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+ | ====== Textbeiträge 2016 ====== | ||
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+ | An dieser Stelle veröffentlichen wir Texte, Debattenbeiträge und Buchkritiken. | ||
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+ | ===== Dezember 2016 ===== | ||
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+ | ==== Rechts & links – kann man das verwechseln? | ||
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+ | Rechte Politik hat Auftrieb – nicht nur in Deutschland. Woher kommt das? Stimmt es, „dass die institutionalisierte Linke eine vernichtende Verantwortung für diesen sich gerade abspielenden Prozess trägt“ (Didier Eribon)? Dazu einige Publikationshinweise der IVA-Redaktion. | ||
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+ | Rechte Politik ist im Aufwind – in zahlreichen europäischen Ländern und den USA, mittlerweile auch in Deutschland. Mit der AfD gibt es eine Partei, die für den nationalen Aufbruch einsteht und der große Wahlchancen eingeräumt werden (vgl. die IVA-Texte „Der nationale Aufbruch der AfD“ und „Nationalismus ‚im Aufwind‘“ vom September bzw. Juli 2016). Laut Umfragen vom Jahresende 2016 sind der rechten Alternative für die nächste Bundestagswahl zweistellige Werte zuzutrauen (ARD-Tagesschau, | ||
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+ | Der Sozialforscher Wilhem Heitmeyer beklagte noch jüngst: „Solange das Potenzial sich nicht auf parteipolitischer Ebene zeigte, wurde es von den politischen Eliten nicht ernst genommen“ (ebd.). Dieser Zustand ist passé. Der CDU-Parteitag vom Dezember 2016 z.B. stand ganz im Zeichen einer Kampfansage an die rechte Konkurrenz. Der stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU, Thomas Strobl, will die Perspektive einer demokratisch legitimierten Partei rechts von der Union nicht gelten lassen: „Die AfD ist eine Schande mit Parteistatut“ (ARD-Tagesschau, | ||
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+ | Die regierenden Parteien in Deutschland wollen die rechtsalternative Konkurrenz fernhalten und kleinmachen, | ||
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+ | **Von links nach rechts und zurück** | ||
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+ | |manche meinen/ | ||
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+ | Eribon hat in einem aktuellen Interview seine These von der Verantwortung der „institutionalisierten Linken“ folgendermaßen zusammengefasst: | ||
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+ | Man wundert sich zudem über die großartige Entdeckung des französischen Soziologen in Sachen europäischer Sozialdemokratie – zu der auch die französischen Sozialisten gehören. Die Sozialdemokratie ist ja bei Eribon hauptsächlich als „institutionalisierte Linke“ gemeint. Es geht also um die Partei, von der man seit Schröders Ansage aus den 1990er Jahren weiß, dass sie nicht mehr „linke“, | ||
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+ | Kurios ist auch der Fortgang von Eribons Argumentation. Man könnte meinen, als Erstes folge aus seiner Diagnose, dass die verloren gegangene Klassenperspektive – deren Verlust ja das entscheidende Manko sein soll – wiedergewonnen werden muss. Dem ist aber nicht so. Eribon fährt fort: „Wir müssen den Begriff der Klasse offensichtlich überdenken. Das Vermächtnis der marxistischen Tradition ist tatsächlich überholt. Es kann die soziale Realität nicht mehr treffend beschreiben.“ (Eribon 2016c, 48) Eine merkwürdige Mitteilung: Offensichtlich ist doch gerade, dass alle Welt wieder mit den Kategorien (teilweise auch mit der Diktion) der marxistischen Tradition die sozialen Verhältnisse in den USA oder in den europäischen Problemstaaten „beschreibt“. Da werden verelendete (‚abgehängte‘) Volksteile ausfindig gemacht, die neben einer regulären Arbeiterklasse existieren, welche auch nichts zu lachen hat, sondern immer tiefer (‚prekärer‘) in die Misere gerät, oft nur als Reservearmee sparsamst erhalten wird, während am anderen Pol der Gesellschaft eine abgehobene Leisure Class (samt ihrem Establishment) residiert und es sich immer besser gehen lässt. Beschrieben wird das massenhaft – von Pikettys Bestseller über das „Kapital im 21. Jahrhundert“ bis zur deutschen Armutsforschung, | ||
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+ | Ganz zu schweigen davon, dass es Marx in seiner Kritik der politischen Ökonomie nicht darum ging, die Klassengesellschaft zu beschreiben, | ||
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+ | Bleibt nachzutragen, | ||
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+ | Aber zurück zum angesprochenen Kernproblem der Links-Rechts-Verschiebung: | ||
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+ | Dass die soziale Not von den rechten Parteien angesprochen wird, dass sich jede Unzufriedenheit bei ihnen aufgehoben fühlen soll, stimmt natürlich. So geht z.B. die AfD in Deutschland vor, womit sie sich zunächst nicht von anderen Parteien unterscheidet. Die Analyse des Gegenstandpunkts hat diesen Sachverhalt aufgegriffen. Chefredakteur Peter Decker hat ihn jüngst in einem Vortrag (2016d) an den Anfang gestellt, nachdem zuvor in einem Artikel die Logik rechten Denkens unter die Lupe genommen worden war (vgl. Decker 2016b). In dem Vortrag geht Decker ausführlich auf Äußerungen von AfD-Politikern wie Gauland oder Höcke ein, die zum sozialen Elend in Deutschland Stellung und auch explizit auf die „soziale Frage“ Bezug nehmen. Dabei wird deutlich, dass diese Frage von der rechten Politik ausdrücklich und programmatisch in eine nationale verwandelt wird. Wer sich diesem Blickwinkel anschließt, | ||
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+ | Die Kritik von Eribon – die, wie dargelegt, ein landläufiges linkes Argumentationsmuster wiedergibt – wäre statt dessen selber auf ihre eigenartigen Leistungen hin zu überprüfen. Die neue Analyse des Gegenstandpunkts (Decker 2016c), die im Dezember 2016 erscheint, geht in diese Richtung. Sie macht den Kampf der Linken gegen rechts zum Thema, wobei hier prominente Vertreter der Linkspartei gemeint sind (Riexinger, Wagenknecht, | ||
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+ | **Literatur** | ||
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+ | * Peter Decker (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Peter Decker (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Peter Decker (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Peter Decker, Rechtsruck in Deutschland und Europa. Vortrag, Nürnberg, 27.10.2016d, | ||
+ | * Klaus Dörre, Fremde – Feinde. Der neue Rechtspopulismus deutet die soziale Frage in einen Verteilungskampf um. Thesen über Pegida, AfD und darüber, wie der wachsende Zuspruch für sie zustande kommt. In: Junge Welt, 27.6.2016, S. 12-13. | ||
+ | * Didier Eribon, Wie aus Linken Rechte werden – Der vermeidbare Aufstieg des Front National. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 8, 2016a, S. 55-63. | ||
+ | * Didier Eribon, Wie aus Linken Rechte werden, Teil II – Der rassistische Reflex und das Ende der Solidarität. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 9, 2016b, S. 85-92. | ||
+ | * Didier Eribon, Ich will nicht in den Proletkult zurückfallen – Interview mit D.E. über den Erfolg seines Buchs Rückkehr nach Reims und die Mitverantwortung der Linken für den Auftrieb der Rechten. In: Konkret, Nr. 12, 2016c, S. 48-49. | ||
+ | * Didier Eribon, Rückkehr nach Reims. (Originalausgabe: | ||
+ | * Alexander Häusler/ | ||
+ | * Wilhelm Heitmeyer, „Der Erfolg der AfD wundert mich nicht" – Interview mit W. H. Berliner Zeitung, 22.10.2016, online: http:// | ||
+ | * Tjark Kunstreich, Buch des Monats: Didier Eribon, Rückkehr nach Reims. In: Konkret, Nr. 12, 2016, S. 51. | ||
+ | * Klaus Lederer/ | ||
+ | * Albrecht von Lucke, Burka als Exempel – Die Lufthoheit der AfD. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 9, 2016, S. 5-8. | ||
+ | * Alex Struwe, Leben im Loop – Auch Didier Eribons Gesellschaftsanalyse ändert nichts daran, dass der Ruf nach neuen Visionen nur die Hilflosigkeit der Linken bestätigt. Jungle World, Nr. 49, 2016, online: http:// | ||
+ | * Sahra Wagenknecht, | ||
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+ | ===== November 2016 ===== | ||
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+ | ==== Erziehung im Kapitalismus ==== | ||
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+ | Das Standardwerk zur Kritik des kapitalistischen Systems von Bildung und Ausbildung – Freerk Huiskens „Erziehung im Kapitalismus“ – ist im November 2016 in einer überarbeiteten Neuausgabe erschienen. Dazu eine Information der IVA-Redaktion. | ||
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+ | Alle klagen über die Schule: Schüler, Eltern, Lehrer sowieso, dann Hausmeister, | ||
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+ | Dem soll übrigens im VSA-Verlag eine Neuauauflage von Huiskens Veröffentlichung „Über die Unregierbarkeit des Schulvolks“ folgen (vgl. Schuster 2016). Der 2007 erschienene Sammelband, der vier Aufsätze enthielt, basierte auf Vorträgen, die der Autor zum Thema „Jugendgewalt“ gehalten und um einen Debattenteil ergänzt hatte. Roter Faden war das Ordnungsproblem, | ||
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+ | **Macht die Schule dumm?** | ||
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+ | Huisken hat seine Schulkritik auch in diversen Vorträgen präsentiert. Eine der letzten Veranstaltungen, | ||
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+ | Huisken will es mit dem Verweis auf Versäumnisse und ungewollte Wirkungen aber gerade nicht bewenden lassen. Er zielt auf einen grundsätzlicheren Sachverhalt. Das Grassieren von Dummheit, heißt es in der Ankündigung des Salzburger Vortrags, „steht nicht für ein Versagen von Schule und Universität, | ||
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+ | Die Neuausgabe von „Erziehung im Kapitalismus“ hat die alte Gliederung im Wesentlichen beibehalten. Der erste Teil („Die Grundlügen der Pädagogik“) befasst sich mit der etablierten Wissenschaft von der Erziehung, und zwar in drei Schritten: Erstens wird deren grundsätzliches Anliegen dargestellt und kritisiert, zweitens werden die einzelnen Abteilungen (Erziehungsziele, | ||
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+ | Zeitbedingte Passagen der letzten Ausgabe wurden gekürzt. Ganz herausgenommen wurde z.B. das Kapitel über den Lehrer, denn es müsse mittlerweile, | ||
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+ | **Machen Lehrer kritisch?** | ||
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+ | Eine Auseinandersetzung mit Huiskens Analyse war übrigens bei der eigenen Zunft die Ausnahme. Im Grunde hielt sich der pädagogische Betrieb an die bewährte Linie und schwieg die Veröffentlichung zur Schulkritik tot. Deren theoretische Leistung wurde auch da ausgeklammert, | ||
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+ | Kurios ist dabei, dass Dudek die pädagogisch tätigen Staatsdiener vor dem Vorwurf in Schutz nimmt, sie wären in einem höheren politischen Auftrag unterwegs. Um Missverständnisse zu vermeiden: Wie Huisken in seinem Buch detailliert darlegt, erhalten Pädagogen natürlich nicht von der jeweiligen Regierung ihre Direktiven. Als Staatsdiener sind sie – vorwiegend noch – Beamte, stehen daher in einem besonderen Treueverhältnis zum Staat. Sie werden unter dessen Aufsicht tätig, und jahrzehntelang praktizierte Berufsverbote haben den Berufseinsteigern klar gemacht, dass und wie sie „jederzeit“ Gewähr dafür zu bieten haben, sich in Treue zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung aufzuführen, | ||
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+ | Die von Dudek zitierte Stelle stammt zudem aus Huiskens Buch „Jugendgewalt“ (Huisken 1996, 63), wo nicht vom schulischen Alltagsbetrieb, | ||
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+ | Dass Dudek die Einbindung der Pädagogen in solche Aufträge und in die normale staatliche Schulaufsicht als eine Voreingenommenheit oder Simplifizierung Huiskens bezeichnet, ist absurd. Muss man den Fachmann erst über die Banalitäten des beruflichen Alltags informieren? | ||
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+ | Das genannte pädagogische Rollback ist übrigens keine Entdeckung Huiskens, es wurde auch von anderen kritisch eingestellten Bildungsexperten registriert und kritisiert. Hochschullehrer wie Klaus Ahlheim, Armin Bernhard oder Peter Faulstich, um nur einige zu nennen, machten es immer wieder zum Thema (vgl. Ahlheim 2004, Bernhard 2010, Faulstich/ | ||
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+ | Dies ist im Grunde auch kein pädagogisches Novum. Nach jahrzehntelanger Jugendforschung mit Shell- und anderen Jugendstudien, | ||
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+ | Einwände gegen Huiskens Analyse vom Standpunkt des Lehrerberufs aus formulierten auch Autoren, die der gelieferten Schulkritik gar nicht groß widersprechen wollen. So heißt es in einer Rezension der marxistischen Zeitschrift Z, dass Huiskens Kritik des gesamten Ausbildungsbetriebs und speziell der schulischen Wissensvermittlung zutreffe: Notengebung sei keine Hilfe, um den Nachwuchs mit Wissen zu versorgen, sondern das Gegenteil, ein Instrument der Selektion. Aber, so wird eingewandt: „Führt man diesen Gedanken konsequent weiter, hat ein Mensch, dem ernsthaft etwas am Wohl von Kindern liegt, der also aus ihnen keine opportunistischen Egoisten machen will, im Schuldienst nichts verloren. Dies sieht Hans-Peter Waldrich anders. In seinem Buch 'Der Markt, der Mensch, die Schule' | ||
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+ | Die Relativierung der theoretischen Einsicht zu Gunsten einer Bestärkung des praktisch-beruflichen Engagements wird hier explizit ausgesprochen. Dabei soll es nicht um die Würde des Berufsstands gehen, sondern um eine grundsätzliche Frage: Wenn die Schule funktionaler Bestandteil der kapitalistischen Gesellschaft ist und die Jugend im Griff hat, wie kann dann noch die Hoffnung keimen, dass es einmal anders wird, dass also stimmt, was im ältesten deutsche Protestsong beschworen wird: Geschlagen ziehen wir nach Haus, unsere Enkel fechtens besser aus!? Wenn man analytisch zugesteht, dass der Kapitalismus die Jugend in Beschlag nimmt, so die Argumentation der Zeitschrift Z, dann stirbt die Hoffnung: „Dass Lehrer eine systemstabilisierende Funktion haben – allein schon dadurch, dass sie Beamte sind – ist richtig, greift aber zu kurz: Das gegenwärtige System hält (bzw. hielt) auch Huisken selbst durch seine Tätigkeit als Professor am Laufen, so wie, strenggenommen, | ||
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+ | **Literatur** | ||
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+ | * Klaus Ahlheim, Scheingefechte – Zur Theoriediskussion in der politischen Erwachsenenbildung. Schwalbach/ | ||
+ | * Armin Bernhard, Biopiraterie in der Bildung – Einsprüche gegen die vorherrschende Bildungspolitik. Hannover 2010. | ||
+ | * Deutscher Bundestag – Presse- und Informationszentrum (Hg.), Jugendprotest im demokratischen Staat (II) – Schlussbericht 1983 der Enquete-Kommission des 9. Deutschen Bundestages. Zur Sache, Nr. 1, 1983. | ||
+ | * Peter Dudek, Grenzen der Erziehung im 20. Jahrhundert – Allmacht und Ohnmacht der Erziehung im pädagogischen Diskurs. Bad Heilbrunn 1999. | ||
+ | * Peter Faulstich/ | ||
+ | * Rolf Gutte, Lehrer – Ein Beruf auf dem Prüfstand. Reinbek 1994. | ||
+ | * Freerk Huisken, Die Wissenschaft von der Erziehung – Einführung in die Grundlügen der Pädagogik. Kritik der Erziehung, Teil 1. Hamburg 1991. | ||
+ | * Freerk Huisken, Weder für die Schule noch fürs Leben – Von den Grundlügen der Pädagogik und dem unbestreitbaren Nutzen der bürgerlichen Lehranstalten. Kritik der Erziehung, Teil 2. Hamburg 1992. | ||
+ | * Freerk Huisken, Jugendgewalt – Der Kult des Selbstbewusstseins und seine unerwünschten Früchtchen. Hamburg 1996. | ||
+ | * Freerk Huisken, Erziehung im Kapitalismus – Vom unbestreitbaren Nutzen unserer Lehranstalten. Studienausgabe der Kritik der Erziehung Bd. 1 und 2. Hamburg 1998. | ||
+ | * Freerk Huisken, z.B. Erfurt – Was das bürgerliche Bildungs- und Einbildungswesen so alles anrichtet. Hamburg 2002. | ||
+ | * Freerk Huisken, Über „PISA-Schock“ und seine Bewältigung – Wieviel Dummheit braucht/ | ||
+ | * Freerk Huisken, Erziehung im Kapitalismus – Von den Grundlügen der Pädagogik und dem unbestreitbaren Nutzen der bürgerlichen Lehranstalten. Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, Hamburg 2016a. | ||
+ | * Freerk Huisken, Über die Unregierbarkeit des Schulvolks – Rütli-Schulen, | ||
+ | * Johannes Schillo, (Rezension) F. Huisken, Über die Unregierbarkeit des Schulvolks. In: SozialExtra, | ||
+ | * Georg Schuster, Jugendgewalt – Von „unerwünschten Früchtchen“, | ||
+ | * Alexander Subtil, Schule im Kapitalismus: | ||
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+ | ===== September 2016 ===== | ||
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+ | ==== Darf man die psychologische Wissenschaft kritisieren? | ||
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+ | Anfang 2016 erschien die dritte Auflage von Albert Krölls' | ||
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+ | Zehn Jahre nach der Erstveröffentlichung seiner „Kritik der Psychologie – Das moderne Opium des Volkes“ legte Albert Krölls Anfang 2016 eine überarbeitete Neuausgabe vor, die u.a. den bereits in der zweiten Auflage von 2007 aufgenommenen Diskussionsteil ergänzte und die These vom „modernen Opium“, also dem Nutzwert, den die psychologische Weltanschauung für die kapitalistische Konkurrenzgesellschaft erbringt, ausführlicher begründete. Dieser Angriff auf den bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb und auf herausragende Autoritäten der Disziplin zog – bemerkenswerterweise in einem linken Periodikum, der Tageszeitung Junge Welt – heftigen Widerspruch auf sich. Michael Zander wertete eine solche Wissenschaftskritik als „unhaltbare Polemik“ und hielt es für einen Skandal, dass Krölls‘ Machwerk überhaupt „ins Programm eines linken Verlags aufgenommen“ wurde. Der Wortlaut von Zanders Rezension und die Auseinandersetzung damit sind auf dem IVA-Blog dokumentiert, | ||
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+ | Im Folgenden werden einige Texte und Überlegungen nachgetragen, | ||
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+ | **Bitte wenig erwarten – Cool sein heißt angepaßt sein: Wie die Psychologie sich die Gesellschaft schön denkt** | ||
+ | (Birgit von Criegern) | ||
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+ | „Es sind nicht die Dinge, die uns beunruhigen, | ||
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+ | Krölls wendet sich gegen die allgemeine Reparatur-Logik der Psychologie und speziell gegen das Prinzip der „Steuerung“. In knapp gehaltenen Artikeln resümiert er die verschiedenen psychologischen Schulen. Krölls‘ Analyse hat der Beratergesellschaft gerade noch gefehlt: streitbar, sarkastisch im Tonfall, aber entschieden in der Sache. Seine These: In der Psychologie zeige sich die „wissenschaftliche Sehnsucht nach einem gesetzmäßig funktionierenden Staatsbürgerwillen“. Nach Krölls verfolgt der „psychologisch verbildete Mensch“ das Ziel, die eigene Funktionsfähigkeit im kapitalistischen System zu sichern. Dabei wird ihm von Psychotherapeuten mittels „abgrundtief menschlichem Verständnis“ geholfen. Ihre Ratschläge lauten ungefähr: „die Realität annehmen“, | ||
