aus „Alice im Wunderland“.

Diese Übernahme soll ein Verstoß gegen wissenschaftliche Standards sein, der die Autorin eindeutig als Wissenschaftlerin disqualifiziert. Der Sache nach ist es eine absolute Lappalie. Nur würde Webers Einwand lauten: So kleinkariert muss der akademische Betrieb vorgehen, damit sich keiner mit fremden Federn schmückt; exakte Benennung der Quelle muss sein, weil alle Theoriebildung darauf aufbaut. Aber wenn das so ist, dann müsste diese Exaktheitsforderung auch für Watzlawick gelten, dessen wissenschaftliche Leistung hier angeblich entwendet und vom Werk einer Nachfolgerin usurpiert wurde. Schauen wir uns daher einmal den Passus aus Watzlawicks Opus genauer an.

Als Erstes fällt auf, dass der Autor mit einer erstaunlichen Allaussage startet, die er in keiner Weise belegt. Alle Menschen sollen auf Sinnsuche sein – eine unhaltbare Behauptung, die man auch blitzschnell, z.B. mit einem Klick, widerlegen kann, wenn man sich etwa die Kritik der Sinnfrage von Jürgen Hoßdorf ansieht, die ebenfalls bei Telepolis (https://www.telepolis.de/features/Letzte-Fragen-und-hinterletzte-Antworten-6293916.html) vorgestellt wurde: Das Sinnbedürfnis treibt zwar viele Menschen um, genau so liegen aber seit den Zeiten der Aufklärung viele stichhaltige Einwände gegen das Aufspüren geheimnisvoller Kräfte in einer Hinterwelt vor. Zweitens, um zum Ende, zur Schlussfolgerung aus dem Zitat zu gehen: Wer „Alice im Wunderland“ gelesen hat, weiß, dass der König kein gleichmütiger Mensch ist (wie Watzlawick behauptet), sondern ein gefährlicher Irrer, der sich mit seinen absurden Vorwürfen gegenüber Zeugen und Angeklagten ständig ereifert, mit Hinrichtung droht etc. Der zitierte Satz geht dann auch so weiter: „And yet I don’t know… I seem to see some meaning in them, after all.“ Wieso er bei Watzlawick zu einer Marotte, einem etwas gesuchten Beispiel von „Alltagsmythologie“ (den Sinn der Ampeln betreffend), überleiten soll, ist dann kaum ersichtlich; anscheinend sollte nur ein kleines Bonmot den Text auflockern…

Man kann natürlich einwenden: Weber als Plagiatsforscher hat mit dem Inhalt, mit dem Gang der Argumentation oder dem Versuch, sie zu veranschaulichen etc., nichts zu tun. Das heißt aber, die Frage, ob hier kommunikationstheoretisches Geschwurbel vorliegt oder wissenschaftliche Erkenntnis, interessiert ihn und die von ihm betriebene Forschung kategorisch nicht. Weber kümmert sich bloß um die Basics. Aber wenn das so wäre, dann müsste sich doch als nächste Frage anschließen: Wie steht es denn eigentlich mit der Exaktheit in Watzlawicks Text?

Er zitiert einen Satz von Carroll. Woher stammt er? Wo ist die Quellenangabe? Welche Ausgabe wurde zugrundegelegt? Hat er etwa aus einer populären Sammlung zitiert (was Guérot übrigens von Kritikern bei Einstein- oder Hume-Zitaten zur Last gelegt wird, da sie, möglicher Weise, auf Internet-Seiten zurückgegriffen hat statt auf die Originalausgaben von Anno Toback)? Weiter gefragt: Bekanntlich hat Carroll nicht in Deutsch geschrieben – woher stammt die Übersetzung? Carroll wurde x-fach übersetzt, auch ad usum delphini. Wer hat diese Übersetzung angefertigt?

Klar, das sind kleinkarierte Fragen. Aber wenn schon kleinkariert, dann immer! Und Frau Guérot kann man nur wünschen, dass sie sich wie Alice im Gerichtskapitel über die absurden Vorwürfe des Kartenkönigs und seiner Königin erhebt – und am Schluss aus dem Alptraum aufwacht.


Der Fall Guérot I

Was die Wissenschaft zum Ukrainekrieg noch sagen darf, war Thema eines Beitrags von Johannes Schillo, zuerst erschienen im Overton-Magazin „Krass & Konkret“ im November 2022. Hier eine aktualisierte Fassung des Textes.

Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot eckt mit Äußerungen zum Ukrainekrieg an. Denn: Die Zeitenwende hat auch eine Gesinnungswende mit sich gebracht, die den Raum des Sagbaren weiter einschränkt. Bloße Meinungsäußerungen sollen aber noch erlaubt sein!

Guérot, Professorin an der Universität Bonn, hat zusammen mit dem Geisteswissenschaftler Hauke Ritz im November 2022 das Buch „Endspiel Europa“ (https://www.westendverlag.de/buch/endspiel-europa-2/) veröffentlicht. Die beiden Autoren „fordern die Europäische Union dazu auf“, wie es in einem Statement bei Krass & Konkret (https://overton-magazin.de/buchempfehlungen/endspiel-europa/) hieß, „nicht als Stellvertreter der USA zu fungieren“. Dazu berufen sie sich – unter Rückgriff auf die kulturelle Tradition des Abendlands – auf eine „EUtopie, die humanistisch, antifaschistisch, antimilitärisch, inter-nationalistisch und antikapitalistisch ist“, und schließen mit der Forderung: „Deswegen muss Europa alles tun, um diesen Krieg sofort zu beenden.“

Friedensidealismus: eine No-Go-Area

Solche Forderungen, die auf Ausgleich, Versöhnung und Verhandlung setzen, können sich in eine europäische Tradition einreihen, die das Ideal vom „Ewigen Frieden“ (Kant) zur ideellen Leitschnur erhebt. So gesehen waren sie bislang auch nichts Ungewöhnliches oder Unseriöses. Doch das gilt heute nicht mehr. In Deutschland (und ähnlich in den anderen NATO-Staaten) macht sich vielmehr eine Formierung der Öffentlichkeit bemerkbar, die der von Kanzler Scholz ausgerufenen „Zeitenwende“ folgt. Das hat Konsequenzen für den akademischen Betrieb: Die Konstruktion von Modellen und Szenarien zu einer möglichen friedlichen Problemlösung geht in Ordnung, solange sie die antirussische Leitlinie respektiert. Aber wenn das zu friedensbewegten Manifesten oder Appellen führt, die sich für eine Verhandlungslösung stark machen, bewegt sich das schon am Rand des Zulässigen, und wenn eine Kritik an der NATO-Linie laut wird, führt das vollends in ein öffentliches No-Go.

So sprach der Bonner Kollege Guérots, der Osteuropa-Experte Martin Aust, in einem Interview (General-Anzeiger, 12./13.11.2022) kurz nach Erscheinen des Endspiel-Essays kategorisch von der „Unwissenschaftlichkeit des Buches“ und forderte Guérot auf, von ihrer Professur zurückzutreten. Das Buch sei „eine regelwidrige Streitschrift … vollkommen an wissenschaftlicher Kenntnis des östlichen Europa vorbeigeschrieben … provokant, schrill und anmaßend“. Das Autorenduo wolle die Ansicht „eines ausschließlich von Russland begonnenen Kriegs gegen den Strich bürsten“ – wie es im Vorwort heißt –, aber „ohne sich dabei mit dem Forschungsstand auseinanderzusetzen. So bleibt der Versuch haltlos.“