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+ | Einbildung als Bildung. Krölls zufolge klammert die Psychologie den direkten Antrieb für Handeln aus, da mögen sich die Menschen noch so sehr einbilden, Herren ihrer Zwecke zu sein. Damit blendet die gegenwärtige Psychologie jedwede äußere, das heißt soziale oder politische Ursache für menschliche Probleme aus. Familiensorgen, | ||
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+ | Die „Selbststeuerung“ von Gefühlen und Gedanken wird in der Verhaltenstherapie eingesetzt, um eine gewünschte Verhaltensänderung zu erreichen. Historisch ging die Verhaltenstherapie aus dem Pawlowschen Behaviorismus hervor. Demgemäß kann Verhalten nach gleichen Prinzipien erlernt, aufrechterhalten und auch wieder verlernt werden. Solche psychotherapeutischen Verfahren gewinnen zunehmend an Bedeutung, wie dem aktuellen Gesundheitsbericht der Bundesregierung zu entnehmen ist. Seit 1998 hat sich die Zahl der psychologischen Psychotherapeuten mehr als verdoppelt. In steigendem Maße werden Angst- und Streßstörungen behandelt. An der behandlungswürdigen „Burn-out“-Streßerkrankung leiden etwa 40 Prozent der Beschäftigten. Die Symptome werden mit Gefühlen der Kraftlosigkeit und Selbstzweifeln beschrieben. „Selbstvertrauen stärken, eigene Ressourcen erkennen“. Die Ansätze vieler Verhaltenstherapien für einen Umgang mit „Burn-out“ sind grundsätzlich realitätsfern gehalten, insofern die gesellschaftliche Realität als unveränderbar angenommen wird, der sich der einzelne optimal anzuschmiegen hat. | ||
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+ | Antidepressiva. Für die Regierung ist der Fall klar: Depressionen sind auf dem Vormarsch, teilt das Bundesgesundheitsministerium mit, mindestens vier Millionen Menschen sind davon bundesweit jährlich betroffen. 1999 wurde ein „Kompetenznetzwerk“ ins Leben gerufen, das größte Projekt des Gesundheitsministeriums zur Bekämpfung von Depressionen aller Zeiten. Mit einem Neun-Millionen-Euro-Etat wird unter anderem die Medikamentenforschung subventioniert. Einem Bericht der Techniker Krankenkasse zufolge hat bei Erwerbslosen die Zahl der verschriebenen Antidepressiva seit 2000 drastisch zugenommen. | ||
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+ | In der gesellschaftlichen Krise boomt die Verhaltenspsychologie. Beispielsweise in der Hans-Böckler-Schule, | ||
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+ | Was sind die „abweichenden“ Verhaltensweisen? | ||
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+ | Totale Sozialisation. Der Ansatz der KSK-Pädagogen fordert die totale Sozialisation auf kleinem Raum in bestimmter Zeit. Zum Inhalt des Trainings gehört „Verhaltensübung“ bei Konfliktsituationen, | ||
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+ | (Die Autorin bezog sich auf die Erstausgabe von Krölls‘ „Kritik der Psychologie“ aus dem Jahr 2006 und auf die Dokumentation der Friedrich Ebert-Stiftung zur „konfrontativen Pädagogik“, | ||
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+ | **Unhaltbare Rezension** | ||
+ | (Franz Anger) | ||
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+ | Da Michael Zander sich darauf kapriziert zu haben scheint, die marxistisch-leninistische Ideologie um die Psychologie zu bereichern, ist ihm Albert Krölls' | ||
+ | Widerlegt wird diese haltlose Unterstellung des Rezensenten dadurch, dass im Krölls-Buch zu lesen ist: „Psychologen haben ... ein lediglich bedingtes (sic!) Interesse am Willensinhalt“ (Krölls 2016, 18). Denn der „zweckbestimmte Inhalt der Handlungen“ fungiere im Rahmen psychologischer Erklärungen „in der Regel (sic!) lediglich als bloßer Anknüpfungspunkt oder Material für Rückschlüsse auf die im Inneren des Menschen angelegten tieferen Ursachen ihres Tuns“ (ebd., 21). | ||
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+ | Angesichts dieses Textbefundes kann man dem schludrigen Psychologie-Apologeten namens Zander nur raten, die Krölls' | ||
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+ | **Zur Verweigerung der Diskussion determiniert? | ||
+ | (Georg Loidolt) | ||
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+ | „Wären Handlungen arbiträr, d.h. würden nur auf die nicht weiter zurückführbaren Größen ‚Willen‘ und ‚Bewusstsein‘ beruhen, dann wäre auch der historische Materialismus hinfällig“ (Zander 2016), lautet der Einwand von Michael Zander gegen Albert Krölls‘ Kritik der Psychologie. Von dem Grammatikfehler dieses Satzes abgesehen, findet sich hier meines Erachtens der grundlegende Fehler der Protagonisten des psychologischen Determinismus. Ist das Handeln nicht determiniert, | ||
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+ | Wille und Bewusstsein sind aber trotz ihrer relativen Freiheit, die sich negativ auch in Fehlurteilen und Ideologien betätigt, keine abstrakten Wesenheiten, | ||
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+ | Wenn das menschliche Handeln seinen Ausgangspunkt in Wille und Bewusstsein der Gesellschaftsmitglieder hat, so ist es deswegen also noch lange nicht arbiträr, umgekehrt aber auch nicht determiniert. Es hängt vielmehr von den Einsichten der Menschen in ihre gesellschaftlichen Verhältnisse ab, welche Urteile sie darüber fällen und welche Ziele sie sich setzen. Diese Urteile sind zwar nicht determiniert, | ||
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+ | **Nachbemerkung** | ||
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+ | Die vorstehenden Texte gehen noch einmal auf Punkte ein, die bei der Kritik des psychologischen Wissenschaftsbetriebs von Bedeutung sind. Außerdem werfen sie weiter gehende Fragen auf. Die Auseinandersetzung mit den – tiefenpsychologischen oder behavioristischen – Koryphäen deterministischer Seelen-Konstruktion erschöpft ja nicht das Problemfeld, | ||
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+ | Diese „Medikalisierung“ einer gesellschaftlichen Notlage, die Erklärung des „erschöpften Selbst“ (Ehrenberg 2008) zum Patienten, ist selber ein kritikwürdiger Sachverhalt, | ||
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+ | Krölls ist in seinem Buch ebenfalls darauf eingegangen, | ||
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+ | Solche Selbstdestruktionen sind übrigens im modernen Wissenschaftsbetrieb nicht anstößig; hier wird von Kollegen keine unhaltbare Polemik entdeckt. Logischerweise, | ||
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+ | Ein großer Teil von Zanders Würdigung widmet sich der Biographie des Wissenschaftlers (Mitglied der „Gesellschaft für das Neue Russland“, | ||
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+ | Dabei wäre Wallons schulpsychologische Aufgabenstellung, | ||
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+ | Zanders Fazit lautet (ebd.): „Insgesamt fällt die Bilanz vorerst zwiespältig aus: Einerseits war Wallon ein progressiver und vielseitiger Intellektueller, | ||
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+ | Texte marxistischer Wissenschaftskritik finden sich im Netz übrigens unter: http:// | ||
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+ | **Literatur** | ||
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+ | * Birgit von Criegern, Bitte wenig erwarten – Cool sein heißt angepaßt sein: Wie die Psychologie sich die Gesellschaft schön denkt. In: Junge Welt, 4. 1. 2007. | ||
+ | * Peter Decker, Die Psychologie – Sachzwänge des Subjektseins. Auszug aus: P.D., Die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften. Online: http:// | ||
+ | * Renate Dillmann, Depression (Rez. zu Jurk 2008). In: Erwachsenenbildung, | ||
+ | * Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst – Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt/ | ||
+ | * Mark Galliker, Ist die Psychologie eine Wissenschaft? | ||
+ | * IVA-Redaktion, | ||
+ | * IVA-Redaktion, | ||
+ | * Charlotte Jurk, Der niedergeschlagene Mensch. Depression – Geschichte und gesellschaftliche Bedeutung einer Diagnose. Münster 2008. | ||
+ | * Ursula Koch-Laugwitz/ | ||
+ | * Albert Krölls, Kritik der Psychologie – Das moderne Opium des Volkes. (Erstausgabe 2006) 3., akt. und erw. Aufl., Hamburg 2016. | ||
+ | * Alfred Schmidt, Vorwort zum Reprint der Zeitschrift für Sozialforschung. München 1970. | ||
+ | * Lucien Sève, Marxismus und Theorie der Persönlichkeit. Frankfurt/ | ||
+ | * Lucien Sève, Die Welt ändern – das Leben ändern. Neuausgabe des Klassikers „Marxismus und Theorie der Persönlichkeit“, | ||
+ | * Michael Zander, Prominenter Unbekannter – Porträt. Vor 135 Jahren wurde der marxistische Entwicklungspsychologe Henri Wallon geboren. In: Junge Welt, 14. Juni 2014. | ||
+ | * Michael Zander, Unhaltbare Polemik – Neuauflage von Albert Krölls’ „Kritik der Psychologie“ im VSA-Verlag erschienen. In: Junge Welt, 6. Juni 2016. | ||
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+ | ==== TTIP: Zerwürfnis in der Freihandelskumpanei ==== | ||
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+ | Am Samstag, dem 17. September 2016, findet in Köln eine der sieben regionalen Demonstrationen gegen TTIP, die „Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft“, | ||
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+ | In sieben deutschen Städten demonstriert am Samstag, dem 17. September 2016, ein breites Anti-TTIP-Bündnis gegen die von der EU projektierte „Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft“, | ||
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+ | Außerdem wird Gegeninformation am Donnerstag, dem 22. September, in Köln im Bürgerzentrum Alte Feuerwache (Clubraum, Melchiorstraße 3, 50670 Köln, Nähe Ebertplatz, Beginn: 20 Uhr) eine Diskussionsveranstaltung zum Thema TTIP & CETA durchführen (nähere Informationen unter: http:// | ||
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+ | **Streit um TTIP in Zeiten globaler Krisenkonkurrenz: | ||
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+ | Teilen deutsche Wirtschaftspolitiker, | ||
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+ | Haben französische und deutsche Staatsleute nun Bedenken gegen TTIP wegen Verschlechterungen bei den Schutzstandards für lohnabhängig Beschäftigte – obwohl der französische Staat die nationale Krise gerade mit einem Großangriff auf die soziale Lage der arbeitenden wie arbeitslosen Franzosen bekämpft und deutsche Politiker solche radikalen „Spar-“ und „Reformprogramme“ sowieso seit Jahr und Tag für ganz Europa fordern? Wer soll das glauben! | ||
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+ | Wenn jetzt führende Politiker in Europa und den USA gegen TTIP wettern, dann kalkulieren sie anders, als sie es bisher getan haben. Der Standpunkt, von dem aus sie kalkulieren und an dem sich jeder Protest von unten noch stets die Zähne ausgebissen hat, ist aber ein und derselbe. | ||
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+ | Es ist der überall regierende Standpunkt, dass die nationalen Kapitale wachsen müssen – unbedingt. TTIP sollte dafür die Wunderwaffe sein: mehr Kapitalwachstum durch mehr grenzüberschreitende Freiheit beim Handeln und Investieren! Darum ist TTIP ehrlicherweise noch nie damit angepriesen worden, mit ihm würden Löhne und Gehälter steigen, überhaupt die Lebensverhältnisse der Menschen angenehmer oder sauberer – darum ging es ja auch nie. Immer war klar, dass mehr Kapitalfreiheit vor allem mehr Konkurrenz zwischen den Firmen bedeutet, die dafür ihr Personal auf wachsende Leistung zu sinkenden Kosten trimmen; und mehr Konkurrenz zwischen den Staaten, die ihren Völkern per Dauer-„Reformen“ Druck aufs nationale Lohnniveau bescheren. Weil und solange diese Standortpolitiker entfesselte Konkurrenz mit mehr transatlantischem Wachstum gleichsetzten, | ||
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+ | Wegen der weltweiten Wachstumskrise des Kapitals zweifelt dieser politische Standpunkt mittlerweile am nationalen Nutzen der TTIP-Kooperation mit den transatlantischen Konkurrenten. Mehr transatlantisch vereinbarte Kapitalfreiheit erscheint vielen der früher Freihandels-begeisterten Politiker jetzt nicht mehr als das Mittel für mehr Wachstum. Ihre unversöhnlichen Positionen im Streit um TTIP machen deutlich, dass das mit dem Projekt von beiden anvisierte Wachstum für ihre nationalen Kapitale nicht als Anteil an einem transatlantischen Gesamtwachstum zu haben ist, sondern nur noch durch das Wegnehmen und die nationale Monopolisierung von Geschäftsgelegenheiten, | ||
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+ | West- und ostatlantische Führer sind entschlossen, | ||
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+ | Ihre Völker ermuntern die Mächtigen nach Kräften dazu, ihnen die Daumen dafür zu drücken, dass sie sich in diesem Kampf durchsetzen – in einem Kampf, für den die Leute, so oder so, ausschließlich in der Rolle der möglichst billigen Manövriermasse verplant sind. | ||
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+ | ==== Der nationale Aufbruch der AfD ==== | ||
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+ | <WRAP center round box 90%> | ||
+ | „Auch Deutschland hat jetzt eine Partei, die antritt, um Staat und Volk zu retten“, resümiert die neue Ausgabe der Politischen Vierteljahreszeitschrift Gegenstandpunkt (3/16) in ihrer Analyse der Rechtspartei AfD. Dazu eine Information der IVA-Redaktion. | ||
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+ | „Den regierenden Parteien und der gesamten Presse gilt die AfD als irrationaler, | ||
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+ | Die Analyse widmet sich detailliert, | ||
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+ | **Rettung von Staat und Volk** | ||
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+ | Decker und Co. gliedern ihren Text in zwei Hauptteile. Erstens geht es um die von rechts inkriminierte regierungsamtliche Linie, die die staatliche Handlungsfreiheit, | ||
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+ | Der Text weist nach, dass linke und andere Interpretationen, | ||
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+ | Der zweite Teil befasst sich mit dem komplementären Vorwurf, die Merkel-Regierung zerstöre das deutsche Volk. Rechtes Sorgeobjekt ist nicht dessen soziale Situation, sondern die nationale Identität. Die AfD will einen Kulturkampf zu deren Erhaltung führen, indem sie gegen die von oben verordnete Toleranz gegenüber Fremden, gegen die Zerstörung der deutschen Leitkultur durch Multikulti, gegen die Aufweichung der Familie und deren Ersetzung durch ein Programm von Gender Mainstreaming, | ||
+ | |||
+ | Auch hier resümiert die GS-Analyse als Kern des Programms die rechte Bezugnahme auf den starken, in seiner Handlungsfreiheit unbehinderten Staat: „Nationale Identität ist nicht nur ohne Ausgrenzung nicht zu haben, sie besteht überhaupt nur darin: Außer der Scheidung zwischen denen, die – letztlich aufgrund gesetzlicher Richtlinien – dazugehören, | ||
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+ | Das macht die GS-Analyse auch in einem letzten Schritt deutlich. Sie verweist auf die Gemeinsamkeit, | ||
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+ | |||
+ | |||
+ | **Extremismus, | ||
+ | |||
+ | Der GS-Beitrag betont gerade mit seinen Schlussüberlegungen noch einmal die Wucht, die in dem – nach der Berliner Wahl vom 18. September wieder bestätigten – Aufschwung der neuen Partei steckt. Der nationale Aufbruch, der damit in und für Deutschland zu verzeichnen ist, lässt sich nicht als vorübergehende Proteststimmung, | ||
+ | |||
+ | Seit bald 70 Jahren demokratischer Politik kennt die Bundesrepublik die Notwendigkeit, | ||
+ | |||
+ | Das Ganze müsste eigentlich zu einem Schluss führen: „Die demokratische Form der Verwaltung einer kapitalistisch verfassten und weltweit erfolgreichen Ökonomie bringt regelmäßig (neue) Faschismen hervor.“ (Huisken 2012, 10) Das sieht die offizielle Politik aber ganz anders. Der „Extremismus“ von rechts, der nur die Variante einer Grundhaltung sein soll, die sich ebenso in linker oder islamistischer Form äußert, ist für sie eine Bedrohung, die der freiheitlichen Ordnung und offenen Gesellschaft als pure Gegenbewegung entgegentritt. Dabei konstatiert jetzt auch die Bundesregierung in ihrer neuen Strategie zur Extremismusprävention und Demokratieförderung, | ||
+ | |||
+ | Mit der jetzt verabschiedeten Strategie hat sich die Regierung auch die Ergebnisse der neueren Sozialforschung à la Heitmeyer zu eigen gemacht: „Die Bundesregierung verurteilt jegliche menschenfeindlichen Handlungen und Ideologien. Sie tritt dabei unterschiedlichen Formen von Extremismus sowie gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit entschieden entgegen. // | ||
+ | |||
+ | Die Sozialforschung wendet sich teilweise gegen einen solchen Extremismusbegriff, | ||
+ | |||
+ | Auch wird darüber diskutiert, ob sich der Populismusbegriff zur Erfassung des neuen nationalen Aufbruchs eignet oder ob er nicht „den analytischen Zugang mehr behindert, als dass er zur Aufklärung beiträgt“, | ||
+ | |||
+ | Wenn man schon bei Ressentiments und Affekten als den entscheidenden Bestimmungsgrößen ist, kann man das auch ins (Sozial- bzw. Tiefen-)Psychologische verlängern. Götz Eisenberg sieht hier den autoritären Charakter der Ewig-Gestrigen am Werk. „Die bittere Wahrheit, die wir zur Kenntnis nehmen müssen, lautet: Unter einem dünnen Firnis angepassten Verhaltens existiert ein bedrohliches, | ||
+ | |||
+ | Man kann aber auch vor einem Missbrauch oder einem Missverständnis der Demokratie warnen, die von den Bürgern gewissermaßen zu ernst genommen werde. Thomas Krüger, der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, teilt in einem Interview (General-Anzeiger, | ||
+ | |||
+ | Die Abwehr der rechten Gefahr soll also – den verbindlichen Ansagen, aber auch linken Einlassungen zufolge – auf die Wiederherstellung eines klaren Bekenntnisses zum eingerichteten System der repräsentativen Demokratie zielen. Dass sich der Aufstieg der AfD auf der Grundlage eines internationalen Konkurrenzkampfes vollzieht, den sich Standortnationalisten mit ihren demokratisch-parlamentarisch verfassten Gemeinwesen liefern, und von daher seine Wucht erhält, kommt bei solchen Anforderungen nicht in den Blick. Dabei zeigen gerade die Programmpunkte der AfD – wenn man sie unvoreingenommen nimmt und nicht als maskiertes faschistisches Programm –, dass es sich um lauter Sorgethemen handelt, die die anderen Parteien ebenso auf der Agenda haben. Vom Euro über die Wehrpflicht bis zur Anerkennung der Homo-Ehe kennen die etablierten Parteien (und nicht nur die CSU), auch wenn sie sich für einen modernen, weltoffenen, | ||
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+ | **Literatur** | ||
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+ | * Joachim Bischoff/ | ||
+ | * Peter Decker (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Peter Decker (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Die Bundesregierung, | ||
+ | * Klaus Dörre, Fremde – Feinde. Der neue Rechtspopulismus deutet die soziale Frage in einen Verteilungskampf um. Thesen über Pegida, AfD und darüber, wie der wachsende Zuspruch für sie zustande kommt. In: Junge Welt, 27.6.2016, S. 12-13. | ||
+ | * Götz Eisenberg, Zum Verhältnis von Angst und Demokratie – Über Rechtsextremismus, | ||
+ | * Didier Eribon, Wie aus Linken Rechte werden – Der vermeidbare Aufstieg des Front National. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 8, 2016, S. 55-63. | ||
+ | * Alexander Häusler/ | ||
+ | * Freerk Huisken, Der demokratische Schoß ist fruchtbar… Das Elend der Kritik am (Neo-)Faschismus. Hamburg 2012. | ||
+ | * Alexandra Kurth/ | ||
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+ | ==== Zur Kritik der Inklusion ==== | ||
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+ | <WRAP center round box 90%> | ||