Der Historiker Aust sah hier besonders die Wissenschaftlergemeinde gefordert, „weil Guérot in dem Buch als Professorin figuriert, womit in der breiten Öffentlichkeit der Anschein wissenschaftlicher Autorität und Legitimität erweckt wird. Es ist deshalb wichtig, in der Öffentlichkeit auf die Unwissenschaftlichkeit des Buchs aufmerksam zu machen.“ Deshalb landete er am Schluss des Interviews auch bei der Forderung, „angesichts der unwissenschaftlichen Arbeitsweise des Buches wäre es nur folgerichtig, von der Professur zurückzutreten“. Aust hatte zuvor schon (siehe General-Anzeiger, 24.10.2022) „mit einer Kurznachricht im Netz auf die Fachexpertise“ verwiesen, die Guérot komplett „ignorieren“ und „niederreißen“ würde. Dazu teilte der Zeitungsbericht mit, dass Aust „nähere Angaben auf GA-Nachfrage für unnötig“ gehalten habe.

Sein Statement ist nämlich eher ein Aufruf zur Maßregelung, es ordnet sich unterstützend und bekräftigend in eine Kampagne ein, die seit einiger Zeit an der Bonner Universität lief und die auf eine Kontrolle von Meinungsäußerungen der streitbaren Professorin oder gleich auf ihre Entfernung setzte. Die Bonner Universitätsleitung gab dazu dann eine Erklärung ab (siehe General-Anzeiger, 7.11.2022), die sich gegen Guérot richtete, ohne sie beim Namen zu nennen, und die festhielt, dass die Universität „den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf das Schärfste verurteilt“. Aus dem Rahmen fallende Äußerungen sind hier also schon ins Visier genommen. Das Studierendenparlament der Universität sowie die Juso-Hochschulgruppen forderten zudem, wie der Kollege Aust, weiter gehende Maßnahmen. Fazit: Die Debatte über juristische Möglichkeiten, in die „Wissenschaftskommunikation“ einzugreifen, hat begonnen und die Öffentlichkeit ist alarmiert.

Guérot wurde mittlerweile gekündigt, ein Arbeitsgerichtsverfahren ist anhängig. Man muss abwarten, wie sich das auf die Freiheit zur Meinungsäußerung in Bonn und bei anderen Hochschullehrern auswirken wird, die in gewisser Weise auch zur neuen deutschen Dissidenz (https://overton-magazin.de/krass-konkret/staatstreue-medien-contra-dissidenz-auch-im-freien-westen/) gezählt werden können, so etwa

  • Prof. Klaus Moegling (u.a. Mitglied bei Scientists for Future), der jetzt einen „Appell für den Frieden“ mit der Forderung nach einer „Verhandlungsinitiative zur Beendigung des eskalierenden Kriegs in der Ukraine“ verbreitet, oder
  • Prof. Johannes Varwick, der vom ukrainischen „Zentrum für Desinformationsbekämpfung“ als russischer Propagandist geführt wird (und somit offiziell als „Informationsterrorist“ gilt), weil er sich ebenfalls für eine Verhandlungslösung einsetzt.

Wissenschaftlichkeit = NATO-Narrativ

Bemerkenswert auch, wie die Unwissenschaftlichkeit der Positionen festgestellt wird, die nicht dem NATO-Narrativ folgen. Die Bonner Universität führt es vor: Das Rektorat verabschiedet eine Erklärung, die sich zur Parteinahme für den Westen und gegen Russland bekennt; damit ist der wissenschaftliche Diskurs noch nicht unbedingt festgelegt, aber ein Rahmen gesetzt, in dem weitergehende juristische Möglichkeiten geprüft werden. Es ist also schlicht und ergreifend institutioneller Druck, der gegen die Infragestellung geltender Kriegslegitimationen, wie sie in „Endspiel Europa“ vorkommt, geltend gemacht wird. Darauf hat ja wohl auch der Hochschullehrer Aust in seiner erwähnten Kurznachricht gesetzt, als ihm die Zitierung von Autoritäten, mit denen er übereinstimmt, als Begründung ausreichte.