+ | Behinderung im Kapitalismus und das Leitbild der Inklusion war das Thema einer IVA-Veranstaltung in Köln. Im Folgenden ein Kurzbericht der IVA-Redaktion. | ||
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+ | Die IVA-Initiative führte Anfang September 2016 in Köln im Bürgerzentrum Alte Feuerwache eine Vortrags- und Diskussionsveranstaltung zum Thema „Behinderung im Kapitalismus und das Leitbild der Inklusion“ durch. Referent war Prof. Matthias Schnath (Bochum), von dem früher ein Fachbeitrag auf dem IVA-Blog erschienen war. Im Folgenden gibt die IVA-Redaktion einen Überblick über die Thesen des Referenten und die einschlägigen Diskussions- bzw. Streitpunkte. | ||
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+ | **Behinderung im Kapitalismus und das Leitbild der Inklusion** | ||
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+ | Für die moderne Wissenschaft ist Inklusion – anders als für Menschen mit Behinderung, | ||
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+ | Wenn man die demokratisch geregelte kapitalistische Konkurrenz als einen Ort des Zusammenlebens betrachtet, der immer wieder die – offene – Frage aufwirft, wie er gestaltet werden soll, dann kann man natürlich munter Modelle der Integration, | ||
+ | Dagegen hier in Thesenform die Position des Referenten. | ||
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+ | **Vier Thesen** | ||
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+ | Seit der UN-Behindertenrechtskonvention ist es in der Bundesrepublik üblich, den sozialpolitischen Idealen Selbstbestimmung und Teilhabe in der Behindertenpolitik das der Inklusion zur Seite zu stellen; praktisch wahr geworden ist es in der Öffnung der Regelschulen für Schüler mit Behinderungen, | ||
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+ | 1. Dabei ist fraglos bejaht, dass „die Gesellschaft“, | ||
+ | |||
+ | 2. Genauso ist deswegen fraglos klar, dass Menschen mit Behinderungen – ebenso wie Familien – ohne sozialstaatliche Hilfen nicht über die Runden kommen. Die bisherige Behindertenpolitik hat sich dem im Wesentlichen „fürsorglich“ gewidmet – also herablassend; | ||
+ | |||
+ | 3. Damit ist klar gestellt, wie Inklusion in der sozialstaatlich betreuten Konkurrenzgesellschaft zu verstehen ist: Teilhabe ist Pflicht zur selbstbestimmt-individuellen Bewährung an deren Anforderungen – und dabei und darin haben alle Anspruch auf Anerkennung. Die Schulpolitik erhebt das zum allgemeinen Leitbild, wenn sie in das selektive, fundamental leistungsorientierte Ausbildungswesen den Gesichtspunkt von Diversity einführt: Der Zwang zur Konkurrenz wird ergänzt um das verlogene Ideal der respektvollen Gemeinschaft ganz unterschiedlicher Individuen. | ||
+ | |||
+ | 4. Inklusion ist also eine Modernisierung des staatsbürgerlichen Bekenntnis zum Kapitalismus, | ||
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+ | **Ein Diskussionsüberblick** | ||
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+ | **A. Einleitung** | ||
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+ | Betroffenheit gibt es bei dem Thema in vielerlei Hinsicht – von der Debatte um das Bundesteilhabegesetz bis zu den Varianten der schulpolitischen Inklusion, die sich auf Länderebene finden. Gerade in Nordrhein-Westfalen wurden zu Beginn des neuen Schuljahrs im September 2016 vielfach Klagen und Beschwerden laut, die Praxis der Inklusion sei ein hartes Brot, die Implementierung des Programms katastrophal und es bestünde die Gefahr, dass das ganze Vorhaben „gegen die Wand fahre“ (VBE, GEW etc.). Bei der Debatte im Schulausschuss des NRW-Landtags am 7. September 2016 äußerten Bildungsgewerkschaften und Fachverbände weit gehend übereinstimmend eine solche Kritik („Bei der Umsetzung in Stich gelassen“, | ||
+ | In der Diskussion der IVA-Veranstaltung ging es darum, als Erstes zu solchen Betroffenheiten Distanz einzunehmen, | ||
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+ | **B. Der Ausgangspunkt** | ||
+ | |||
+ | Die ökonomische Logik der Lebenslage Behinderung ist – analog zur Situation der Familie – durch die Notwendigkeit bestimmt, dass der Einzelne sich seinen Lebensunterhalt verdienen muss, auch wenn er auf Grund seiner speziellen Beeinträchtigungen und Belastungen, | ||
+ | Damit ist klar, dass die Bewältigung dieser Lebenslage ohne sozialstaatliche Hilfen unmöglich ist. Die bundesdeutsche Sozialpolitik zeichnet sich dadurch aus, die Hilfen so auszugestalten, | ||
+ | |||
+ | |||
+ | **C. Die Rechtslogik der sozialstaatlichen Betreuung der Lebenslage Behinderung** | ||
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+ | 1. Die Gerechtigkeit der Freiheit = Eigenverantwortung in Erwerbsarbeit und Familie. | ||
+ | 2. Die Ermöglichung solcher Gerechtigkeit: | ||
+ | 3. Insbesondere Bundesteilhabegesetz. | ||
+ | Auflösung: ambulant – stationär, Verbesserung: | ||
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+ | |||
+ | **D. Behinderung im öffentlichen Raum - insbesondere Inklusive Schule** | ||
+ | |||
+ | „Hilfen“ nach Maßgabe von „Leitbildern“: | ||
+ | Politisch betreuter Sittenwandel: | ||
+ | Überhöhung der Eigenverantwortung zur Selbstverwirklichung, | ||
+ | Achtung: Inklusion! Gemeinschaft statt Gemeinsamkeit – Macht und Ohnmacht eines Ideals. | ||
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+ | // | ||
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+ | **Literatur** | ||
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+ | * Becker, Uwe: Die Inklusionslüge – Behinderung im flexiblen Kapitalismus. 2015. | ||
+ | * Cechura, Suitbert: Inklusion – die Gleichbehandlung Ungleicher. 2015. | ||
+ | * Hagen, Beate: Ankündigung zum 80. Deutschen Fürsorgetag, | ||
+ | * Marx, Karl: Zur Judenfrage, in: Marx-Engels-Werke, | ||
+ | * Möller, Kurt: Gesellschaftliche Kohäsion als Herausforderung für die politische Bildung, in: Journal für politische Bildung, Nr. 4, 2012, S. 8-17. | ||
+ | * Schnath, Matthias: Menschen mit Behinderungen: | ||
+ | * Wohlfahrt, Norbert: Vom „Klassenkompromiss“ zur widerspruchslosen Staatsbürgergesellschaft? | ||
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+ | **Kontakt zum Autor** | ||
+ | E-Mail: schnath@efh-bochum.de | ||
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+ | ===== August 2016 ===== | ||
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+ | ==== Amok, Antiterrorpaket und Ursachenforschung ==== | ||
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+ | <WRAP center round box 90%> | ||
+ | Nach den blutigen Anschlägen in Frankreich und Deutschland vom Sommer dieses Jahres beschäftigte sich der IVA-Blog am 25. Juli mit dem Thema Amoklauf. Dazu ein Nachtrag von Johannes Schillo. | ||
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+ | Nach dem Münchner Amoklauf vom Juli 2016 gab es kritische Pressestimmen, | ||
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+ | Im Blick auf mögliche Amok-Taten gab es lediglich einen Vorschlag de Maizières, nämlich die „Idee, die Schweigepflicht von Ärzten künftig so zu interpretieren, | ||
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+ | Zu dieser Art und Weise, Katastrophenfälle zu verrätseln und aus dem Normalbetrieb der marktwirtschaftlichen Konkurrenzordnung auszugrenzen, | ||
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+ | **Vom freien Tod** | ||
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+ | |„Stirb zur rechten Zeit: also lehrt es Zarathustra… Den vollbringenden Tod zeige ich euch, der den Lebenden ein Stachel und ein Gelöbnis wird. Seinen Tod stirbt der Vollbringende, | ||
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+ | |||
+ | „Gestörte Einzeltäter“ hat der Psychologe Götz Eisenberg einen aktuellen Essay in der Jungen Welt überschrieben – und dem freilich ein Fragezeichen hinzugefügt, | ||
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+ | Eisenberg liefert zudem viele Beispiele aus den USA und aus Deutschland, | ||
+ | Die Schlussfolgerung, | ||
+ | |||
+ | Eisenberg will mit seinem Essay darauf hinaus, dass heute, in der entfesselten neoliberalen Konkurrenz solche Handlungsmuster als Modell denen zur Verfügung stehen, die wie der alte Haudegen Aias, aber natürlich auf Grund ganz anderer Motiv- und Zwangslagen einen Rachefeldzug planen. In Richtung kultureller Muster Nachforschungen anzustellen, | ||
+ | |||
+ | Eisenberg formuliert das „Modell Amok“, das der jugendliche Gewalttäter beherzigt, folgendermaßen: | ||
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+ | **Anerkennung, | ||
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+ | |„Athena: … sag: hast du dein Schwert schön tief ins Blut von Griechenkriegern eingetaucht? | ||
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+ | Der Einspruch Eisenbergs gegen die Psychiatrisierung und Individualisierung der Täter verstößt gegen den offiziellen Konsens der „Unerklärbarkeit“, | ||
+ | |||
+ | Für die Mainstream-Psychiatrie hat der US-Autor Peter Langman (2009) die These von den „kranken Hirnen“ verbindlich gemacht – und dessen Buch „Amok im Kopf“ fanden ja kurioser Weise Kriminalbeamte, | ||
+ | |||
+ | Das ist ein schlechter Witz. Jugend hat keine freischwebende Existenz, sondern ist im Kapitalismus gesellschaftlich bestimmt, nämlich als Ressource für den Standort, der mangels Rohstoffvorkommen, | ||
+ | |||
+ | Und genau dieser Punkt des Übergangs ist bei Huisken ausführlich Thema – im Unterschied zu anderen Kritikern des modernen Schulbetriebs. Huisken betrachtet Amokläufer nicht einfach als Opfer des schulischen Selektionsprozesses, | ||
+ | |||
+ | Creydt macht den entgegengesetzten Fehler. Er stellt sich dumm, so als könnte man aus den Taten des Amokläufers überhaupt keine Schlüsse auf die zu Grunde liegenden Überlegungen ziehen und als würden im Kopf eines solchen Menschen alle möglichen Probleme hausen. Dass der Erfurter Schüler Robert S. keine rechtlichen, | ||
+ | |||
+ | Von diesem Kaliber ist ein Großteil der zusammengesuchten Einwände Creydts. Im Weiteren kapriziert er sich dann darauf, die Kategorien von Anerkennung, | ||
+ | |||
+ | Creydts Fazit: „Was ‚Ehre‘ zu Beginn des dritten Jahrtausends in Deutschland heißt … und was ‚Rache‘ – all das wird von Huisken als bekannt unterstellt. Zu Erklärendes firmiert als Evidentes. Als handle es sich bei ‚Ehre‘ und ‚Rache‘ um unhistorische Universalien. Die subjektiven Entwicklungsschritte, | ||
+ | Das unterscheidet ihn, wie erwähnt, von anderen Autoren, die die gängige Auffassung der Konkurrenz übernehmen und damit schnell beim Verständnis für die schwierige Lage der neoliberalen Konkurrenzsubjekte landen. Die Publizistin und Schriftstellerin Ines Geipel, die mit ihrem Erfurt-Buch (2004) für einige Kontroversen sorgte, verfährt z.B. so. Die Amoktat wird von ihr als eine Art Überreaktion gedeutet, was sofort die Frage aufwirft, wie man dem Übermaß entgegenwirken kann. So forderte Geipel „in einem Radio-Interview nach dem Amoklauf in München ... dazu auf, sich Gedanken zu machen über mögliche Angebote und die Wieder-Einbindung der sich ‚auf der Suche nach Idealitität [?] befindenden‘ potentiellen Täter, die ‚Andocksysteme suchten, glauben, lieben wollten‘, ‚verlorene Söhne‘ seien, ‚Bezug zum symbolischen, | ||
+ | |||
+ | Leider geht auch der Schluss von Eisenbergs Essay in eine solche Richtung: „Die einzig denkbare Amok-Prävention wäre eine soziale. Wir müssten der Demontage des Sozialstaats Einhalt gebieten und Solidarität an die Stelle des entfesselten Konkurrenzkampfes setzen. Es gilt, gesellschaftliche Verhältnisse herzustellen, | ||
+ | |||
+ | |||
+ | **Literatur** | ||
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+ | * Meinhard Creydt, Der bürgerliche Materialismus und seine Gegenspieler – Interessenpolitik, | ||
+ | * Götz Eisenberg, Amok – Kinder der Kälte. Über die Wurzeln von Wut und Haß. Reinbek 2000. | ||
+ | * Götz Eisenberg, Damit mich kein Mensch mehr vergisst – Warum Amok und Gewalt kein Zufall sind. München 2010. | ||
+ | * Götz Eisenberg, Zwischen Amok und Alzheimer – Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus. Frankfurt/ | ||
+ | * Götz Eisenberg, „Gestörte Einzeltäter“? | ||
+ | * Ines Geipel, Für heute reicht' | ||
+ | * Ines Geipel, Der Amok-Komplex oder die Schule des Tötens. Stuttgart 2012. | ||
+ | * Wilhelm Heitmeyer, Jugendliche Massenmörder – Der doppelte Kontrollverlust. In: taz, 19.3.2009. | ||
+ | * Freerk Huisken, Jugendgewalt – Der Kult des Selbstbewusstseins und seine unerwünschten Früchtchen. Hamburg 1996. | ||
+ | * Freerk Huisken, z.B. Erfurt – Was das bürgerliche Bildungs- und Einbildungswesen so alles anrichtet. Hamburg 2002. | ||
+ | * Freerk Huisken, School shooting (Vortrag). 2009, online: https:// | ||
+ | * Peter Langman, Amok im Kopf – Warum Schüler töten. Mit einem Vorwort von Klaus Hurrelmann. Weinheim und Basel 2009. | ||
+ | * Friedrich Nietzsche, Vom freien Tode (1883). In: Also sprach Zarathustra, | ||
+ | * Sophokles, Aias. In: Sophokles, Werke, hg. von R. Schottländer, | ||
+ | * Arata Takeda, Ästhetik der Selbstzerstörung – Selbstmordattentäter in der abendländischen Literatur. München 2010. | ||
+ | * Hans-Peter Waldrich, In blinder Wut – Amoklauf und Schule. Köln 2007. | ||
+ | * Hans-Peter Waldrich, Tatort Schule. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 4, 2009. | ||
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+ | ===== Juli 2016 ===== | ||
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+ | ==== Mit Kritikern des (psychologischen) Determinismus diskutiert man nicht! ==== | ||
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+ | <WRAP center round box 90%> | ||
+ | 2016 ist die dritte Auflage von Albert Krölls' | ||
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+ | |||
+ | Zehn Jahre nach der erstmaligen Veröffentlichung seiner „Kritik der Psychologie – Das moderne Opium des Volkes“ legte Albert Krölls Ende März 2016 eine überarbeitete und erweiterte Neuausgabe vor, die den bereits in der zweiten Auflage von 2007 aufgenommenen Diskussionsteil sowie andere Kapitel um einige Punkte ergänzte (vgl. IVA-Redaktion 2016). Im Rahmen einer neuen Schlussbetrachtung erläutert Krölls dort z.B. – anknüpfend an den Untertitel vom modernen Opium – den Nutzwert, den die psychologische Weltanschauung für die kapitalistische Konkurrenzgesellschaft hat. Es gab zur Neuausgabe zustimmende Reaktionen (vgl. Wohlfahrt 2016), aber auch Widerspruch, | ||
+ | |||
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+ | **Unhaltbare Polemik (Michael Zander)** | ||
+ | |||
+ | Seit jeher stehen Marxisten der Psychologie skeptisch gegenüber. Sie halten das Fach nicht ganz zu Unrecht für sozialwissenschaftlich uninformiert, | ||
+ | |||
+ | All diese Kritiken sind unhaltbar. Psychologen interessieren sich sehr wohl für Handlungszwecke, | ||
+ | |||
+ | In weiteren Kapiteln polemisiert Krölls gegen Sigmund Freuds Psychoanalyse, | ||
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+ | |||
+ | **Im Namen der unheiligen Liaison von Marxismus-Leninismus und Psychologie: | ||
+ | |||
+ | Als Reaktion auf diese Veröffentlichung trat ich wenige Tage später an die Redaktion der Jungen Welt mit der Aufforderung heran, möglichst bald die im Folgenden abgedruckte Kurzstellungnahme zu dieser Rezension zu veröffentlichen; | ||
+ | |||
+ | |||
+ | **An die Redaktion der Jungen Welt** | ||
+ | |||
+ | Es mutet einigermaßen überraschend an, wenn eine für ihre faktengetreue Berichterstattung und faire politische Diskussionskultur bekannte linke Tageszeitung dem Abdruck einer Rezension Raum gibt, die in weiten Teilen auf der interessiert-zerrbildartigen Wiedergabe zentraler Aussagen des besprochenen Buches beruht. Die einem unbefangenen Leser unmittelbar ins Auge fallenden massiven Fehlinformationen des Rezensenten zum Inhalt des Buches bedürfen der Richtigstellung. Ich gehe deshalb davon aus, dass die Redaktion die im Anhang (siehe den folgenden Text) übersandte Entgegnung zeitnah veröffentlichen wird. Sollte darüber hinaus die Bereitschaft bestehen, mir Gelegenheit zu einer vertieften Stellungnahme zur Rezension von Herrn Zander zu geben, würde ich dies natürlich sehr begrüßen. Darüber hinaus würde ich auch für ein öffentliches Streitgespräch mit dem Redakteur Ihrer Zeitung zur Verfügung stehen, auf Grund dessen sich der geneigte Leser selber ein Urteil bilden kann, wer sich in dieser Auseinandersetzung einer „haltlosen Polemik“ befleißigt. | ||
+ | |||
+ | Für den nicht auszuschließenden Fall, dass die Redaktion wegen der Länge des Beitrages Bedenken gegenüber einem Abdruck in der Printausgabe der JW haben sollte, spräche aus meiner Sicht nichts dagegen, die Replik lediglich in der Online-Ausgabe zu veröffentlichen. Ich verbleibe in Erwartung einer baldigen Rückantwort und mit freundlichen Grüßen, A.K. | ||
+ | |||
+ | **Anhang: Entgegnung auf die Rezension von Michael Zander** | ||
+ | |||
+ | Die über weite Strecken unzutreffende zerrbildartige Wiedergabe der Aussagen des Buches und die darauf basierenden Urteile des Rezensenten bedürfen der Korrektur: | ||
+ | |||
+ | **Zur Rolle von Handlungszwecken im Rahmen psychologischer Erklärungen: | ||
+ | |||
+ | So hält der Rezensent allen Ernstes dem Buchautor entgegen: „Psychologen interessieren sich sehr wohl für die Handlungszwecke, | ||
+ | |||
+ | „Psychologen haben eine eigentümliche Auffassung vom Willen. Wenn sie sich mit dem Willen beschäftigen, | ||
+ | |||
+ | |||
+ | **Zur Rolle der Korrelationsstatistik im Rahmen psychologischer Erklärungen: | ||
+ | |||
+ | Der Rezensent hält dem Buchautor entgegen: „Zudem wird in der Psychologie keineswegs umstandslos von Korrelation auf Kausalität geschlossen. (…) Diese Methode ist durch zahlreiche Probleme belastet, nur kommt kaum eines davon im Buch vor.“ Dazu findet sich im Buch folgende vom Rezensenten unterschlagene zentrale Aussage, die zugleich den methodisch-problematisierten (umständlichen) Weg aufspießt, auf dem die empirische Psychologie zielstrebig zum letztendlichen Ergebnis der Fiktion von (wahrscheinlichen) Wirkungszusammenhängen gelangt: | ||
+ | „Die Aussage, dass die empirisch-erfahrungswissenschaftlich orientierte Psychologie von Korrelationen auf die Existenz von Kausalzusammenhängen schließen würde, ist beinahe eine verharmlosende Charakterisierung. Ihren Fachvertretern ist natürlich durchaus bekannt, dass kein Ursache-Wirkungs-Verhältnis zwischen dem Storchenaufkommen und der Geburtenrate besteht. In voller Kenntnis des fundamentalen Unterschiedes zwischen Korrelation und Kausalität, | ||
+ | |||
+ | |||
+ | **Die Universalität des (psychologischen) Determinismus als Wahrheitsbeweis: | ||
+ | |||
+ | Aus der flächendeckenden Verbreitung eines solchen Erklärungsmodus nicht nur im Bereich der bürgerlichen Gesellschaftswissenschaften, | ||
+ | |||
+ | |||
+ | **Zur ungerechtfertigten Berufung auf Marx:** | ||
+ | |||
+ | Marx als Kronzeugen für den (psychologischen) Determinismus anzuführen, | ||
+ | „Der Marxismus vertritt doch bekanntlich die Auffassung, dass das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt. Wollen Sie denn ernsthaft behaupten, dass es überhaupt keinen Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Verhältnissen des Kapitalismus und dem Denken der (lohnabhängigen) Gesellschaftsmitglieder gibt?“ (Krölls 2016, 220) Die Antwort beginnt: „Nein, keineswegs. Es gibt schon einen Zusammenhang zwischen der kapitalistischen Realität und den Urteilen, welche die Subjekte über diese Verhältnisse im Kopfe haben. Nur handelt es sich dabei eben nicht um einen Determinationszusammenhang dergestalt, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse den Inhalt der Gedanken der Subjekte über den Kapitalismus erzeugen würden…“ (Ebd.) Weiter heißt es dort: „Es ist also weder notwendig noch vernünftig, | ||