Er hat sich dann aber doch noch in dem späteren Interview bereit gefunden, am Schluss auf die Frage „Was werfen Sie dem Buch inhaltlich vor?“ mit drei Sätzen zu antworten. Er hält zunächst als Kernthese des Buchs fest: „Die USA hätten den Ukrainekrieg von langer Hand vorbereitet, um Europa von Russland zu entfremden und so die amerikanische Vorherrschaft auf dem Kontinent aufrechtzuerhalten. Statt das Nationalstaatsdenken zu überwinden, was doch wünschenswert wäre, unterstütze die EU jetzt im Gegenteil die Souveränität der Ukraine.“ Was der Geschichtsprofessor als Widerlegung dieser „unwissenschaftlichen“ Behauptung aufbietet, macht einen sprachlos: „Aber bitte, was wäre denn die Alternative: Das Land Putin und dem russischen Imperialismus zu überlassen?“

Es folgt überhaupt kein inhaltlicher Einwand gegen die These. Mit der Frage ans Publikum, die gleich das wissenschaftliche Feld verlässt und ins Politikfach wechselt, ist für Aust die Sache erledigt. Und selbst bei dieser Problemverschiebung geht er unsachlich vor, denn Alternativvorschläge – siehe Moegling, sieh Varwick, siehe aber auch Guérot und Ritz mit ihrem weit ausholenden kontinentalen Friedensideal – lagen und liegen ja vor. Und im Vorfeld gab es ja auch zahlreiche Vorschläge, den Konflikt zu entschärfen; selbst ein Henry Kissinger hatte davor gewarnt, die Ukraine in die NATO aufzunehmen, und später sogar Gebietsabtretungen an Russland für möglich gehalten (Die Welt, 24.5.2022). Das ist das eine, wenn es um die Frage der Alternativen geht. Auf der anderen Seite müsste aber auch einem Aust klar sein, dass die ständige Eskalation – bis zum letzten Ukrainer, bis zum Atomkrieg… – keine Lösung ist.

Doch zurück zum Problem der (Un-)Wissenschaftlichkeit, das ja den Stein des Anstoßes darstellte. Hier muss man eine weitere Ausflucht Austs festhalten: Bei ihm ist abschließend vom russischen „Imperialismus“ die Rede, was ja wohl als wissenschaftliche Einlassung des Fachmanns gemeint ist und somit die Frage aufwirft, welche theoretischen Implikationen hier gegeben sind. Es soll ja nicht ums Beschimpfen gehen (so wie Varwick vom ukrainischen Botschafter Melnyk als „Arschloch“ bezeichnet wurde), sondern um wissenschaftliche Klärung, bei der Guérot und Ritz angeblich versagt haben. Dazu wird vom Fachmann auf den Imperialismus als Erscheinung der modernen Welt angespielt – mehr aber auch nicht. Dass damit, der Sache nach, auf ein Expansionsbestreben gezielt ist, das seine Grundlage – auf die eine oder andere Weise – in der kapitalistischen Produktionsweise der Staatsmacht hat, kann man sich dazudenken. Ausführungen schenkt sich der Experte Aust, das negativ besetzte Wort soll genügen.

Wenn aber die Staatenwelt durch imperialistische Konkurrenzverhältnisse bestimmt ist, müsste man sich den Mächten zuwenden, die wie die USA und ihre NATO- bzw. EU-Partner bestimmenden Einfluss auf Weltmarkt und Weltpolitik haben und die um die Reichweite imperialen Einflusses ringen. Das machen Guérot und Ritz übrigens ausgiebig, sie nehmen die „amerikanische Vorherrschaft“ ins Visier, stützen sich bei ihrer Analyse auf amerikanische Quellen und Experten (Brzeziński, Wolfowitz, Mearsheimer), belegen die Aufrüstungsmaßnahmen oder die Einflussmaßnahme auf Umsturzbewegungen, dokumentieren die Feindbildproduktion, die Rüstungsanstrengungen etc. Das, was Aust in Kurzform als Aussage des Buchs bringt, wird dort ausführlich thematisiert.

Aber unabhängig von solchen Nachweisen müsste man die westliche Vorherrschaft eigentlich als Trivialität bezeichnen. Dass solche imperialen Bestrebungen zu konstatieren sind, könnte man als Ergebnis der Zeitungslektüre festhalten. Dass „America first!“ weltweit gilt und alle Rivalen, unter Einschluss der EU, kleinzuhalten sind, war sogar mal explizit ausgesprochenes Programm unter der Trump-Administration – ein Programm, das übrigens mit Bidens „Build Back Better“ nicht revidiert, sondern getoppt werden sollte. In der Forderung „Make America great again“ unterscheiden sich Republikaner und Demokraten nicht, sondern nur darin, wer es besser kann. Guérot und Ritz machen es sich übrigens nicht so einfach, die Trump-Ära groß zu betonen; diese hat bei ihnen eher den Stellenwert einer Randnotiz. Ihnen geht es darum, eine strukturelle transatlantische Rivalität – die sie eher in der kulturellen Sphäre verorten – herauszustellen.

Zu Austs Beschwerde wäre also festzuhalten, dass das Konstatieren der Sache selber, nämlich der US-Dominanz, keine wissenschaftliche Leistung ist. Sie ist der theoretischen Klärung vorausgesetzt als Sachverhalt, der nach imperialismustheoretischer Aufarbeitung verlangt; seine Bestreitung dagegen gehört ins Feld der Fake News. Und einen sachlichen Einwand hat Aust ja auch nicht zu bieten. Was dann die zweite Hälfte seines Resümees betrifft – die Rückkehr der EU zum Nationalismus –, kann er noch nicht einmal das Faktum bestreiten, sondern behilft sich mit der Ausflucht, es hätte keine Alternative gegeben, stimmt der Feststellung selber also zu.

Aust legt jedoch auf Nachfrage des Interviewers noch einmal nach, indem er zwar keine weiteren Inhalte kritisiert, aber die Äußerung des Autorenduos im Vorwort aufspießt, dass es die Weltlage „ganz neu denken“ wolle. Das weist er entschieden zurück, z.B. mit der Feststellung, dass die „Ansicht, Amerika versuche gezielt Europa von Russland zu entfremden, eine hundertjährige Geschichte im rechtsextremistischen Denken“ habe. Das ist nun wirklich infam. Er gibt nicht den kleinsten Hinweis, wo das inkriminierte Buch solche Bezüge zum historischen Faschismus oder zum Neofaschismus aufweisen würde. Dass es solche staatlichen Rivalitäten und Bündniskalkulationen gibt, gehört zum Grundbestand einschlägiger Erkenntnisse, seit vor über hundert Jahren das Zeitalter des Imperialismus begann; das zur Kenntnis zu nehmen, hat mit Extremismus nichts zu tun. Und Neofaschisten, wie sie etwa in der neuen italienischen Regierung vertreten sind, stehen treu zu den USA und zur NATO.

Außerdem ist die Ansage des Essays, neu zu denken, erkennbar auf die gegenwärtige Kriegslage bezogen. In der gibt es – Aust beruft sich ja gerade auf die Fachwelt als Autorität – einen breiten Konsens, der die Parteinahme für die NATO wissenschaftlich nachvollzieht. Auf den Dissens, der vom Autorenduo hierzu angemeldet wird und der somit in der Tat etwas ganz Neues bringt, bezieht sich die Schlussbemerkung im Vorwort.

Nicht träumen – bitte aufwachen!