+ | |||
+ | Zur hochgradigen Widersprüchlichkeit der von Zander verteidigten Kategorie eines „bedingten Willens“ – „Psychologen halten ‚Willen‘ und ‚Bewusstsein‘ mit Recht für Phänomene, die nicht aus sich selbst erklärt werden können“ – sei ergänzend verwiesen auf die Ausführungen im Diskussionsteil des Buches („Freiheit oder Determination des Willens? – Eine grundlegend falsche Fragestellung“, | ||
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+ | |||
+ | **Zur Kategorie der „Geisteskrankheit“: | ||
+ | |||
+ | Es mag ja sein, dass der progressive Zweig der geisteswissenschaftlich orientierten Psychologie im Unterschied zur Abteilung der Psychiatrie beschlossen hat, keine wesentlichen Unterschiede mehr zwischen der Qualität der Geistesleistungen von Subjekten mit hirnorganischen Defekten und anderen krankhaften Störungen der Geistestätigkeit und den (verrückten) Verstandesleistungen von „Normalbürgern“ kennen zu wollen. Nur vermag dieser wohl weniger auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhende als von Überzeugungen der political correctness geleitete Paradigmenwechsel wohl kaum die inkriminierte Feststellung des Buches zu entkräften, | ||
+ | Die Untauglichkeit dieses Gegenargumentes tut dessen Produktivkraft als politmoralischem Diffamierungsinstrument freilich leider keinen Abbruch. Im Gegenteil: Mit dem Hinweis auf einen Verstoß gegen das von Zander im Namen des wissenschaftlichen Fortschrittes dekretierte Verbot der theoretischen Unterscheidung zwischen dem funktionsgestörten Geist und der Normalform des (bürgerlichen) Verstandes wird derjenige, der solche Kategorien wie die der „Verrücktheit“ verwendet, als Teilnehmer aus der Fachdebatte ausgeschlossen. Der lästigen Notwendigkeit einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Argumenten gegen den Determinismus als universellem Fehlerklärungsmodus einer Wissenschaft namens Psychologie sowie mit der im Buch ausgeführten Kritik an den psychologischen Theorievarianten von der Tiefenpsychologie bis zur Kritischen Psychologie hat sich der Rezensent auf diese Weise erfolgreich entledigt. Die argumentlose Verleihung des Generalnegativ-Etiketts der „unhaltbaren Polemik“ bildet die dazu passende Form der „Widerlegung“. | ||
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+ | Nachdem die Redaktion der Jungen Welt zunächst überhaupt nicht auf meine Zuschrift antwortete, wandte ich mich an den Chefredakteur und erhielt von diesem folgende Nachricht: | ||
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+ | „Ich habe nochmals über Ihre Einladung nachgedacht, | ||
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+ | Zu dieser Diskussionsabsage ist Folgendes festzuhalten: | ||
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+ | Die von Zander eingeschlagene Tour, Kritik geistig auf den Kritikgegenstand verpflichten zu wollen, ist wohlbekannt aus der Umgangsweise der Apologeten der bürgerlichen Gesellschaftsordnung mit der marxistischen Gesellschaftskritik, | ||
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+ | Was den im Buch angeschlagenen Tonfall und dessen Rhetorik in der Auseinandersetzung mit Kritikern der Aussagen der „Kritik der Psychologie“ betrifft, welche von Zander zur Begründung seiner Absage an eine öffentliche Diskussion bemüht werden, so wirkt eine derartige Aussage ausgerechnet aus dem Munde eines Autoren, der unter weitestgehendem Verzicht auf Argumente zur Sache mit dem Generalverdikt der „unhaltbaren Polemik“ operiert, schon ein wenig erstaunlich. Und warum schließlich sollte eine Diskussion ganz losgelöst vom Inhalt der widerstreitenden Positionen die Zweckbestimmung haben, eine Vereinbarkeit der Standpunkte zu stiften? Sollte es in einem wissenschaftlichen Streitgespräch nicht vielmehr ausschließlich um die Wahrheit über die Sache gehen? Dabei mag sich als Resultat der Auseinandersetzung aufgrund einer neu hergestellten Einigkeit in der Sache oder des Ausräumens möglicher Missverständnisse eine Übereinstimmung ergeben oder aber auch nicht. Wer dieses Postulat der Einigkeit oder Annäherung als a-priori-Kriterium an eine Debatte anlegt, verfehlt grundlegend Sinn und Zweck eines wissenschaftlichen Streitgespräches. Zumindest darüber herrschte jedenfalls zu früheren Zeiten einmal Einigkeit unter Marxisten, dass es jenseits aller persönlichen Befindlichkeiten um nichts als die Klärung der Sache geht. Es stellt sich nach alledem die (schon beinahe rhetorische) Frage, warum Zander der interessierten Öffentlichkeit partout die Möglichkeit verwehren will, sich auf Basis eines Streitgespräches zwischen den Kontrahenten ein eigenständiges Urteil über die Überzeugungskraft der gegenseitigen Argumente zu bilden. Warum will er umgekehrt die Gelegenheit nicht einfach nutzen, um einer größeren Zuhörerschaft die Unhaltbarkeit der „Kritik der Psychologie“ vor Augen zu führen?" | ||
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+ | **Nachbemerkung der IVA-Redaktion** | ||
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+ | Die IVA-Redaktion hält die inhaltliche Auseinandersetzung über die Aussagen des Buches von Albert Krölls für wichtig. Dazu hat sie auf dem IVA-Blog bereits die beiden erwähnten Texte publiziert (IVA-Redaktion 2016a, Schillo 2016); zudem ist auf dem Blog eine Information zum Thema Gesundheit und Krankheit im Kapitalismus erschienen (IVA-Redaktion 2016b), die auch auf das Thema „Geisteskrankheit“ als Diagnose von Psychiatrie und Psychopathologie eingeht und die die Position von Krölls dazu einbezieht. Da eine wünschenswerte Fortsetzung der Debatte im Rahmen der Jungen Welt in absehbarer Zeit wohl nicht zustande kommt, haben wir uns entschlossen, | ||
+ | |||
+ | Krölls hat darüber hinaus angekündigt, | ||
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+ | Für die Klärung solcher und anderer Einwände oder Nachfragen steht natürlich auch weiterhin die IVA-Website zur Verfügung. Voraussetzung für die Veröffentlichung von Diskussionsbeiträgen ist allerdings, das sie sich argumentativ auf die verhandelte Sache einlassen. Dazu noch ein Hinweis in eigener Sache: Zur ursprünglichen Buchinformation und dem Einspruch eines Kommentators, | ||
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+ | Georg beschwerte sich in seiner Replik u.a. über die Behandlung der Sinnfrage durch die IVA-Autoren. Der von ihm entdeckte „prinzipielle Unwillen, sich auf psychische Prozesse als Thema einzulassen“, | ||
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+ | Natürlich ist die Sinnfrage nicht pfäffisch, davon war im Text auch nicht die Rede, sondern von Creydts polemischem Fazit, dass der Horizont von Krölls und Co. in rationalistischer Manier durch den „Glauben an die Vernunft“ bestimmt, d.h. beschränkt sei. Die Sinnfrage ist topaktuell bei modernen Menschen, die sich von klerikaler Bevormundung frei gemacht haben. Die polemische Stoßrichtung von Krölls' | ||
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+ | Kommentatorin Jana war übrigens in diesem Zusammenhang auf die Ausbildungssituation von Psychotherapeuten, | ||
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+ | **Literatur** | ||
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+ | * Meinhard Creydt, Der bürgerliche Materialismus und seine Gegenspieler – Interessenpolitik, | ||
+ | * IVA-Redaktion, | ||
+ | * IVA-Redaktion, | ||
+ | * Albert Krölls, Der Wille in Psychologie, | ||
+ | * Albert Krölls, Kritik der Psychologie – Das moderne Opium des Volkes. (Erstausgabe 2006) 3., akt. und erw. Aufl., Hamburg 2016. | ||
+ | * Johannes Schillo, Creydt kritisiert Krölls? In: IVA-Blog, http:// | ||
+ | * Neg. Sohdorf, Sinn und Sittlichkeit. In: IVA-Blog, http:// | ||
+ | * Norbert Wohlfahrt, Rezension zu: Krölls, Kritik der Psychologie. In: Socialnet, https:// | ||
+ | * Michael Zander, Unhaltbare Polemik – Neuauflage von Albert Krölls’ „Kritik der Psychologie“ im VSA-Verlag erschienen. In: Junge Welt, 6. Juni 2016. | ||
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+ | ==== Betrifft: Amoklauf ==== | ||
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+ | <WRAP center round box 90%> | ||
+ | Seit den jüngsten Gewalttaten von Nizza, Würzburg oder München schwankt die Öffentlichkeit zwischen Terror-Panikattacken und der Beruhigung, dass es sich möglicher Weise „bloß“ um Amokläufe handelt. Dazu Literaturhinweise der IVA-Redaktion. | ||
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+ | „Es gibt Sachverhalte, | ||
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+ | All das ist jetzt nach den Münchner Ereignissen wieder da, nachdem die dortige Staatsanwaltschaft den 18-jährigen Schützen als „klassischen Amoktäter“ eingestuft hat. „In der Wohnung des jungen Mannes wurde nach Aussage de Maizières Material gefunden, das Verbindungen zum Amoklauf von Winnenden 2009 und zum Massenmord des Norwegers Anders Behring Breivik vor genau fünf Jahren vermuten lasse.“ (www.tagesschau.de, | ||
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+ | Und so blicken wir wieder, wie das Heute-Journal am 23. Juli 2016 meldete, in „die Abgründe der menschlichen Seele“. Es wird mitgeteilt, dass der 18-Jährige – „ein Opfertyp“, | ||
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+ | Wie die Tat des Münchner Jugendlichen im Einzelnen zu erklären ist und welche Rolle sie in der öffentlichen Debatte spielt, ist hier nicht Thema. Es geht im Folgenden nur darum, die von Huisken kenntlich gemachte Tour der Verrätselung näher unter die Lupe zu nehmen und einige Hinweise auf Vorkommnisse der letzten Jahre sowie auf einschlägige Erklärungsbemühungen zu geben. Denn auch wenn die jetzigen Verbindungen mit Terrorgefahr, | ||
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+ | **Unfassbar? | ||
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+ | Gerade das Buch des US-amerikanischen Psychiaters Langman – dessen sich der Münchner Täter kurioser Weise als Anleitung bedient haben soll – stellte nach diversen Aufklärungsleistungen über das schulische Gewaltproblem einen Rückschritt zur ‚Unfassbarkeits‘- und ‚Unerklärlichkeits‘-Pose dar. Diese Pose ist in der Öffentlichkeit bei den einschlägigen Gewalttaten üblich, sie gipfelt nach der Benennung der „Risikofaktoren“ Computerspiele, | ||
+ | |||
+ | Huisken hat in zahlreichen Publikationen seit den 1990er Jahren eine solche Verbindung zum Arbeitsplatz Schule und zu den sonstigen Konkurrenzbemühungen Jugendlicher wie (junger) Erwachsener untersucht (vgl. das Literaturverzeichnis), | ||
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+ | Man landet also beim deterministischen Paradigma, das die auf den Seelenapparat einwirkenden Kräfte zum ausschlaggebenden Punkt macht. Albert Krölls hat sich dieses Paradigma, wie auf dem IVA-Blog schon mehrfach thematisiert, | ||
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+ | Ein zentrales Argument beim Psychiatrisieren und Ausgrenzen der Tat aus dem Normalzusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft zielt dagegen auf die Unmöglichkeit, | ||
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+ | So stellt sich die Praxis sehr verständnisvoll auf die Gefahr ein, begutachtet also die Normalverhältnisse, | ||
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+ | Seinerzeit, beim ersten großen Schul-Amoklauf in Erfurt, hatte der Bundespräsident richtiggehend die Losung der Unerklärbarkeit ausgegeben. Dazu hieß es in einem Gegenstandpunkt-Artikel: | ||
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+ | Die aktuellen Fälle „nach Nizza“ – Würzburg, München, jetzt Ansbach... – sind natürlich mit solchen Hinweisen nicht geklärt. Auch zeigt sich die öffentliche Debatte zur Zeit an anderen Zusammenhängen interessiert, | ||
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+ | **Literatur** | ||
+ | |||
+ | * Peter Decker (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Peter Decker (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Götz Eisenberg, Damit mich kein Mensch mehr vergisst – Warum Amok und Gewalt kein Zufall sind. München 2010. | ||
+ | * Ines Geipel, Für heute reicht' | ||
+ | * Karl Held (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Karl Held (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Freerk Huisken, Jugendgewalt – Der Kult des Selbstbewusstseins und seine unerwünschten Früchtchen. Hamburg 1996. | ||
+ | * Freerk Huisken, z.B. Erfurt – Was das bürgerliche Bildungs- und Einbildungswesen so alles anrichtet. Hamburg 2002. | ||
+ | * Freerk Huisken, „Ein unauffälliger Schüler mit ganz normalen Mitschülern, | ||
+ | * Freerk Huisken, Über die Unregierbarkeit des Schulvolks – Rütli-Schulen, | ||
+ | * Freerk Huisken, Zum Amoklauf von Winnenden: Die Schule ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. 2009a. Online: www.fhuisken.de/ | ||
+ | * Freerk Huisken, School shooting (Vortrag). 2009b, online: https:// | ||
+ | * Freerk Huisken, Der Dopppelanschlag von Oslo: „Ist’s Wahnsinn auch, so hat es doch Methode.“ 2011. Online: www.fhuisken.de/ | ||
+ | * Freerk Huisken, Was hat das Waffenrecht mit Amokläufen zu tun? Ein Schulmassaker in Newtown und schon tobt in den USA eine Debatte über das Recht der Amerikaner auf private Bewaffnung. Gegenrede 26. In: Auswege-Magazin, | ||
+ | * Albert Krölls, Kritik der Psychologie – Das moderne Opium des Volkes. (Erstausgabe 2006) 3., akt. und erw. Aufl., Hamburg 2016. | ||
+ | * Peter Langman, Amok im Kopf – Warum Schüler töten. Mit einem Vorwort von Klaus Hurrelmann. Weinheim und Basel 2009. | ||
+ | * Markus Mohr, Wann lacht ein Killer? Über NSU, „fragmentierte Körper“ und Ideologie. Ein Gespräch mit Klaus Theweleit. In: Junge Welt, 11. November 2015. | ||
+ | * Christian Pfeiffer/ | ||
+ | * Kay Sokolowsky, Rauch über Aurora – Über den Amoklauf als Negation jeder Ratio. In: Konkret, Nr. 9, 2012a. | ||
+ | * Kay Sokolowsky, Spaßmacher und Totmacher. In: http:// | ||
+ | * Klaus Theweleit, Das Lachen der Täter: Breivik u.a. – Psychogramm der Tötungslust. St. Pölten 2015. | ||
+ | * Hans-Peter Waldrich, In blinder Wut – Amoklauf und Schule. Köln 2007. | ||
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+ | ==== Nationalismus „im Aufwind“ ==== | ||
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+ | <WRAP center round box )0%> | ||
+ | Ausländerfeindlichkeit und ausgrenzender Nationalismus sind in der „Mitte der Gesellschaft“ angekommen – so lautet ein weit gehend übereinstimmender Befund der Sozialwissenschaften. Dazu ein Kommentar von Johannes Schillo. | ||
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+ | „Es ist unbestreitbar: | ||
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+ | In der Sozialwissenschaft, | ||
+ | |||
+ | Zugleich hat die Sozialforschung ihre eigenen, internen Schwierigkeiten bei der Befassung mit dem Thema Nationalismus. Im Folgenden wird daher ein (Rück-)Blick auf einschlägige Auseinandersetzungen und Probleme geworfen. Dies kann dazu dienen, den aktuellen Schwierigkeiten, | ||
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+ | **Wie messen?** | ||
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+ | Das aufwändigste Forschungsprojekt aus dem Bereich Rassismus/ | ||
+ | |||
+ | 2012 zog die Projektleitung für den gesamten Untersuchungszeitraum Bilanz und berichtete zusammenfassend über die Entwicklung menschenfeindlicher Einstellungen. Auch hier wurde bestätigt, dass sich eine mehrheitsfähige Volksstimmung zur Ausgrenzung von Ausländern herausgebildet habe. „Die Gesellschaft ist vergiftet“, | ||
+ | |||
+ | Diese Interpretationen sollen hier nicht weiter Thema sein, es geht vielmehr darum, die spezielle Art der Datenerfassung unter die Lupe zu nehmen. Die Konstruktion des GMF-Syndroms und die Auswertung der Befragung werfen nämlich einige Probleme auf. Das betrifft einmal die theoretische Ebene, etwa die Aufspaltung der rassistischen Grundhaltung in viele Einzelrassismen, | ||
+ | |||
+ | Zum andern führt die Aufbereitung des empirischen Materials zu Deutungsproblemen. Ein Beispiel: Die aus dem rassistischen Weltbild bekannte Ausgrenzung von Volksschädlingen und Kostgängern, | ||
+ | |||
+ | Das Problem der empirischen Forschungspraxis noch einmal von einer anderen Seite her beleuchtet: Was wird eigentlich zur nationalen Einstellung abgefragt? Dazu hat Klaus Ahlheim eine aktuelle Bilanz vorgelegt (Ahlheim 2016). Ahlheim hat selber empirisches Material zu Ausländerfeindlichkeit oder „Nation und Exklusion“ (Ahlheim/ | ||
+ | |||
+ | Ahlheim hat diese Forschungen in seiner neuen Publikation noch einmal resümiert (Ahlheim 2016) und festgehalten, | ||
+ | |||
+ | Ahlheim hat aber auch Probleme des Forschungsprozesses offen gelegt. Wie er bereits 2005 in einem Aufsatz berichtete, geht nämlich die Gemeinde der Rechtsextremismusforscher mit der Zeit. Seit der im Auftrag des Bundeskanzleramtes erstellten Sinus-Studie von Ende der 1970er Jahre war z.B. das Item ‚Ich bin stolz auf Deutschland‘ fester Bestandteil der Fragebögen. Hieran machte man – in Kombination mit anderen Punkten – fest, ob eine nationalistische Einstellung vorliegt, die dann grundsätzlich dem rechtsradikalen Lager zugeordnet wurde. In dem Maße, wie sich die Zustimmungswerte für dieses Item vor allem seit der „Wende“ erhöhten, wurde den Empirikern ihr Vorgehen aber zweifelhaft. „Inzwischen ist die Frage nach dem Stolz, Deutscher bzw. Deutsche zu sein, aus den Rechtsextremismus-Fragebogen der meisten ForscherInnen verschwunden, | ||
+ | |||
+ | Auch bei Decker u.a. wird mittlerweile mit der Kategorie „Chauvinismus“ gearbeitet. Alarmierend genug waren freilich laut Ahlheim die Ergebnisse, die Stöss u.a. im April 2003 in einer großen repräsentativen Stichprobe mit dem neuen Fragebogen ermittelten. Hier forderten 41 Prozent der Befragten, wir „sollten endlich wieder Mut zu einem starken Nationalgefühl haben“, 44 Prozent teilten die Position, „was unser Land heute braucht, ist ein hartes und energisches Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland“ und 45 Prozent meinten, es sollte das „oberste Ziel der deutschen Politik“ sein, „Deutschland die Macht und Geltung zu verschaffen, | ||
+ | |||
+ | Es ist schon eine elegante Lösung (die allerdings nach Auskünften aus der Forschergemeinde nicht von allen Beteiligten praktiziert wird): Je mehr sich nationalistische Urteile ausbreiten und – auch nach offizieller politischer Ansage – zur Normalität gehören, desto vorsichtiger wird der jeweilige Forscher, wenn er ausgrenzenden, | ||
+ | |||
+ | Die These von der zu beobachtenden Deradikalisierung, | ||
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+ | **Wie erklären? | ||
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+ | Das Problem, das sich hier zeigt, ist nicht Messgenauigkeit oder -zuverlässigkeit, | ||
+ | |||
+ | Ahlheim hatte als Ergebnis seiner Untersuchung 2008 festgehalten, | ||
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+ | Oder die neue Lage wird sozialwissenschaftlich so aufgenommen, | ||
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+ | Die Stärkung der nationalen Macht ist das Programm. Es wird aber grundfalsch, | ||
+ | |||
+ | Erst auf Basis dieses Konsenses kommt es zum Streit – und die Gemeinsamkeit wird auch durch die Tatsache dokumentiert, | ||
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+ | Die Differenzen, | ||
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+ | **Literatur** | ||
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+ | * Klaus Ahlheim, Das Ausmaß ist auch eine Frage der Messung – Eine Glosse aus Anlass neuerer Erhebungen zum Rechtsextremismus. In: Praxis Politische Bildung, Nr. 4, 2005, S. 275–278. | ||
+ | * Klaus Ahlheim/ | ||
+ | * Klaus Ahlheim, Kritik der Nation und politische Bildung. In: Horst Adam (Hrsg.), Kritische Pädagogik. Fragen – Versuch von Antworten. Band 3, Berlin 2016, S. 29-48. | ||