Wie gesagt, die Vorstellung einer eurasischen Vereinigung unter Einschluss Russlands ist nichts Neues, auch keine Erfindung extremistischer Kreise, die sich dem Einfluss der USA auf Europa widersetzen woll(t)en. Der Osteuropa-Experte Stefan Creuzberger hat etwa kurz vor der russischen Invasion in die Ukraine die große Studie „Das deutsch-russische Jahrhundert“ (https://overton-magazin.de/krass-konkret/der-ukrainekrieg-und-seine-vorgeschichte/) vorgelegt (auf die sich Guérot/Ritz unter anderem beziehen) und auf solche alternative eurasische Möglichkeiten aufmerksam gemacht. So etwa im Fall des jetzt 100 Jahre alten Vertrags von Rapallo, mit dem die demokratischen Politiker der Weimarer Republik nach eigenen „Gestaltungsräumen“ gegen die Sieger des Ersten Weltkriegs suchten. Creuzbergers Studie geht in ähnlicher Weise wie das „Endspiel“ kontrafaktisch vor, indem sie – in historischer Perspektive – Potenziale im binationalen Verhältnis auslotet, mit denen Deutschland eigentlich seine eigene „koordinierende Rolle“ auf dem Kontinent hätte unter Beweis stellen können (und sollen).

Bei Guérot/Ritz heißt es resümierend in der Einleitung, die den – bereits im Titel des Buchs angesprochenen – politischen Traum vorstellig macht: „Der kontinentale, föderale Traum stellt eine lange, durchaus realistische Konstante deutscher oder auch französischer Nachkriegspolitik dar“. Damit liegt der Widerspruch, von dem das Buch lebt und den es nicht auflöst, auf dem Tisch: Realistisch betrachtet – das liefert die starken analytischen Passagen – ist das Gegenteil von dem der Fall, worauf es den Autoren ankommt. Das Buch ist also im Irrealis geschrieben (Näheres dazu auch in der Rezension bei socialnet: https://www.socialnet.de/rezensionen/30078.php). Dabei wird immer wieder deutlich, etwa beim Versagen des „deutsch-französischen Tandems“, bei der problembeladenen Einführung des Euro oder beim Streit über die europäische Verfassung, dass dem Aufbruchsprozess der EU von Anfang an die Widersprüchlichkeit einbeschrieben war, der Traum also gar nicht das wirkliche Programm darstellte. Die Autoren erwähnen ja konsequent und ehrlich solche retardierenden, „hausgemachten“ Momente; insofern kann man ihnen nicht den Vorwurf der Einseitigkeit, der Auslassung wichtiger Informationen oder der Weltfremdheit machen.

Die Hauptprovokation des Buchs – die These, dass Putin den Krieg nicht aus heiterem Himmel begonnen hat, sondern durch einen von langer Hand geplanten NATO-Aufmarsch provoziert wurde, dass es also eine Vorgeschichte der Militarisierung gab – ist gut belegt und wird auch differenziert, ohne Schwarzweißmalerei, die einer Seite allein die Schuld gibt, vorgetragen. Die offenkundige Schwäche des Buchs dagegen, dass es seinen Ausgangspunkt explizit bei einem „Traum“ von Europa nimmt, also gar nicht von der Sachlage, sondern von einer Wunschvorstellung herkommt (für die sich allerdings illustre Namen wie Monnet, Delors, Kohl, Gorbatschow anführen lassen), muss man festhalten: Der Essay ist noch nicht einmal in der Lage, sich von der eigenen Täuschung – nachdem der Traum (wie es im 3. Teil heißt) „geplatzt“ ist – Rechenschaft abzulegen und die Rolle, die der Idealismus in der Welt des Staatsmaterialismus spielt, zu analysieren.

Diese Schwäche kann aber kein Grund für den Wissenschaftsbetrieb sein, eine solche Wortmeldung als unseriös auszugrenzen und die Autoren zu exkommunizieren. Das Buch des Hochschullehrers Creuzberger geht, wie gesagt, ähnlich vor. Auf seine Art bringt es auch eine kontinentale Vision zum Ausdruck, die bewusst als Dementi des Urteils gemeint ist, das 20. sei ein amerikanisch geprägtes Jahrhundert gewesen. Ein solcher Idealismus, der „eigentliche“ Wirkkräfte oder verschüttete, noch nicht realisierte Potenziale zur Sprache bringt und damit eine wissenschaftliche Arbeit strukturiert, erregt im akademischen Betrieb oder in der interessierten Öffentlichkeit sonst keinen Anstoß. Der heftige Widerspruch, auf den Guérot und Ritz stoßen, resultiert also nicht aus dem essayistisch vorgetragenen Spannungsverhältnis von hoch gesteckten Zielvorstellungen und der dahinter zurückbleibenden Wirklichkeit des politischen Geschehens. Hier macht sich eben die neue Ausrichtung des öffentlichen Diskurses seit der von Kanzler Scholz ausgerufenen „Zeitenwende“ bemerkbar: Die Konstruktion von Modellen und Szenarien zu einer möglichen Problemlösung geht in Ordnung, aber bei Kritik an der NATO-Linie hört die Freiheit der Wissenschaft auf.

Konsens unter behördlicher Aufsicht

Wenn man sich die Fachwelt ansieht, die angeblich geschlossen hinter Austs Aussagen steht, erlebt man übrigens auch Überraschungen. Dazu hier abschließend nur ein Hinweis (Weiteres soll demnächst bei VSA in der Publikation „Deutsche Kriegsmoral auf dem Vormarsch“ thematisiert werden: https://www.vsa-verlag.de/nc/buecher/detail/artikel/deutsche-kriegsmoral-auf-dem-vormarsch/). Die neue Lage kann man etwa an der Publikationsstrategie ablesen, die eine Bundesbehörde, die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), verfolgt. Deren Aufgabe besteht bekanntlich darin, dem öffentlichen Diskurs, der wissenschaftlichen Debatte und der pädagogischen Arbeit Leitlinien zu verpassen und damit in gewisser Weise den Rahmen des zulässigen Pluralismus zu definieren. Dazu erhält die bpb Geld von ihrer vorgesetzten Behörde, dem Bundesinnenministerium (BMI). Sie wird in ihrer Arbeit entsprechend kontrolliert und dirigiert, während das BMI gleichzeitig kritischen Medien wie die „Junge Welt“ unter Beobachtung des Verfassungsschutzes (https://overton-magazin.de/krass-konkret/amtlich-bestaetigt-marx-ein-linksextremist/) stellt, um sie, wie explizit mitgeteilt, in wirtschaftliche Schwierigkeiten zu bringen, also in der Öffentlichkeit auszuschalten. So ergänzen sich bpb und BMI bestens: die eine kommt mit Geboten, das andere mit Verboten.

Diese Leistung, das Zulässige zu definieren, sei hier nur an einigen Highlights aus den Beiträgen von Andrii Portnov und Jan Claas Behrend in der von der bpb herausgegebenen Beilage zum Parlament (Aus Politik und Zeitgeschichte, APuZ 28-29/22 https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/krieg-in-europa-2022/) aufgespießt: Portnov weist in dem Themenheft „Krieg in Europa“ nach, dass Putin ein Nationalist ist (wie vor ihm auch schon Solschenizyn), der die „Anerkennung der historischen Selbstständigkeit Russlands“ haben will. Ja und – könnte man denken. Biden verkündet seit seiner Inaugurationsrede jeden zweiten Tag, dass die Amerikaner die exceptional nation und für den ganzen Globus als Führungsmacht zuständig sind, die keinen Einspruch auf Augenhöhe zulässt, vielmehr jeden Feind niedermacht (mit göttlichem Beistand übrigens). Vorher hieß das, wie gesagt, „America first!“, und möglicher Weise kommt das demnächst wieder als Losung aus dem Weißen Haus.