+ | * Oliver Decker/ | ||
+ | * Klaus Dörre, Fremde – Feinde. Der neue Rechtspopulismus deutet die soziale Frage in einen Verteilungskampf um. Thesen über Pegida, AfD und darüber, wie der wachsende Zuspruch für sie zustande kommt. In: Junge Welt, 27.6.2016, S. 12-13. | ||
+ | * Alexander Häusler/ | ||
+ | * Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände – Folge 1 - 10. Frankfurt/ | ||
+ | * Freerk Huisken, Der demokratische Schoß ist fruchtbar… Das Elend der Kritik am (Neo-)Faschismus. Hamburg 2012. | ||
+ | * Freerk Huisken, Abgehauen – Eingelagert aufgefischt durchsortiert abgewehrt eingebaut. Neue deutsche Flüchtlingspolitik. Eine Flugschrift. Hamburg 2016a. | ||
+ | * Freerk Huisken, Thesen zur Veranstaltung: | ||
+ | * KeinOrt, Die Linke beschwert sich über den AfD-Erfolg: Dürfen Arbeiter und Arbeitslose AfD wählen? Online: KeinOrt – Kommentare aus dem Niemandsland, | ||
+ | * Armin Pfahl-Traughber, | ||
+ | * Karl-Siegbert Rehberg/ | ||
+ | * Samuel Salzborn, Rechtsextremismus – Erscheinungsformen und Erklärungsansätze. 2., akt. u. erw. Auflage, Baden-Baden 2015. | ||
+ | * Peter Schadt, „Abgehauen… Neue deutsche Flüchtlingspolitik“ – Ein Interview mit Freerk Huisken zu seinem neuen Buch und zur derzeitigen Flüchtlingspolitik. In: Auswege-Magazin, | ||
+ | * Ralf Schröder, Heim und Suchung – Bedrohtes Volk: Eine Studie dokumentiert, | ||
+ | * Michael Schilling, Kosmodeppen. In: Konkret, Nr. 8, 2016, S. 10-11. | ||
+ | * Richard Stöss/ | ||
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+ | ===== Juni 2016 ===== | ||
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+ | ==== Gesundheit und Krankheit im Kapitalismus ==== | ||
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+ | <WRAP center round box 90%> | ||
+ | Anfang Juni 2016 ist im Gegenstandpunkt-Verlag das Buch „Gesundheit – ein Gut und sein Preis“ von Sabine Predehl und Rolf Röhrig erschienen (siehe IVA-Startseite). Dazu eine Information der IVA-Redaktion. | ||
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+ | Am 7. Juni 2016 ist im Gegenstandpunkt-Verlag (Homepage: http:// | ||
+ | |||
+ | Im Vorwort des Buchs heißt es: „Wer heutzutage krank ist, der ist nicht mehr einem kaum beherrschten und noch weniger begriffenen Naturprozess ausgeliefert. Theoretisch ist schon ganz gut erforscht und wird mit großem Aufwand und einigem Erfolg weiter erforscht, was da abläuft im geschädigten Organismus. Und in der Praxis ist, in den meisten Ländern jedenfalls, die Versorgung von Kranken ziemlich flächendeckend organisiert. Der Staat kümmert sich um beides, um die medizinische Wissenschaft wie um ein effektives Gesundheitswesen.“ (Predehl/ | ||
+ | |||
+ | Demgemäß beginnt das in drei Teile gegliederte Buch mit den „modernen Volksseuchen“, | ||
+ | |||
+ | Der zweite Teil widmet sich den „großartigen Leistungen des Medizinbetriebs“. Es geht im ersten Schritt um die „theoretischen Glanzleistungen“ der medizinischen Wissenschaft – was nicht ironisch gemeint ist, wie man, angesichts des verbreiteten Misstrauens gegenüber der „Schulmedizin“, | ||
+ | |||
+ | Der dritte Teil trägt die Überschrift „Gesundheit als Ware“. Hier werden zwei Punkte abgehandelt, | ||
+ | |||
+ | Das Buch will also nicht – das muss man vielleicht eigens vermerken – alternative Möglichkeiten aufweisen, wie man sich jenseits des herrschenden Betriebs und seiner Verlängerung in allgemein verbreitete Fitness- oder Wellness-Programme um die eigene Gesundheit kümmern kann. Es gehört definitiv nicht zur Ratgeber-Literatur, | ||
+ | |||
+ | Dieser Hinweis ist auch deshalb angebracht, weil sich hartnäckig das Gerücht hält, in marxistischen Analysen würden speziell die psychischen Leiden der modernen Werktätigen – wie der ' | ||
+ | |||
+ | Aber sei's drum. Anscheinend ist es nicht ganz überflüssig, | ||
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+ | **Die Leiden der Seele** | ||
+ | |||
+ | Diese Störungen sind, wie oben skizziert, in dem Buch ein eigenes Thema. Zunächst werden sie im ersten Teil als ein Fall der „modernen Volksseuchen“ aufgeführt, | ||
+ | |||
+ | Die Kritik am modernen Gesundheitswesen beginnt hier damit, dass seine Leistung aufs Korn genommen wird, angesichts der gewussten Ursachen dann doch im Einzelfall, mit dem es die klinische Praxis zu tun hat, nach lauter Risikofaktoren zu suchen – von genetischen Bedingungen bis zu Freizeitaktivitäten –, die für Ausbruch oder Verschlimmerung der Leiden oder für das Nicht-mehr-Aushaltenkönnen der Belastungen verantwortlich sein können. Denn, so der Pseudo-Beweis, | ||
+ | Nachdem dieser grundsätzliche Fehler abgehandelt ist, geht der zweite Teil über die Leistungen der heutigen Medizin in einem ersten Schritt detailliert den Erkenntnissen der Psychiatrie und Psychotherapie nach. Zur allgemeinen Charakterisierung der Krankheitsgenese heißt es einleitend: „Es ist eine Anstrengung eigener Art, die Anforderungen der Konkurrenzgesellschaft an der Stelle, an die es einen verschlagen hat, nicht bloß auszuhalten, | ||
+ | |||
+ | Diese Zuständigkeitserklärung kritisieren Predehl/ | ||
+ | |||
+ | Im zweiten Schritt ist dann die praktische Betreuung seelischer Leiden das Thema. „Wo der Hausarzt bei der ' | ||
+ | |||
+ | Zu den Verfahren, die dabei zum Zuge kommen, heißt es im Text resümierend: | ||
+ | |||
+ | Diese Hinweise belegen, dass von einer marxistischen Ignoranz gegenüber dem seelischen Leiden der modernen Menschheit keine Rede sein kann. Es verhält sich eher umgekehrt: Die als Teil des Gesundheitssystems institutionalisierte Psychopathologie bzw. Psychiatrie zeigt ihre Anteilnahme am Leiden des Patienten dadurch, dass sie es auf eine Stufe mit physischen Funktionsstörungen stellt, es also gar nicht als geistige Leistung ernst nimmt, sondern in dieser Hinsicht ignoriert. Unter dem Ideal einer raschen Behandlung, die das Leiden des Patienten abkürzt, soll etwa mit einer systematischen Desensibilisierung die Störanfälligkeit weg- oder mit einem entsprechenden Psychopharmakon ein zufriedenstellender Zustand hinmanipuliert werden. Die Gleichsetzung mit physischer Krankheit – die für den krank-, d.h. arbeitsunfähig geschriebenen Patienten natürlich eine entlastende Funktion hat – bedeutet eine grundlegende ideologische Umdeutung, sofern nicht der spezielle Sachverhalt einer hirnorganischen Störung gemeint ist. Ein Terminus wie „Geisteskrankheit“ verbietet sich daher zur allgemeinen Kennzeichnung seelischer Leiden. Michael Zander hat übrigens seine Kritik an Krölls' | ||
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+ | **Literatur** | ||
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+ | * Carl Cederström/ | ||
+ | * Meinhard Creydt, Der bürgerliche Materialismus und seine Gegenspieler – Interessenpolitik, | ||
+ | * Peter Decker (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Karl Held (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Karl Held (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Karl Held (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Karl Held (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Karl Held (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Karl Held (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Albert Krölls, Kritik der Psychologie – Das moderne Opium des Volkes. 3., akt. und erw. Aufl., Hamburg 2016. | ||
+ | * MG – Marxistischen Gruppe, Die Psychologie des bürgerlichen Individuums. München 1981 (4. Auflage 1990). | ||
+ | * Michael Zander, Unhaltbare Polemik – Neuauflage von Albert Krölls’ „Kritik der Psychologie“ im VSA-Verlag erschienen. In: Junge Welt, 6.6. 2016. | ||
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+ | ==== Betrifft: Industrie 4.0 ==== | ||
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+ | <WRAP center round box 90%> | ||
+ | Experten erwarten von der Verbreitung digitaler Technologien eine neue industrielle Revolution – „disruptive soziale und ökonomische Folgen“ inklusive. Was es mit dem Schlagwort „Industrie 4.0“ auf sich hat, analysiert die neue Ausgabe der Zeitschrift Gegenstandpunkt. Dazu eine Information der IVA-Redaktion. | ||
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+ | „Industrie 4.0“ lautet ein aktuelles Schlagwort, das eine neue, nach der Dampfmaschine, | ||
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+ | Experten gehen angesichts der zunehmenden Verbreitung digitaler Technologien davon aus, „dass sich mit ihnen geradezu disruptive soziale und ökonomische Folgen verbinden... dass ein neues Niveau produktionstechnologischer Entwicklung erreicht sei, dessen zentrale Merkmale die Verknüpfung der virtuellen mit der realen Welt durch ' | ||
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+ | **Ökonomie und Politik** | ||
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+ | „Unter dem Titel ' | ||
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+ | Diese Notwendigkeit, | ||
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+ | Die Einsparung von bezahlter Arbeit durch den Einsatz von Robotern oder ähnliche Maßnahmen, die fortschreitende Automatisierung, | ||
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+ | Die jetzige Innovation, die unter dem Stichwort Digitalisierung läuft, hat ihre Besonderheit. Sie führt erstens zu einer „neuen, folgenreichen Form der Kooperation zwischen kapitalistischen Konkurrenten. Zwischen Industrieunternehmen und Zulieferern bzw. Abnehmern, aber auch zwischen Betrieben, die im Prinzip das Gleiche herstellen, entstehen ' | ||
+ | |||
+ | In einem weiteren Schritt geht daher der erste Teil, der aber im Rahmen der ökonomischen Praktiken verbleibt, auf die Widersprüche und Probleme ein, die sich kapitalistische Konkurrenten mit ihrer „Revolution“ einhandeln, d.h. auf den Widerspruch zwischen der Vernetzung, die über Unternehmensgrenzen hinweggeht, und ihrem Zweck, der ausschließenden Verfügung über den mit ihr angepeilten Ertrag (ebd., 30ff), sowie auf das Problem, das konkurrierende Kapitale mit der Verschmelzung von IT und Industrie haben (ebd., 36ff). Was mit „Industrie 4.0“ in die Wege geleitet wird, ist ein Umbau von Unternehmen und Standorten, und zwar nicht im technischen Sinne, sondern in politökonomischer Hinsicht. Der Widerspruch, | ||
+ | |||
+ | Sowohl mit der rechtlichen Regelung von Standardisierungen und Datensicherheit als auch mit den neuen Konkurrenzoffensiven, | ||
+ | |||
+ | Wie Deutschland diesen Kampf auszufechten gedenkt und was es dafür in die Wege geleitet hat, ist Gegenstand des zweiten Teils des GS-Artikels: | ||
+ | |||
+ | Diesen beiden Teilen schließt sich ein dritter und letzter Teil an, der die Überschrift „Die Arbeitswelt 4.0“ trägt. Er geht zurück zum Ausgangspunkt der ganzen Überlegungen, | ||
+ | |||
+ | |||
+ | **Die Welt der Arbeit** | ||
+ | |||
+ | Mit dieser Analyse, ihrer Gliederung und ihren Schlüssen liegt der Gegenstandpunkt quer dazu, wie normale Weise die Problematisierung von „Industrie 4.0“ geht. Der genannte Autor Marcus Schwarzbach, | ||
+ | Über die zukünftige Rolle von computergestützten Assistenzsystemen – bleibt hier der „Mensch das Maß aller Dinge“ oder werden leicht austauschbare, | ||
+ | |||
+ | Das ist gar nicht so weit entfernt von der Position des arbeitgebernahen Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA), dessen Autoren ebenfalls von einer offenen Entwicklung sprechen, wobei jedoch schon eine ganze Menge feststehen soll. Auf Grund bisheriger Studien sei es halbwegs sicher, dass das Arbeitsvolumen in der Industrie insgesamt nicht abnehme, d.h., dass Jobverlust an der einen Stelle anderswo kompensiert werde. Was natürlich, wie man weiß, von der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung abhängt. „Allerdings finden sich gleichwohl Hinweise auf einen Rückgang von Arbeitsvolumen und Lohnniveau für Beschäftigte mit geringer bis mittlerer Qualifikation.“ (Rinne/ | ||
+ | |||
+ | Auch die Problematisierungen, | ||
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+ | „Auffällig ist“, schreibt eine Sozialhistorikerin, | ||
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+ | **Literatur** | ||
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+ | * Andreas Boes u.a., Digitalisierung und „Wissensarbeit“: | ||
+ | * Tanja Carstensen, Ambivalenzen digitaler Kommunikation am Arbeitsplatz. In: APuZ – Aus Politik und Zeitgeschichte, | ||
+ | * Peter Decker (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Martina Heßler, Zur Persistenz der Argumente im Automatisierungsdiskurs. In: APuZ – Aus Politik und Zeitgeschichte, | ||
+ | * Hartmut Hirsch-Kreinsen, | ||
+ | * Bernd Riexinger, Für eine demokratische Zukunftswirtschaft – Überlegungen zu einer linken digitalen Agenda. In: Marxistische Blätter, Nr. 3, 2016, S. 60-67. | ||
+ | * Ulf Rinne/Klaus F. Zimmermann, Die digitale Arbeitswelt von heute und morgen. In: APuZ – Aus Politik und Zeitgeschichte, | ||
+ | * Marcus Schwarzbach, | ||
+ | * Marcus Schwarzbach, | ||
+ | * Marcus Schwarzbach, | ||
+ | * Philipp Staab/ | ||
+ | * Margaret Wirth/ | ||
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+ | ==== Die Macht der Moral ==== | ||
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+ | <WRAP center round box 90%> | ||
+ | 2015 ist von Georg Loidolt ein Abriss zur Kritik der Moralphilosophie erschienen. Dem ist jetzt der Band „Begehrte Dogmen und ihre unerwünschte Widerlegung“ gefolgt. Dazu ein Text des Autors. | ||
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+ | 2015 ist von Georg Loidolt ein Abriss zur Kritik der Moralphilosophie „Ewig lockt die Bestie“ (Loidolt 2015) erschienen. Eine philosophische Begründung der Moral ist natürlich ein Luxus, den sich der Normalbürger in den seltensten Fällen leistet: Er schätzt einfach die Sittlichkeit und weiß aus seinem Daseinskampf im marktwirtschaftlichen Betrieb, dass es ohne sie nicht ginge. Dabei kann er sich, wenn er dazu aufgelegt ist, auch Rückendeckung bei einem berühmten deutschen Philosophen, | ||
+ | |||
+ | Loidolt hat solche und ähnliche Nachfragen an die großartige philosophische Tradition, der man sonst mit Respekt begegnet, gestellt. Das Thema spielt jetzt auch eine Rolle in seiner neuen Veröffentlichung „Begehrte Dogmen und ihre unerwünschte Widerlegung“ (2016; nähere Informationen zu den Publikationen finden sich unter: http:// | ||
+ | |||
+ | |||
+ | |||
+ | **Macht der Moral** | ||
+ | |||
+ | Ein Egoist und Materialist zu sein, gilt in der bürgerlichen Gesellschaft als Vorwurf. Zunächst hält sie es für ihr Gütezeichen, | ||
+ | |||
+ | Immer Rücksicht auf andere zu nehmen und nicht selbstsüchtig und eigennützig die anderen je nach Bedarf als Mittel zu gebrauchen und auch wieder fallen zu lassen, lautet die Grundregel der Moral. Die Formel dazu hat Kant aufgestellt, | ||
+ | |||
+ | Die Gegensätze, | ||
+ | |||
+ | Soll man deswegen nun darüber klagen, dass die Moral nicht jene Entsagung bewirkt, die Höffe gerne von ihr hätte, dass sie vielmehr sogar zur Bemäntelung von Interessen statt zu deren Einschränkung taugt? Oder sollte man nicht besser zur Kenntnis nehmen, dass jeder die moralische Mäßigung immer nur bei anderen vermisst, während er diese allein sich als Verdienst zuspricht? Weil jeder sich selbst für ein Wunder an Selbstlosigkeit und Rücksichtnahme hält, leitet er daraus umgekehrt das moralische Recht ab, jene in die Schranken zu weisen, denen es seiner Auffassung nach an dieser beispielhaften Selbstlosigkeit mangelt. So setzt jeder seine Interessen mit dem moralischen Rechtsbewusstsein durch, dass damit zugleich ein unmoralisches Subjekt die ihm gebührende Quittung erhalte. Für dieses Selbstbewusstsein der Rechtschaffenheit und diese Selbstdarstellung ist Moral allerdings gut und dies stellt auch keinen Missbrauch derselben dar. In diesem Sinne hat ja auch Nietzsche festgestellt, | ||
+ | |||
+ | Nietzsche und Hegel haben den Nachweis erbracht, dass es gar keinen Missbrauch von Moral geben kann. Vielmehr kann nahezu jede Handlung gleichermaßen als Verstoß gegen moralische Prinzipien wie als deren Verwirklichung dargestellt werden. Jede Gewalt kann als gerechte Bestrafung eines bösen Menschen, der diese verdient hat, behauptet werden, so unglaubwürdig das auch in einzelnen Fällen erscheinen mag. Solche unglaubwürdigen Fälle bestehen in Züchtigungen „unfolgsamer“ Kinder, die ohnehin von Kindesmissbrauch kaum zu unterscheiden sind, wobei der Anspruch auf bedingungslosen Gehorsam bereits einen Akt der Gewalt darstellt. Für Gewalt, die nicht bloß der Notwehr dient, gibt es ohnehin kein Argument und man muss sich daher fragen, wie ein Erwachsener in die Lage kommen soll, einem Kind gegenüber Notwehr anwenden zu müssen. Dennoch sind ertappte Übeltäter um moralische Selbstdarstellungen hier selten verlegen. So hat auch der berüchtigte Josef Fritzl, der seine Tochter im Keller seines Hauses in Amstetten 24 Jahre lang gefangen hielt, seine Fürsorge als eines der Motive seines Handelns ausgegeben, sodass man schon beinahe geneigt gewesen wäre, von einem tragischen Fall von Überbehütung zu sprechen. | ||
+ | |||
+ | Die Verdienste Hegels und Nietzsches um die Kritik der Moral habe ich ja bereits ausführlich in meinem Buch „Ewig lockt die Bestie“ (Loidolt 2015) vorgestellt, | ||
+ | |||
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+ | **Literatur** | ||
+ | |||
+ | * Otfried Höffe: Ethik – Eine Einführung. München 2013. | ||
+ | * Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kant-Werke (hg. von W. Weischedel), | ||
+ | * Georg Loidolt, Ewig lockt die Bestie – Eine Kritik der Moralphilosophie. Wien 2015. | ||
+ | * Georg Loidolt, Begehrte Dogmen und ihre unerwünschte Widerlegung. Wien 2016. | ||
+ | * MG – Marxistische Gruppe, Immanuel Kant – Königsberger Klöpse. (Reihe Kritik bürgerlicher Wissenschaft) München 1990, online: http:// | ||
+ | * Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, | ||
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+ | **Internet** | ||
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+ | * Die Adresse der Website von Georg Loidolt lautet: http:// | ||
+ | * Weitere Texte zur Kritik der (Moral-)Philosophie finden sich unter: http:// | ||
+ | * Von Peter Decker gibt es jetzt eine technisch verbesserte Version des Vortrags-Mitschnitts „Die Moral – Das gute Gewissen der Klassengesellschaft“ (2005). Die Gesamtaufnahme steht als Download unter http:// | ||
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+ | ==== Sinn und Sittlichkeit ==== | ||
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+ | „Die Fragestellung nach dem Sinn des Lebens ist offenbar nur dem Menschen zu eigen.“ (Wikipedia) Das kann man nicht bestreiten. Ob man sich die Frage aber stellen muss, schon. Dazu ein Statement von Neg. Sohdorf. | ||
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+ | Dass Religionen sowie Sinnsuche und -stiftung aller Art nach der wissenschaftlichen „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) und der weitgehenden technischen Beherrschung der Natur nicht abgestorben sind, sondern weiterhin, zunehmend auch öffentlich in der bürgerlichen Gesellschaft grassieren, verweist auf den Tatbestand, dass dort ein entsprechendes individuelles und gesellschaftliches Bedürfnis verankert ist. Vom Studenten oder Unternehmer über den Berufsphilosophen bis hin zum Ministerpräsidenten und Papst sind sich alle einig in der Wertschätzung von Sinn: | ||
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+ | * Ein 24 Jahre alter Student: „The meaning of life is about spreading my genes.“ (Süddeutsche Zeitung, 11.10. 2004) | ||
+ | * „Wir beobachten eine zunehmende Suche nach Sinn und Werten nach Jahren der Säkularisierung“. (Carel Halff, Geschäftsführer der Verlagsgruppe Weltbild, Westdeutsche Zeitung, 29.4. 2005) | ||
+ | * Für den Philosophen Nicolai Hartmann ist die Sinnfrage die „vielleicht lebensmächtigste Frage“: „Die Ablehnung einer sinnwidrigen Welt darf vielleicht überhaupt als stärkste Triebfeder der Metaphysik gelten.“ (Historisches Wörterbuch der Philosophie 1995, 822) | ||
+ | * Peer Steinbrück, | ||
+ | * Benedikt XVI. alias Joseph Ratzinger formulierte seine Wertschätzung der Sinnfrage so: „Der Sinn ist das Brot, wovon der Mensch im Eigentlichen seines Menschseins besteht. Ohne das Wort, ohne den Sinn, ohne die Liebe kommt er in die Situation des Nicht-mehr-leben-könnens, | ||
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+ | Warum das so ist und welche unterschiedlichen Gründe der Wertschätzung im Einzelnen vorliegen, soll im Folgenden geklärt werden. Dabei kann man allgemein festhalten: Sinnsuche und erfolgreiche Sinnfindung erfüllen – so die vorweggenommene Schlussfolgerung der Überlegungen – den Tatbestand des Selbstbetrugs. Der enthält folgenden Widerspruch: | ||
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+ | **Jeder kommt zu dem Seinen?** | ||
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+ | Zur Beantwortung der Frage nach der andauernden Sinnsuche und -stiftung ist ein Blick auf die Lebensweise der Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft angebracht. Sie werden in eine Gesellschaft mit einer vergleichsweise fix und fertigen Ordnung geboren, sie genießen Grundrechte, | ||
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+ | Mit dem Recht auf Freiheit anerkennt der bürgerliche Staat in gewisser Weise den freien Willen seiner Bürger, dem er zugleich Vorschriften macht. Er erkennt ihn als abstrakt freien Willen an – so wieder Hegel, der in seiner Rechtsphilosophie schreibt: „Der abstrakte Begriff der Idee des Willens ist überhaupt der freie Wille, der den freien Willen will.“ (Hegel 1970, 79). Unter Absehung von allen weiteren Bestimmungen des Willens erlaubt der Staat das Wollen und Handeln seiner Bürger unter der Bedingung, dass sie dabei das von ihm gesetzte Recht akzeptieren. Damit macht sich der Staat zur Existenzbedingung des sich frei betätigenden Willens. Es gilt der Wille mit seinen Zwecken, soweit sie erlaubt sind; er gilt nicht, wenn sie unerlaubt sind – Verfolgung und Bestrafung sind hier die Konsequenz. Anders gesagt: In der bürgerlichen Gesellschaft betätigen die Bürger ihre anerkannte Freiheit, indem sie sich gehorsam ans Recht halten. | ||
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+ | Die Hauptauflage, | ||
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+ | Die unter den bürgerlichen Rechtsprinzipien von Freiheit, Gleichheit und Eigentum lebenden Bürger verfolgen – so wie ihre jeweiligen Mittel und das Gesetz es erlauben – ihre materiellen Interessen, d.h., sie versuchen, an Geld als das allgemeine und anerkannte Zugriffsmittel auf Reichtum aller Art heranzukommen, | ||
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+ | Auf der einen Seite gibt es also Eigentümer, | ||
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+ | Die eine Seite bietet Arbeitsplätze, | ||
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+ | Praktisch geht das so: Die Klasse der Eigentümer stellt Arbeitsplätze zur Verfügung, was sie sich als besondere Dienstleistung an der Klasse der Arbeit Suchenden hoch anrechnen lässt. Kriterium der Einrichtung von Arbeitsplätzen ist die Spekulation auf Gewinn. Ob ein Suchender einen solchen Platz findet und somit an einen Lohn kommt, hängt ganz von den Kalkulationen der so genannten Arbeitgeberseite ab. Entscheidend dafür ist der zu erwartende Gewinn, also die Differenz zwischen dem vom Arbeitgeber geleisteten Vorschuss zur Finanzierung der Warenproduktion und dem durch Verkauf der Waren auf dem Markt erzielten Überschuss in Geld. Wird der zu erwartende oder realisierte Gewinn für zu gering befunden oder bleibt er ganz aus, werden erst gar keine Arbeitsplätze eingerichtet, | ||
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+ | Da der Gewinn das entscheidende Maß ist, kommt andauernd alles auf den Prüfstand, was zu seiner Erzielung verausgabt wird. Kosten für Grund und Boden, Maschinerie, | ||
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+ | Im Resultat und Durchschnitt wird die Klasse der Eigentümer immer reicher und die der abhängig Beschäftigten oder Eigentumslosen tritt im besten Fall auf der Stelle bzw. wird im Verhältnis zum produzierten gesellschaftlichen Reichtum immer ärmer. Arbeitnehmer bzw. ihre verschiedenen Anwälte beklagen das als ungerecht und wenden sich an den Staat. Von ihm fordern sie mehr Verteilungs- und Chancengerechtigkeit und halten dabei unbeirrt (und relativ unbelehrbar) am Lohnsystem und Eigentum fest. Warum ist das so? Dazu im Folgenden einige Hinweise. | ||
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+ | **Vom Materialismus zum höheren Streben** | ||
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+ | Ausgangspunkt der Überlegung war das Freiheitsgebot des Staates, der damit jedem Untertanen, also auch dem lohnabhängigen, | ||
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+ | Für moderne Arbeitnehmer ist der gerechte Lohn für ein gerechtes Tagewerk die Leitlinie. Demgemäß machen sie sich per Ausbildung und Lebensführung zurecht, halten sich für ihren Dienst bereit und sehen im Lohn das Mittel, das – eigentlich – dafür taugen muss, einen gerechten Anteil am großen „Kuchen“ des produzierten gesellschaftlichen Reichtums zu erlangen. Sich dienstbar zu machen unter Inkaufnahme des eigenen Schadens – früher einmal in bestimmten Kreisen ganz selbstverständlich Ausbeutung genannt –, ist also in der bürgerlichen Gesellschaft so organisiert, | ||
+ | Indem beide Klassen ihre von Staatsseite erlaubten und anerkannten Interessen betätigen und bei deren Verfolgung notwendiger Weise in Widerspruch zueinander wie untereinander geraten, brauchen sie zur Klärung solcher Widersprüche das Recht und die Gewalt des Staates – darüber hinaus aber auch fürs Gelingen des großen Ganzen eine dazugehörige Moral: Alle sollen sich ans Sittengesetz halten, damit die Gegensätze befriedet werden und die Rechnungen aufgehen. Wer in der Sittlichkeit lebt und ihr gemäß seine subjektive Freiheit betätigt, anerkennt die allgemein gültigen Prinzipien, die in einer Gesellschaft herrschen, als eine höhere Notwendigkeit. Wenn er in Übereinstimmung mit Recht und Moral handelt, zollt ihm die Gesellschaft ihrerseits dafür Anerkennung. Welche materiellen Resultate damit abgesegnet werden, wurde oben ausgeführt. | ||
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+ | Bei der am Recht und der dazu passenden Moral orientierten Verfolgung der eigenen Interessen und Zwecke im Reich der Freiheit – auf dem Markt – kommt es regelmäßig für die Mitglieder beider Klassen, jedoch ganz augenscheinlich viel häufiger und systembedingt für die der Eigentumslosen, | ||
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+ | Die geistigen Anstrengungen, | ||
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+ | Die Vielfalt der Sichtweisen und Meinungen – Eigentum und sein Schutz sind ein Segen; Leistung lohnt sich; Misserfolg liegt an mangelnder Leistungsbereitschaft oder fehlender Fähigkeit; ohne Moos nichts los; Ausländer raus, Deutschland den Deutschen… – hat einen gemeinsamen Nenner, sie trägt dazu bei, am Willen zur gelebten Sittlichkeit festzuhalten. Sie hilft, unsachliche Erklärungen für das Scheitern oder Nichtaufgehen der eigenen Zwecke aufrecht zu halten. Die Konsequenzen mögen unterschiedlich sein. Man stürzt sich womöglich in falsche (nationalistische, | ||
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+ | Weil die Resultate des tagtäglichen Einsatzes enttäuschend und unbefriedigend sind, verlangen die Betroffenen nach einem Weiß-warum und finden es in der Regel auch im vorhandenen Sinnangebot, | ||
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+ | Die Sinnsucher werden auch relativ leicht fündig, denn es ist ziemlich einfach, einen Sinn im Leben zu finden. Das liegt nicht so sehr am umfangreichen und überzeugenden Sinnangebot, | ||
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+ | Nehmen wir das Erlebnis des Jobverlustes: | ||
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+ | Wie die Deutung der Sache oder des Erlebnisses geht, kann dem obigen Beispiel ebenfalls entnommen werden. Sie ist vom Inhalt her ziemlich willkürlich und hängt ganz vom Bedürfnis des Subjekts ab, das einen Sinn sucht. Da der Sinn und seine Zuweisung nicht zum Begriff der Sache oder des Erlebnisses gehören, sondern in die subjektive Freiheit des Sinnsuchers fallen, kann der Sinn alles Mögliche sein und x-beliebige Gestalt annehmen. In jedem Fall sorgt er für eine gewisse Art von geistiger Befriedigung. Dabei unterliegt der Sinn allerdings dem Vorbehalt, dass die in ihm gefundene Rechtfertigung nicht die Grundlage dafür abgeben darf, sich über die geltenden Rechtsverhältnisse zu erheben. Solange sie sich der bestehenden Rechtsordnung unterordnet und sie als Ganzes nicht infrage stellt, darf jede Art Sinnstiftung mit Toleranz rechnen. | ||
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+ | **Der Markt der Sinnstiftung und Lebensbewältigung** | ||
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+ | Es lassen sich mehrere große Abteilungen der Sinnsuche und Sinnfindung unterscheiden, | ||
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+ | * In den Kindern den Sinn des Lebens zu entdecken, ist meist, aber nicht nur bei Frauen verbreitet. Ihnen wird dabei von höherer Stelle Recht gegeben: „Kinder zu haben, ist nach Auffassung des Bundesfinanzhofs eine zentrale Sinngebung des Lebens.“ (Süddeutsche Zeitung, 27.11. 2015) Bei solchen Menschen dreht sich ihr ganzes Sinnen und Trachten um den (zahlenmäßig heutzutage meist spärlichen) Nachwuchs. Fast jede Härte des Alltags wird wegen der Kinder ertragen. Opfer werden gebracht und alles für den Erfolg des Nachwuchses getan. Ist dieser dann in Schule und Hochschule erfolgreich, | ||
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+ | * Die Zumutungen der Arbeitswoche nimmt der Fußballfan hin, weil am Wochenende seine Mannschaft wieder aufläuft, mit der er und seinesgleichen sich – trotz der oft gewaltigen Einkommensunterschiede zu den Fußballstars – identifizieren. Und das so sehr, dass sie bereit sind, mit ihrem Verein durch Dick und Dünn zu gehen. In Gesängen, Kleidung und Transparenten demonstrieren sie ein Höchstmaß an Identifikation und Vereinstreue, | ||
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+ | * Die Religion (vgl. Huisken 2008) ist eine zum System entwickelte und von einer Gemeinde gelebte Denkweise, die auf Glaubenssätzen beruht und deren rationale Überprüfung zurückgewiesen wird. Eine solche Prüfung gilt den Gläubigen als Hochmut und Eitelkeit gegenüber der undurchschaubaren Weisheit des höchsten Herrn. In der Religion wird die Welt verdoppelt in ein Diesseits, in dem wir leben und uns scheinbar frei gemäß den Regeln der Religion oder unabhängig von ihr betätigen, und eine jenseitige Welt, die sich der menschlichen Vorstellungskraft entzieht. Doch alles, was in der ersten Welt geschieht und so aussieht, als sei es zweckmäßiges Menschenwerk, | ||
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+ | * Die Gefolgschaft der Religionen und ihrer Kirchen ist zumindest in Deutschland ziemlich zurückgegangen (siehe www.Kirchenaustritt.de). Parallel dazu hat sich mit der Psychologisierung der Moral ein Kult des Selbstbewusstseins entwickelt, der zwar mit der demütigen Haltung des Gläubigen unvereinbar ist, im Resultat aber auch nichts anderes zustande bringt als Rechtfertigungswissen (vgl. Krölls 2016). Unterwirft sich der gläubige Wille bedingungslos dem Willen des Höchsten, verlangt die moderne psychologisierte Moral die unbedingte Anerkennung des Selbstbewusstseins. Diese Denkweise unterstellt die kapitalistischen Konkurrenzverhältnisse als die Sphäre, in der jeder zu dem Seinen kommen kann, wenn er sich nur redlich darum bemüht. Wer dieses Dogma teilt – warum das Erfolgsstreben nicht für alle aufgehen kann, wurde oben erklärt – und mit unbefriedigenden Resultaten zu kämpfen hat, verlangt nach Erklärung. Die diesbezüglichen Beiträge der religiösen Vereine sind zwar nicht von der Hitliste verschwunden, | ||
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+ | **Metaphysik – die Methodologie der Sinnsuche** | ||
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+ | Der Wille zum Sinn bestimmt nicht nur das Alltagsbewusstsein, | ||
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+ | Dabei ist das Bemerkenswerte an der Philosophie nicht einmal ihre Affirmation des alltäglichen Sinnbedürfnisses. Das macht sie nebenbei, sie gibt in ihrem Namen den Dummheiten des Alltagsbewusstseins recht. Sie pflegt vielmehr den Wahn einer Verantwortung für das große Ganze und inszeniert sich zur maßgeblichen Institution für den richtigen Umgang mit der Sinnfrage. Dabei fühlt sich die Metaphysik auch berufen, die Einzelwissenschaften zu kritisieren. „Während wissenschaftliche Erkenntnisse auf je einzelne Gegenstände gehen, (...) handelt es sich in der Philosophie um das Ganze des Seins, das den Menschen als Menschen angeht, um Wahrheit, die, wo sie aufleuchtet, | ||
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+ | Die Fragen und Themen der Metaphysik sind weit gefasst. „Als Gegenstände der Metaphysik gelten insbesondere: | ||
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+ | Die modernen Metaphysiker halten sich dagegen für die Garanten eines professionellen, | ||
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+ | Wie Metaphysik noch möglich ist, stellt das Hauptthema der Metaphysik seit Kant dar. Darauf hat es verschiedene Antworten gegeben, die jedoch letztlich gleichgültig sind – gemessen an der Tatsache, dass immer Metaphysik das Thema ist. Dass sie tausendfach kritisiert wurde und dennoch immer noch gefragt ist, wird als Beweis genommen, dass man als Mensch um Metaphysik nicht herumkommt. Indem die moderne Metaphysik-Apologie sich nicht die Mühe macht, das von ihr unbedingt anerkannte Faktum des Bedürfnisses nach Sinn rational zu erklären – und das wäre etwas anderes als die Überhöhung zum anthropologischen Faktum, wie sie seit Kant verbreitet ist, nämlich das Begreifen einer affirmativen Geisteshaltung zu einer als widersprüchlich erfahrenen Welt –, macht sie als eine moralisch, psychologisch und staatsbürgerlich inspirierte Denkungsart eine intellektuelle Daueranstrengung, | ||
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+ | Das Geschäft und die Aufgabe der modernen Metaphysiker soll ihrem eigenen Verständnis nach darin bestehen, den Menschen neben den Religionen, die ihr Fundament im Glauben haben, „rationale“ Beiträge zur „Kontingenzbewältigung“ (Ruth Dölle-Oelmüller) anzubieten. Kontingenz – darunter versteht man gewöhnliche Zufälligkeit, | ||
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+ | Um mit der von ihr erfahrenen Kontingenz fertig zu werden, bemüht sich die moderne Metaphysik, den Sinnsuchern „philosophisches Orientierungswissen“ (Willi Oelmüller) zur Verfügung zu stellen. „Metaphysik heute wäre also für mich, wenn sie gelingt, die gesuchte Wissenschaft, | ||
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+ | Nun könnte man meinen, dass die modernen Bürger dem Zerstörungswerk der analytischen Vernunft durchaus applaudieren; | ||
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+ | Der gesicherte Nutzen, der befriedigte Materialismus fragt nicht nach Tröstung und Orientierung: | ||
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+ | Auch an dem im Gefolge der deutschen Romantik konstatierten Verlust wäre nichts bedauerlich, | ||
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+ | Dabei weiß Frank, „dass wir in Traditionen leben, die ein (...) Ausgriff aufs Absolute nicht zu entmachten vermag. Mithin können quasi-religiöse Begründungsansprüche nicht die Natur faktischer, sondern nur die kontrafaktischer Annahmen haben.“ (Ebd.) Das Absolute als Faktum wurde von der Aufklärung theoretisch und von Napoleon praktisch entmachtet, so wurde durch die Trennung von Thron und Altar die Kirche dem Staat untergeordnet. Deshalb ziehen (quasi-)religiöse Begründungsansprüche, | ||
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+ | Die Bestimmung, eine gegen die Wirklichkeit gerichtete Annahme zu sein, kommt dem Wert, dem Woraufhin des moralischen Tuns, seiner eigenen Logik nach immer zu. Er ist das Nicht-Seiende, | ||
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+ | Von der Unterstellung des Kontrafaktischen bis zu Kants praktischem Glauben ist es dann nur noch ein Katzensprung: | ||
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+ | **Literatur** | ||
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+ | * Thomas Brandt, Auf Schalke ist Fußball eine Religion. In: Wilhelm Schwendemann u.a. (Hrsg.), Sport und soziale Arbeit, Bd 2. Freiburg 2004. | ||
+ | * Manfred Frank, Metaphysik heute. In: ders., Conditio moderna. Leipzig 1993a. | ||
+ | * Manfred Frank, Zwei Jahrhunderte Rationalitätskritik und die Sehnsucht nach einer ‚neuen Mythologie’. In: ders., Conditio moderna. Leipzig 1993b. | ||
+ | * Viktor E. Frankl, Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn. 8. Auflage, München 1990. | ||
+ | * Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. Frankfurt/ | ||
+ | * Historisches Wörterbuch der Philosophie, | ||
+ | * Freerk Huisken, Staat und Kirche. 9.12.2008, Online: http:// | ||
+ | * Karl Jaspers, Einführung in die Philosophie. München 1958. | ||
+ | * Albert Krölls, Das Grundgesetz – ein Grund zum Feiern? Hamburg 2007. | ||
+ | * Albert Krölls, Der freie Wille unter dem Regime von Recht, Psychologie und Hirnforschung. Vortragstext vom 23.05.2014. | ||
+ | * Albert Krölls, Kritik der Psychologie – Das moderne Opium des Volkes. 3., aktualisierte und erweiterte Neuauflage, Hamburg 2016. | ||
+ | * Odo Marquart, Skeptische Betrachtungen zur Lage der Philosophie. In: Hermann Lübbe (Hrsg.), Wozu Philosophie? | ||
+ | * Karl Marx, Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. In: Marx Engels Werke, Band 23, Berlin 1977 (zit. als MEW 23). | ||
+ | * Willi Oelmüller/ | ||
+ | * Joseph Ratzinger, Einführung in das Christentum. München 1968. | ||
+ | * Georgi Schischkoff, | ||
+ | * Rainer Specht, Über drei Arten von Metaphysik, In: Willi Oelmüller (Hrsg.), Metaphysik heute? Paderborn u.a. 1987. S. 170 - 201 | ||
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+ | ===== Mai 2016 ===== | ||
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+ | ==== Das Ende der Sowjetunion ==== | ||
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+ | <WRAP center round box 90%> | ||
+ | Im Mai 2016 erschien Reinhard Lauterbachs Buch „Das lange Sterben der Sowjetunion“ über die Politik des letzten KPdSU-Generalsekretärs Michail Gorbatschow und das Ende des realen Sozialismus. Dazu einige Anmerkungen von Johannes Schillo. | ||
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+ | Reinhard Lauterbach, der früher als Redakteur bei verschiedenen Sendeanstalten der ARD (z.B. als Auslandskorrespondent für die Ukraine und Weißrussland) tätig war, berichtet seit 2014 regelmäßig für die Tageszeitung Junge Welt über Vorgänge in Russland und Osteuropa. Im Mai 2016 ist sein neues Buch „Das lange Sterben der Sowjetunion – Schicksalsjahre 1985-1999“ erschienen, das sich als „journalistischer Essay“ (Lauterbach 2016, 20) versteht, also im strikten Wortsinn als ein Versuch, „die Geschichte des Verfalls und Untergangs der Sowjetunion als die Geschichte einer wachsenden Unzufriedenheit der sowjetischen Führung mit der von ihr selbstgestalteten Gesellschaftsordnung zu erzählen“ (ebd., 13f). Es sind natürlich Zweifel angebracht, ob es sinnvoll ist, die Analyse des welthistorischen Unikums der Abdankung einer „Supermacht“, | ||