Dieses Ringen um die Weltmachtrolle blendet Portnov völlig aus. Das ist die eine Technik, Putin als alleinigen Kriegsverantwortlichen ins Unrecht zu setzen; es geht aber auch bis in die einzelnen Details, die den Schuldvorwurf an die Adresse Russlands untermauern sollen. 2008 „marschierten russische Truppen in Georgien ein“, schreibt Portnov. Dass dem ein Angriff des georgischen Militärs vorausgegangen war, entfällt ganz. Einige Details dazu kann man dagegen bei Guérot und Ritz nachlesen. Oder es heißt: „1991 wurden alle in der Ukraine lebenden Menschen … Bürgerinnen und Bürger des jungen Staates.“ Dass dem eine Unabhängigkeitserklärung der Krim vorausgegangen war, die vom Kiewer Regime übergangen wurde, entfällt. Solche Fakten würden eben stören.

Bei Behrends fängt die anklagende Liste über die „postsowjetischen Kriege“ mit Afghanistan an. Dazu heißt es, Ziel der russischen Invasion sei „ursprünglich die Unterstützung des pro-sowjetischen Regimes gegen eine islamisch inspirierte Rebellion gewesen.“ Damit ist das abgehakt und es wird das russische Sündenregister aufgeblättert. Das bewegt sich in seiner Einseitigkeit schon am Rande der Geschichtsklitterung! Und das nach 20-jährigem NATO-Desaster bei der westlichen Invasion in Afghanistan, wo jetzt langsam die Fakten auf den Tisch kommen (wenn sie nicht wegen des neuen Kriegs ganz in den Hintergrund rücken). Man hätte hier zumindest daran erinnern können, dass der versammelte Westen den islamistischen Terror wenig später zur weltweit größten Bedrohung ausrief…

Was aber hier vor allem fehlt, ist die ganze Vorgeschichte: dass dieser Terrorismus in seiner Schlagkraft ein Werk des Westens war – ausgerüstet, politisch-diplomatisch abgesichert, unter Geheimdienst-Ägide von CIA etc. ausgebildet und zielstrebig zum Einsatz gebracht. Und es fehlt damit der wahre Gegner der Russen und die Zwecksetzung der NATO: Afghanistan war eine Front des Westens zur Niederringung der Sowjetunion – eine Front, die nach der Wende nicht aufgegeben, sondern ausgebaut wurde. Das kann man z.B. alles in Brzezińskis Ausführungen zur „American Primacy“ (vulgo: Weltherrschaft) von 1997 nachlesen, die er als Professor für Politikwissenschaft verfasste; es geht bis zu seiner Feststellung, dass die Ukraine von entscheidender strategischer Bedeutung sei und dass sie Russland auf jeden Fall entzogen werden müsse, um ein Wiedererstarken des östlichen Imperiums zu verhindern.

Diese ganze westliche Frontbildung unterschlagen die Beiträge von Portnov und Behrend – im Einklang mit Austs Votum, dass ein Verstoß gegen diese Unterschlagung, wie von Guérot/Ritz praktiziert, tendenziell ein Fall von (Rechts-)Extremismus sei. Insofern wieder ein Musterbeispiel für die deutsche Öffentlichkeit nach der Gesinnungswende: Der Russe führt Kriege, das muss immer wieder gesagt und parteilich bebildert werden. Dass es um Weltmachtkonkurrenz geht, dass dazu der Westen schon massenhaft völkerrechtswidrige Kriege geführt hat und dass jetzt dafür mit der Ukraine ein (autoritär regierter, grundkorrupter) Frontstaat systematisch aufgerüstet und scharf gemacht wurde, darf man dagegen nicht mehr sagen. Höchstens privat oder (noch) in der Gegenöffentlichkeit…

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texts23.txt · Zuletzt geändert: 2023/12/01 08:41 von redcat

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