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+ | Doch die Anlage des neuen Essays und die vielen zeitgeschichtlichen Details, die der Autor auch hier wieder beibringt, sollen im Folgenden kein Thema sein. Vielmehr geht es um die Kernthese, wie sie der Prolog des Buchs ankündigt und wie sie dann sukzessive – unterbrochen durch verschiedene Insiderberichte, | ||
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+ | Wichtig ist vielmehr, dass Lauterbach einschlägige Verschwörungs- und Verratstheorien auseinander nimmt und die Fixierung auf die Person Gorbatschows zurückweist. Die Führung von Staat und Partei habe sich vielmehr in den 1980er Jahren – wenn auch nicht geschlossen, | ||
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+ | Aber diese Distanzierung dürften die realsozialistischen Führer durchschaut haben. Sie wussten, dass die BRD ihnen als Teil des kapitalistischen Blocks gegenüberstand. Was sie bewunderten, | ||
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+ | Lauterbach ist bewusst, dass das Problem viel grundsätzlicher ist. Die Frage der sozialen Marktwirtschaft wird auch nicht weiter verfolgt. Statt dessen geht es um den grundlegenden Sachverhalt, | ||
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+ | **Gegner oder Rivale des Kapitalismus? | ||
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+ | Lauterbach, schreibt Schölzel, „greift durchgängig, | ||
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+ | Und auch was danach in der relativ langen, fast ganzseitigen Rezension folgt, bringt nicht mehr viel zu der eigentlich interessierenden Frage. Lauterbachs Zurückweisung der Verrats-These wird ausführlich referiert (anscheinend ist das für JW-Leser wichtig). Dann folgen Bemerkungen über die Durchsetzung der Perestroika-Strategie; | ||
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+ | Schölzels abschließende Bemerkungen halten fest, dass Gorbatschow für das Auseinanderbrechen der Sowjetunion die Voraussetzungen geschaffen habe, „aber konkret gehandelt habe zum Schluss Boris Jelzin“ (Schölzel 2016). Und die „Richtungsentscheidung 'mehr Markt' und 'weg mit dem Plan' habe die unbeabsichtigte Nebenfolge gehabt, dass die Nationalitätenprobleme 'zu nicht vorgesehener Schärfe' | ||
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+ | Dabei ist das Gegenteil der Fall: Lauterbachs Rückgriff auf Stalins Ökonomie-Schrift von 1952 will zu einer Antwort auf diese zentrale Frage hinführen. Und der Essay äußert sich auch eindeutig dazu, warum ein solcher Rückgriff (der später noch auf Leninsche Positionen ausgeweitet wird) notwendig ist. Der Systemwechsel vom Ende der 1980er Jahre habe nämlich die Konsequenz aus einem Widerspruch gezogen, der den realen Sozialismus von Anfang an kennzeichnete und der von Stalin verbindlich festgeschrieben wurde: „Gorbatschows Entscheidung der späten 1980er, den Sozialismus mit Hilfe von immer mehr kapitalistischen Elementen zu ' | ||
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+ | Und, wie gesagt, „Stalin war mit dieser Verwechslung“ – dass man mit der sozialistischen Anwendung des Wertgesetzes die Effizienz des Kapitalismus importieren könne, ohne sich dessen Übel einzuhandeln – „nicht originell. Schon seit Lenin hatten die sowjetischen Kommunisten zum Kapitalismus ein zwiespältiges Verhältnis. Sie trennten ihn analytisch in einen ' | ||
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+ | Lauterbach fasst dies am Schluss – in seinem Epilog, bevor er zu der Frage kommt, ob durch das Ende der Sowjetunion der Sozialismus gegenstandslos geworden sei – noch einmal in aller Deutlichkeit zusammen (ebd., 203). Zu Grunde gerichtet habe die Sowjetunion ihre letzte Führungsmannschaft. Der Grund dafür lag aber nicht in einem Verrat prinzipienloser Kader, in einer weltgeschichtlichen Dynamik oder in einem maroden System, das nicht mehr lebensfähig gewesen wäre, sondern in einem Standpunkt, der von Anfang an im realen Sozialismus anerkannt war: in der Bewunderung der Masse an staatlich verwendbarem Mehrprodukt, | ||
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+ | Die am Schluss genannte Konsequenz ergibt sich natürlich nicht automatisch. Immerhin hat die Sowjetunion mit ihrem Bündnissystem den Widerspruch ihres politökonomischen Systems rund 70 Jahre lang praktiziert – und hätte das möglicher Weise, falls die NATO ihr die Chance gelassen hätte, auch noch weitere Jahrzehnte lang fortgeführt. Die Partei musste hier schon der Parole vom „Einholen oder Überholen“ des Kapitalismus eine neue Deutung geben, aber eben auf Grundlage der allgemein anerkannten Systemrivalität. Der reale Sozialismus hatte sich zwar zu einer Produktionsweise entschlossen, | ||
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+ | Wie und mit welchen Begründungen bzw. Erwartungen die Konsequenz zur Auflösung des systemeigenen Widerspruchs gezogen wurde, wäre im Einzelnen zu analysieren. Von marxistischer Seite liegt dazu die umfangreiche Aufsatzsammlung von Karl Held (1992) vor, auf die auch Lauterbach verweist. Zum nachfolgenden Zerstörungsprozess der Sowjetunion und ihres Bündnissystems hat z.B. Olaf Steffen (1997) eine sehr ins Detail gehende Studie vorgelegt, die Boris Jelzin als gelehrigen Schüler der marktwirtschaftlichen Ideologien und Vollstrecker der vorausgegangenen Reformanstrengungen charakterisiert: | ||
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+ | **Literatur** | ||
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+ | * Juri Afanassjew (Hg.), Es gibt keine Alternative zu Perestroika: | ||
+ | * Karl Held (Hg.), Das Lebenswerk des Michail Gorbatschow – Von der Reform des realen Sozialismus zur Zerstörung der Sowjetunion. München 1992. | ||
+ | * Reinhard Lauterbach, Bürgerkrieg in der Ukraine – Geschichte, Hintergründe, | ||
+ | * Reinhard Lauterbach, Das lange Sterben der Sowjetunion – Schicksalsjahre 1985-1999. Berlin 2016. | ||
+ | * Olaf Steffen, Die Einführung des Kapitalismus in Rußland – Ursachen, Programme und Krise der Transformationspolitik. (Osteuropa – Geschichte, Wirtschaft, Politik, Band 16) Hamburg 1997. | ||
+ | * Arnold Schölzel, Mörder, Totengräber, | ||
+ | * Hans-Joerg Tauchert, „Überholen ohne einzuholen“ – Ist der Kapitalismus unübertrefflich? | ||
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+ | ===== April 2016 ===== | ||
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+ | ==== Zur Kritik der Psychologie ==== | ||
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+ | <WRAP center round box 90%> | ||
+ | Ende März 2016 ist die dritte, aktualisierte und erweiterte Auflage von Albert Krölls' | ||
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+ | Zehn Jahre nach der erstmaligen Veröffentlichung seiner „Kritik der Psychologie“ hat Albert Krölls eine überarbeitete und erweiterte Neuausgabe vorgelegt, die den bereits in der zweiten Auflage von 2007 aufgenommenen Diskussionsteil neu konzipiert und in seinem Umfang erweitert hat. Dokumentiert wird hier die Kontroverse, | ||
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+ | Im Folgenden sollen grundlegende Thesen aus Krölls' | ||
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+ | === Kritik der Psychologie === | ||
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+ | Krölls' | ||
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+ | Der Autor greift nicht nur das manipulatorische Ideal psychologischer Verwendungszusammenhänge an, sondern den wissenschaftliche Fehler selbst, der darin bestehe, „nach Ursachen der Willensleistungen außerhalb von Wille und Bewusstsein“ zu suchen und „das Handeln der Subjekte als Resultante des Wirkens hintergründiger seelischer Kräfte“ zu deuten (ebd., 11). Dass es sich bei dieser deterministischen Theorie um die Konstruktion eines Menschenbildes handelt, legt Krölls im ersten Kapitel dar. Er diskutiert ausführlich das tautologische Verfahren, Verhalten auf innere, psychische Faktoren, auf „Dispositionen“ oder „Triebe“, | ||
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+ | Der auf psychologischem Wege erstellten Zeitdiagnose zufolge scheitert ein Mensch nicht an den Zwecken und Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft, | ||
+ | |||
+ | In den Kapiteln 2 bis 6 bietet das Buch eine „Besichtigungsreise“ durch die äußerst plurale Welt psychologischer Theorien, Modelle und Ansätze, wobei es keine handwörterbuchmäßige Vollständigkeit anstrebt, sondern wenige, aber aussagekräftige Klassiker des Fachs auswählt. Es ist nicht die Absicht des Autors, einen Überblick über den aktuelle Stand des Pluralismus in der Disziplin zu bieten. Dazu liegen diverse Publikationen vor, das neue wissenschaftliche Kompendium von Galliker/ | ||
+ | |||
+ | Die Auseinandersetzung mit der Freudschen Seelenlehre und dem Drei-Instanzen-Modell (Es – Ich – Über-Ich), speziell mit der zentralen Kategorie des Unbewussten, | ||
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+ | Kapitel 5 setzt sich mit der Anwendung zeitgenössischer psychologische Theorien auf einen speziellen Fall, nämlich auf die Ausländerfeindlichkeit, | ||
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+ | Die Schlussbetrachtung im 7. Kapitel fasst dann den Nutzwert der psychologischen Weltanschauung für die moderne Konkurrenzgesellschaft nochmals zusammen. Es handle sich um einen ideologischem Beitrag zur Pflege der Konkurrenzmoral der Bürger. „Als theoretischer Überbau der Konkurrenzmoral hat die psychologische Weltanschauung im späten 20. Jahrhundert verdientermaßen der Religion den Rang als Opium des Volkes abgelaufen. Die Verheißung der Psychologie ist nicht wie bei der Religion die Aussicht auf einen komfortablen Platz im Himmelreich durch ein gottgefälliges, | ||
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+ | Das Buch setzt sich mit den Leistungen der akademische Psychologie auseinander, | ||
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+ | === Ein Fach in der Krise? === | ||
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+ | Kritik an der Psychologie gibt es heutzutage natürlich auch von anderen Autoren, z.B. in einer populären, der Ratgeberliteratur verwandten Form, die ebenfalls – wie Krölls – den Vorwurf vom „Opium des Volkes“ erhebt. Der Journalist Jens Bergmann hat eine launige Einführung „Der Tanz ums Ich“ vorgelegt, die von der Psychologie als der „Religion unserer Zeit“ (Bergmann 2015, 9) spricht: „Wer bin ich? Und warum bin ich, wie ich bin? Was geht in mir vor und was in den anderen? Diese Fragen bewegen uns, weil uns unsere Mitmenschen rätselhaft erscheinen und weil es uns mit uns selbst häufig nicht anders ergeht. Aufklärung und Hilfe verspricht die Psychologie… Sie ist die Religion unserer Zeit.“ (Ebd., 9f) Das Buch will darlegen, „wie sie es so weit bringen konnte. Was ihren Reiz ausmacht. Und mit welchen Folgen der Glaube an sie verbunden ist. Es klärt auf über das Grundproblem des psychologischen Denkens: Niemand kann anderen Menschen wirklich in den Kopf schauen. Von der Suggestion, es doch zu können, lebt eine ganze Industrie. Dieses Buch ist kein Ratgeber, aber hoffentlich nützlich: durch Aufklärung über Risiken und Nebenwirkungen der Psychologie.“ (Ebd., 10) | ||
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+ | So wie die Psychologie als Vorhaben einer nicht-metaphysischen Seelenkunde einst in Konkurrenz zur religiösen Betreuung der Seelen trat, so treten heute Propagandisten der Hirnforschung an, um mit ihren Einblicken ins Seelenleben und dessen neuronale Determinanten der psychologischen Betrachtungsweise den Rang streitig zu machen (vgl. Roth 1997, 2003, zur Kritik daran: Cechura 2008, Huisken 2012). Passend dazu gibt es Publikationen wie die von Bergmann, die sich in einer Art Verbraucherberatung ans Publikum wenden. Wer sich in der bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft behaupten will, stellt sich natürlich immer wieder die Frage: „Was geht in mir vor und was in den anderen? | ||
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+ | Entsprechende Handreichungen sind auch schon länger auf dem Markt. So hat der Psychologe Colin Goldner vor bald 20 Jahren einen (Anti-)Therapieführer erstellt (Goldner 1997) – in der Hauptsache ein Nachschlagewerk zu rund 100 psychologischen Verfahren der Alternativ- und Esoterikszene, | ||
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+ | Goldners Kritik kürzt sich im Grunde auf den Wunsch nach mehr Anerkennung akademischer Ausbildungsgänge und ein staatliches Eingreifen zu Gunsten des Berufsstandes zusammen. So sieht er in dem 1999 in Kraft getretenen Psychotherapeutengesetz (PTG) einen ersten kleinen Schritt in die richtige Richtung. Die alternative Psychoszene bleibe von dem Gesetz aber unberührt. Der Autor resümiert auch die Debatten, die im Zusammenhang mit der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ entstanden. Die 1996 auf Antrag der SPD eingesetzte Enquete-Kommission hatte 1998 ihren Abschlussbericht vorgelegt. Von der Kommission wurden zwar viele Bedenken geäußert, letztlich aber klargestellt, | ||
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+ | Die Psychologie-Professoren Mark Galliker und Uwe Wolfradt haben einen Sammelband erstellt, der „zum ersten Mal ein umfangreiches Kompendium der relevanten Theorien der wissenschaftlichen Psychologie“ (Galliker/ | ||
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+ | Die beiden Psychologen sehen darin aber keinen Mangel. Eher im Gegenteil, sie lassen eine gewisse Zufriedenheit mit dem Bestand erkennen, der die Breite und Vielfalt des Fachs dokumentiert. Und sie sehen die weiter gehende Aufgabe darin, „eine Vernetzung der vielen theoretischen Ansätze zu schaffen“, | ||
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+ | Über seinen Sinn gibt eine andere Publikation Gallikers näheren Aufschluss. Er hat nämlich das, was in dem Kompendium als Vielfalt des Fachs hervorgehoben wurde, an anderer Stelle als Krisenphänomen der wissenschaftlichen Psychologie identifiziert. In seiner neuen Studie „Ist die Psychologie eine Wissenschaft? | ||
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+ | Gallikers Bestandsaufnahme ist geradezu scharf darauf, Kontroversen und unversöhnliche Positionen zu präsentieren. Ausgeblendet wird dabei etwa, obwohl sonst viel Wert auf die philosophischen Vorläufer gelegt wird, Hegels Philosophie des subjektiven Geistes, die die Dualismus-Debatte im „dialektischen“ Sinne zum Abschluss brachte. Dabei könnte man gerade hier überprüfen, | ||
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+ | Im Hinblick auf dieses Anliegen, fällt die Bilanz des Buchs negativ aus. Speziell sei es das Manko der Psychologie, | ||
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+ | Es gibt allerdings auch Positionen in der Psychologie, | ||
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+ | Bei Brückner standen seinerzeit Fragen der Politischen Psychologie, | ||
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+ | Gegen diesen neuen Konsens wollte der Kongress Position beziehen, was aber nur zur Reproduktion ganz verschiedener kritischer Standpunkte führte. Rund zwei Dutzend Referenten aus Psychologie, | ||
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+ | Also auch hier soll die Psychologie, | ||
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+ | Einen Beitrag zur „Politisierung der Psychologie“ (Klappentext) versucht auch Harald Werner, Verantwortlicher des Parteivorstands Die Linke für politische Bildung, mit seinem Buch „Politische Psychologie des Sozialismus“ (Werner 2015) zu leisten. Das Buch will vor allem den „Zusammenhang von Psychologie und Marxismus verständlich machen“ (Werner 2015, 16). Die Pluralität der wissenschaftlichen Ansätze, die sich im akademischen Betrieb entwickelt hat, wird z.B. am Fall der Psychoanalyse daraufhin geprüft, ob sich hier ein „Bündnisverhältnis“ (ebd., 32) zur sozialistischen Psychologie eingehen lässt, ob sich Freud, Fromm etc. in sozialistische Politik einbinden lassen. Die jeweiligen Theorieelemente werden natürlich auch im Blick darauf begutachtet, | ||
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+ | Der Zustand eines Pluralismus divergierender, | ||
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+ | **Literatur** | ||
+ | * Jens Bergmann, Der Tanz ums Ich – Risiken und Nebenwirkungen der Psychologie. 2. Aufl., München 2015. | ||
+ | * Klaus-Jürgen Bruder, Christoph Bialluch, Benjamin Lemke (Hg.), Sozialpsychologie des Kapitalismus – heute. Zur Aktualität Peter Brückners. Gießen 2013. | ||
+ | * Markus Brunner/Jan Lohl/Rolf Pohl/Marc Schwietring/ | ||
+ | * Suitbert Cechura, Kognitive Hirnforschung – Mythos einer naturwissenschaftlichen Theorie menschlichen Verhaltens. Hamburg 2008. | ||
+ | * Peter Decker, Die Psychologie – Sachzwänge des Subjektseins. Aus: ders., Die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften. Online: http:// | ||
+ | * Peter Decker, Der Pluralismus in den Gesellschaftswissenschaften – Zeugnis und Verkehrsform einer falschen Wissenschaft. Vortrag, Erlangen 2013, online: http:// | ||
+ | * Rolf Frankenberger/ | ||
+ | * Mark Galliker, Ist die Psychologie eine Wissenschaft? | ||
+ | * Mark Galliker/ | ||
+ | * Colin Goldner, Psycho – Therapien zwischen Seriosität und Scharlatanerie. Augsburg 1997. | ||
+ | * Colin Goldner, Die Psycho-Szene. Aschaffenburg 2000. | ||
+ | * Freerk Huisken, Über die Untauglichkeit der Hirnforschung als Ratgeberin in Bildungsfragen. Bremen 2012, online: http:// | ||
+ | * Freerk Huisken, „Der Mensch ist der Sklave seines Gehirns!“, | ||
+ | * Albert Krölls, Kritik der Psychologie – Das moderne Opium des Volkes. (Erstausgabe 2006) 3., akt. und erw. Aufl., Hamburg 2016. | ||
+ | * Marxistische Gruppe, Argumente gegen die Psychologie. (1990) Korr. Neuauflage, München 2000, Textauszüge online unter: http:// | ||
+ | * Gerhard Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. 5., überarbeitete Auflage, Frankfurt/ | ||
+ | * Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Neue, vollständig überarbeitete Auflage, Frankfurt/ | ||
+ | * Harald Werner, Politische Psychologie des Sozialismus – Die emotionale Seite rationalen Handelns. Hamburg 2015. | ||
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+ | ==== Creydt kritisiert Krölls? ==== | ||
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+ | <WRAP center round box 90%> | ||
+ | Zur dritten Auflage von Krölls' | ||
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+ | Ende März 2016 ist die dritte, aktualisierte und erweiterte Auflage von Albert Krölls' | ||
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+ | Das genannte Kapitel befasst sich mit den Defiziten psychologischer Theoriebildung, | ||
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+ | Mit „Oberflächlichkeit“ ist jedoch ein Stichwort gefallen, das Creydts Kritik an marxistischen Positionen in Sachen Psychologie auf den Punkt bringt. Was der Autor damit meint, welche Tiefe er vermisst und weshalb auf Grund dieser Fehlanzeige die Überlegungen von Krölls u.a. zu revidieren oder zu verwerfen seien, soll im Folgenden erörtert werden. Dabei geht es vor allem um den ersten Abschnitt (a) des siebten Kapitels, der ein Panorama psychologischer Theoriebildung entwirft. Deren Missachtung hält Creydt seinen Gegenspielern als entscheidendes Manko vor. Im folgenden Abschnitt (b, dem sich dann unter c noch etwas anders gelagerte Bemerkungen über „Persönlichkeitsstile“ anschließen) fasst er dies so zusammen: „Bürger beziehen sich in ihrem bürgerlichen Materialismus auf das kapitalistische Erwerbs- und Geschäftsleben so, dass sie darin Mittel zur Realisierung ihrer Interessen sehen. Zweitens nehmen sie – und jetzt kommt die ' | ||
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+ | In der referierten thematischen Konzentration sieht Creydt eine „rationalistische“, | ||
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+ | === Psychische Prozesse: extended version === | ||
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+ | | „Das Subjekt ist die Tätigkeit der Befriedigung der Triebe, der formellen Vernünftigkeit, | ||
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+ | Creydt bringt, was in der Zusammenfassung anklingt, sein erweitertes Verständnis in drei Abteilungen zur Sprache: Lebensgeschichte, | ||
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+ | An diesem Spiel beteiligen sich die inkriminierten Publikationen von Krölls, Huisken u.a. nicht. Im Gegenteil, sie nehmen sich – natürlich in einer Auswahl, die aber auf Repräsentativität achtet, wie in Krölls' | ||
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+ | Die erste Abteilung von Creydts Einwänden hält fest, seine Gegenspieler würden nicht berücksichtigen, | ||
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+ | Creydt beginnt den ersten Kritikpunkt mit folgender Feststellung: | ||
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+ | Zu dieser Persönlichkeitstheorie wäre im Einzelnen viel zu sagen. Hier soll nur Folgendes festgehalten werden – und das gilt so oder so ähnlich für den Fortgang des ganzen Kapitels: Die Einführung der Theorie, genauer gesagt: ihre bloße Benennung als anerkannter Bestandteil der wissenschaftlichen Disziplin, erfolgt erstens in Form einer dogmatischen Behauptung, dass man sie zu berücksichtigen habe; die Theorie weist zweitens selber eine kognitive Schlagseite auf; und sie kann drittens nicht als Opposition zum Begriff des Interesses ins Feld geführt werden. Auch die Bemerkungen, | ||
+ | Die zweite Abteilung von Creydts Einwänden spielt auf die gängigen psychologischen Theorien an, die von einer Prägung des Individuums ausgehen. „Wie das jeweilige Individuum die Entwicklungsschritte im Lebenslauf angeht, hängt von verschiedenen Momenten ab: Seiner Ausstattung mit bestimmten biologischen Voraussetzungen (genetische Ausstattung) und seinem Temperament sowie dem Vorhandensein von materiellen und sozialen Ressourcen, über die das Individuum verfügen kann. Im Zusammenspiel von inneren Prozessen (Wahrnehmungen, | ||
+ | |||
+ | Das ist eindeutig falsch. Sowohl in der MG-Publikation als auch in Krölls' | ||
+ | |||
+ | Nur so viel noch: Das Konzept einer rationalistischen Psychologie, | ||
+ | |||
+ | Den Pleonasmus „bewusst geplant“ wieder ernst genommen: Wer sein Interesse planvoll verfolgt, registriert natürlich auch die genannten oder andere Negativerfahrungen. Er muss sich dann zu dem Resultat stellen. Die Schwierigkeiten werden vom Individuum bilanziert, eventuell haben sie nachhaltige Konsequenzen, | ||
+ | |||
+ | Die dritte Abteilung von Creydts Einwänden beginnt mit einer eigenartigen Feststellung, | ||
+ | |||
+ | Auch hier sei nur auf das Buch von Krölls verwiesen, der die Freudsche Theorie des Unbewussten in einem eigenen Kapitel ausführlich zum Thema macht (Krölls 2016, 49ff) – natürlich kritisch und nicht zustimmend. Krölls hat diese Theorie bereits in der ersten Auflage an den Anfang seiner Kritik gestellt. Er hat sich mit der Konstruktion eines „Seelenapparats“ aus Es, Ich und Über-Ich auseinandergesetzt, | ||
+ | |||
+ | Im vorliegenden Fall der mehr oder weniger entscheidenden Rolle des Unbewussten ist seine Argumentation besonders haltlos. Er zitiert z.B. einen Arbeitskreis „Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik“ (OPD). Dieser habe herausgefunden, | ||
+ | |||
+ | In der wissenschaftlichen Debatte gilt die Psychoanalyse heute tendenziell als veraltet – und auch schon länger als dogmatisch. Will man sich im Mainstream bewegen, lässt man sie nicht einfach gelten, sondern nimmt sie als Ansatz, der interessante Gesichtspunkte beisteuert. Ob die orale, anale oder genitale Phase jeweils zu den von Freud und seiner Schule genannten Kernkomplexen führt, soll nicht behauptet, aber irgendwie Beleg für Determination überhaupt sein: Vielleicht wirkt diese ja nicht hundertprozentig, | ||
+ | |||
+ | Im zweiten Abschnitt (b), der sich vor allem Huiskens Erklärung der Jugendgewalt und, eher kursorisch, der MG-Publikation von 1981 widmet, wird dann Freud wieder ganz selbstverständlich als Autorität dafür zitiert, dass es vieles gibt, das „die Schwelle zum Bewusstsein nicht überschreitet“ (ebd., 118). Insofern wird klar, was Creydt mit seinem an Krölls gerichteten Vorwurf der „Oberflächlichkeit“ meint. In dessen Buch wird die tiefenpsychologische Unterkellerung des Bewusstseins durch eine steuernde Lebenskraft nicht geteilt, sondern kritisiert. Daher braucht Creydt dessen Buch gar nicht näher zur Kenntnis zu nehmen, um festzustellen, | ||
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+ | Was Creydt hier bietet ist – allgemein gesagt – ein Standardverfahren, | ||
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+ | Dass man die Macht des Unbewussten in Rechnung zu stellen habe, dass sie zwar nicht in ihrer Originalfassung nach Freud, aber in einer allgemeineren Version entscheidend für die Erklärung von Bewusstseinsleistungen sei und somit das Fundament einer wissenschaftlichen Psychologie abzugeben habe, jedenfalls nicht durch Kritik auszuschließen sei, ist Creydts inhaltliche Prämisse. Begründet wird das mit dem Verweis darauf, dass Psychologen – auch wenn sie sich untereinander uneins sind – eine solche These vertreten. Die Kritik, die es daran gibt, so in der Publikation von Albert Krölls, nimmt Creydt nicht zur Kenntnis. Worauf auch immer er mit seinem Buch hinaus will, zur Kontroverse über die Fehler der bürgerlichen Psychologie trägt es nichts bei. | ||
+ | P.S. Creydt erwartet in seinem oben zitierten Resümee einer Psychologie, | ||
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+ | **Literatur** | ||
+ | * Meinhard Creydt, Der bürgerliche Materialismus und seine Gegenspieler – Interessenpolitik, | ||
+ | * Mark Galliker, Ist die Psychologie eine Wissenschaft? | ||
+ | * Freerk Huisken, Jugendgewalt – Der Kult des Selbstbewusstseins und seine unerwünschten Früchtchen. Hamburg 1996. | ||
+ | * Freerk Huisken, Erziehung im Kapitalismus – Vom unbestreitbaren Nutzen unserer Lehranstalten. Studienausgabe der Kritik der Erziehung Bd.1 und 2. Hamburg 1998. | ||
+ | * Freerk Huisken: z.B. Erfurt – Was das bürgerliche Bildungs- und Einbildungswesen so alles anrichtet. Hamburg 2002. | ||
+ | * Albert Krölls, Kritik der Psychologie – Das moderne Opium des Volkes. (Erstausgabe 2006) Erw. Neuaufl., Hamburg 2007. | ||
+ | * Albert Krölls, Kritik der Psychologie – Das moderne Opium des Volkes. 3., akt. und erw. Aufl., Hamburg 2016. | ||
+ | * MG – Marxistische Gruppe, Die Psychologie des bürgerlichen Individuums. München 1981. | ||
+ | * Hans Thomae, Das Individuum und seine Welt – Eine Persönlichkeitstheorie. Göttingen 1968. | ||
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+ | ==== Streitfall Finanzkapital ==== | ||
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+ | <WRAP center round box 90%> | ||
+ | Seit der 2007er Krise gibt es wieder vermehrt Kritik am Finanzkapital, | ||
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+ | Seit dem Aufschwung der Globalisierungsrhetorik in den 1990er Jahren und spätestens seit der Finanzkrise 2007/08 ist die Macht des Finanzkapitals wieder zu einem Thema geworden, das die Öffentlichkeit bewegt. Diese Entwicklung hat sich auch in einer Reihe von kritischen Publikationen niedergeschlagen (vgl. Huffschmid 1999, Stiglitz 2002, Sandleben 2003, Zeise 2008, Lueer 2009, Altvater 2010, Graeber 2012, Lohoff/ | ||
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+ | === Öffentliche Diskussion === | ||
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+ | | „Gleich wird dieser Bankenpalast zertrümmert werden. Nein, doch nicht. Gleich wird er stürzen! Nein. Doch nicht. Schon ist das Geld aus dem Palast! Nein, doch nicht. Doch!“ Elfriede Jelinek (Honegger u.a. 2010, 322) | | ||
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+ | Zu Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise legte Lucas Zeise, der neue Chefredakteur der DKP-Zeitung UZ, die Erstausgabe seiner Studie „Ende der Party – Die Explosion im Finanzsektor und die Krise der Weltwirtschaft“ vor, wie Junge-Welt-Chefredakteur Arnold Schölzel lobte, „eine der ersten und besten Analysen des sich damals noch anbahnenden Desasters“ (JW, 6.10.2010). Mittlerweile gibt es eine dritte, aktualisierte und erweiterte Ausgabe (Zeise 2013), die die grundsätzliche Argumentation beibehalten hat. Zeise setzte 2008 mit seinem „Versuch über die Politische Ökonomie des Finanzsektors“ bei den aktuellen Krisenentwicklungen an – nahe liegender Weise, denn damit ist die Finanzwelt neu in den Blick genommen und zum Gegenstand öffentlicher Aufregung geworden. Problematisch war dagegen, dass Zeise die öffentliche Diskussion gleich für seine kritisch gemeinte Analyse vereinnahmte. Denn dass „die These von der Herrschaft des Finanzkapitals – in dieser oder jener Formulierungsvariante – mittlerweile Allgemeingut“, | ||
+ | |||
+ | Was nämlich von der Bildzeitung bis zur Suhrkamp-Kultur (vgl. Honegger u.a. 2010), von eher reißerisch aufgemachter Aussteigerliteratur (vgl. Anne T. 2009) bis zu Elfriede Jelineks 2009 in Köln uraufgeführtem Theaterstück „Die Kontrakte des Kaufmanns“, | ||
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+ | Jelinek veröffentlichte einen Epilog zum Theaterstück unter dem Titel „Schlechte Nachrede: Und jetzt?“, abgedruckt als Nachwort zu den „Berichten aus der Bankenwelt“, | ||
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+ | Die Branche soll sich schämen – das wurde zum kategorische Imperativ der modernen Aufklärung und das wurde kongenial von der Dichterin Jelinek in ihrem Nachwort aufgegriffen. Jelinek geißelt gleichzeitig die Dreistigkeit der Finanzbranche und die Gutgläubigkeit des Publikums. Die Textcollage, | ||
+ | |||
+ | Solche quälenden Höchstleistungen der Literaturnobelpreisträgerin sind übrigens nicht weit von der populären Enthüllungsliteratur entfernt. In den 1990er Jahren veröffentlichte z.B. Nick Leeson, der als Derivatehändler seinen Arbeitgeber, | ||
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+ | Auch hier hat man es erkennbar mit einem halbseidenen Text zu tun. Man weiß nämlich nicht, ob überhaupt ein Wort des Rückblicks stimmt. Die Angaben sind anonymisiert – T.s Arbeitgeber heißt z.B. „Die Bank“: wer das wohl sein mag?! – und laut Verlagsmitteilung „verfremdet“: | ||
+ | |||
+ | Die Sache mit der allgemein verbreiteten Gier ist, wie sich dabei zeigt, eine Lüge. Die Neugier der Autorin Anne T., die Begierde, wissen zu wollen, was dieser ' | ||
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+ | Was hier beispielhaft aus der öffentlichen Diskussion genannt wurde lässt sich wohl kaum als „Teil des Alltagsbewusstseins“ von der „Herrschaft des Finanzkapitals“ verbuchen. Die Krise hat von sich aus und durch ihre öffentliche Begleitmusik kein kritisches Bewusstsein geschaffen. Das sieht Zeise umgekehrt. Wie nach der Weltwirtschaftskrise von 1929ff heiße es jetzt: „So wie bisher kann es nicht weitergehen. Da das so ist, ergibt sich die einfache These: Die Krise markiert das Ende des Neoliberalismus.“ (Zeise 2013, 7) Eine erstaunliche Mitteilung! Gerade von Neoliberalismuskritikern wird zeitgleich das „befremdliche Überleben des Neoliberalismus“ (Crouch 2011) konstatiert. Heiner Flassbeck schreibt: „Gibt es eine ökonomische Krise, sind ihre Mythen nicht weit.“ (Flassbeck 2012, 7) Zeise schränkt seine Feststellung zwar dahingehend ein, dass der Neoliberalismus ökonomisch, | ||
+ | |||
+ | Das macht einen deutlichen Unterschied zur Publikation von Decker und Co. Sie geht gerade nicht von einem halbwegs aufgeklärten Bewusstsein aus, an das man anschließen könnte. Wenn die allseits geschätzte Finanzbranche in die Krise gerate und dies gesamtwirtschaftliche Konsequenzen habe, dann sei, so heißt es im Vorwort, „den Bankern die Missgunst einer undankbaren Öffentlichkeit sicher.“ (Decker u.a. 2016, 3) Dann würden Politiker über die Schäden für die „Realwirtschaft“ klagen, dann würde vor „Heuschrecken“ gewarnt, dann seien verdiente Spitzenmanager des Finanzkapitals auf einmal dubiose Gestalten. „Und alle Welt weiß, dass da eine elitäre Elite ihr Recht auf Gewinn in einer ganz unberechtigten Gier auf Kosten der Dienste geltend macht, die sie uns allen schuldet, weil wir alle darauf angewiesen sind. Was also wieder für die Branche spricht, soweit sie ihr Geschäft mit ihrer anerkannten Unentbehrlichkeit für das gesamte Wirtschaftsleben macht.“ (Ebd.) | ||
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+ | === Klärungsbedarf === | ||
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+ | | „Was nicht immer so weiter gehen kann, geht irgendwann einmal nicht mehr weiter.“ Lucas Zeise (2013, 190)| | ||
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+ | Trotz dieser deutlichen Differenz gibt es bei beiden Publikationen eine Gemeinsamkeit. Beide gehen von der Kapitalismuskritik aus, wie sie Marx mit seiner Kritik der politischen Ökonomie grundgelegt hat. Die Gegenstandpunkt-Autoren schreiben, dass die finanzkapitalistische „Art der Bereicherung unerlässliche Bedingung und Hebel des kapitalistischen Wachstums, der Mehrung von Geldreichtum“ (Decker u.a. 2016, 4) sei und nicht einen fremden Gesichtspunkt ins Wirtschaftsleben einführe. „Der Bedarf, den das Bankgewerbe bedient, entsteht im gewöhnlichen marktwirtschaftlichen Geschäftsleben“ (ebd., 5), wo Lohnarbeit so eingesetzt werde, dass sie einen gewinnträchtigen Erlös einspielt. (In den früheren Fassungen des Buchs, die als Zeitschriftenartikel 2008-2011 erschienen und die man auf der GS-Homepage unter www.gegenstandpunkt.com/ | ||
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+ | Zeise steigt mit einer Skizze der Marxschen Theorie ein (2. Kapitel). Entscheidend sei, dass Marx „zeigt, wie Kapital durch die Nutzung der Ware Arbeitskraft sich mehrt und die Gesellschaft bestimmt“ (ebd., 17). Das folgenden Kapitel, das sich der Vorstellung diverser Theorien (Neoklassik, | ||
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+ | Dem folgt ein kurzes 4. Kapitel, das den „marxistischen Geldbegriff“ vorstellen will und dafür das Wertgesetz aus dem „Kapital“, | ||
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+ | Dass Geld im Kapitalismus per se mit dem Anspruch auf Vermehrung unterwegs ist (und dass zudem Kredit, ein Zahlungsversprechen, | ||
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+ | Den Schlusspunkt des Buches bildet die Feststellung, | ||
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+ | Die befremdliche Anlage samt Konsequenz des Buches hat zwei Gründe. Erstens unterscheidet Zeise grundsätzlich bei der Zwecksetzung des Kapitaleinsatzes – je nach Zugehörigkeit zur Finanz- oder zu den sonstigen Sphären. Wird Ware produziert, ist das ein Pluspunkt, Wertpapierproduktion erhält dagegen einen Malus, obwohl nach Auskunft von Marx beide dasselbe herstellen: Wert. Eigentlich müsste sich, so sieht es Zeise, das produktive und Handelskapital dem Zugriff der ausgeuferten, | ||
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+ | Das Grundanliegen des Buchs – Regulierung der Finanzsphäre tut Not – führt zur Entdeckung von lauter Fällen, wo ein eigentlich gutes, schutzwürdiges Kapitalinteresse durch die Machenschaften des Finanzgewerbes unter die Räder gerät. Das beginnt mit dem Lob Franz Münteferings für seine Diagnose von den „Heuschreckenschwärmen“ der ausländischen Finanzinvestoren, | ||
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+ | Zweitens ist Zeises Buch, wie die Einleitung deutlich macht, gar nicht so sehr auf den ökonomischen Sachverhalt Finanzkapital und dessen geschäftliche Besonderheiten im Rahmen einer kapitalistischen Wirtschaft fokussiert. Es nimmt vielmehr einen wirtschaftspolitischen Steuerungsmodus ins Visier, dem der Prozess gemacht werden soll: Der Neoliberalismus ist als unfähiges Konzept auszumustern. Obwohl noch in der wirtschaftswissenschaftlichen Revue des 3. Kapitels eine Ahnung davon aufscheint, dass man es beim „Neoliberalismus“ mit der Etikettierung einer wissenschaftlichen Schule zu tun hat, auf die sich Politiker beim Managen des Kapitalismus berufen, wenn es ihnen passt, geht der Rest des Buchs davon aus, dass hier eine ideologische Verirrung der Regierenden vorliegt, eine praktisch gültige Steuerungskonzeption, | ||
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+ | All das ist Zeise bekannt. Es interessiert ihn aber nicht. Seine theoretischen Anstrengungen zielen auf etwas anderes. Er sieht hinsichtlich der politökonomischen Grundfragen keinen großen Erklärungsbedarf; | ||
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+ | Zeise kennt die mittlerweile 200jährige Krisengeschichte des Kapitalismus. Alle möglichen wirtschaftspolitischen Rezepte wurden in dieser Zeit ausprobiert – unabhängig davon, welcher wissenschaftlichen Schule sich die Macher jeweils zuordneten. Auch die inkriminierten neoliberalen Politiker haben seit den jüngsten Krisen der 1990er Jahre in Amerika, Fernost oder Europa vielfach Experimente mit Konjunkturprogrammen oder staatlicher Nachfragesteuerung veranstaltet, | ||
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+ | Am Schluss landet Zeise also genau bei dem Punkt, den die Gegenstandpunkt-Veröffentlichung gleich eingangs ins Visier nahm: Alle Aufregung kürzt sich darauf zusammen, dass eine parasitäre Clique „ihr Recht auf Gewinn in einer ganz unberechtigten Gier auf Kosten der Dienste geltend macht, die sie uns allen schuldet“ (Decker u.a. 2016, 3): Statt als kleinteiliges, | ||
+ | |||
+ | Die anfangs angesprochene Gemeinsamkeit der beiden Publikationen ist also nur formaler Natur. Die Berufung auf Marx, der Rekurs auf die Kritik der politischen Ökonomie, bedeutet jeweils Verschiedenes. Mit Marx zu beginnen, heißt es bei Zeise, habe eindeutige Konsequenzen für die Herangehensweise: | ||
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+ | Solche Darstellungsalternativen sind aber nicht das Entscheidende. Entscheidend ist, dass sich an der „Basis des Kreditsystems“, | ||
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+ | Die Gegenstandpunkt-Veröffentlichung entwickelt aber den Begriff des Finanzkapitals – anders als Zeise – nicht als Nachvollzug des jüngsten Krisengeschehens. Dass das Finanzkapital periodisch in die Krise gerät, ist ein Zusatz zur Ableitung der einzelnen Bestimmungen. Sein Funktionieren interessiert bei der Erklärung, das Nicht-Mehr-Funktionieren wird erst auf dieser Grundlage zum Thema. Bei Zeise ist der größte Teil seines Buchs der wirtschaftspolitischen Chronik seit Ausbruch der Finanzkrise (samt Rückblicken auf frühere Krisenfälle) gewidmet; von IKB, HRE und Lehman Brothers geht es über die ersten deutscheuropäischen Distanzierungen vom US-amerikanischen Problemfall zum allgemeinen Anerkenntnis der Krisenlage, über die folgende Wirtschaftskrise und die unterschiedlichen nationalen Bewältigungsstrategien bis hin zur Staatsschulden- und Eurokrise, vom Streit in der EU (Griechenland, | ||
+ | |||
+ | Im Verlauf dieser Ableitung ergeben sich zahlreiche Differenzen zu den Darlegungen von Zeise. Der entscheidende Punkt dürfte darin bestehen, dass Zeise die fiktive Akkumulation, | ||
+ | Die „Geldschwemme“, | ||
+ | |||
+ | Aus dieser Sondersituation kann man Schlüsse auf den Normalfall ziehen, der mit den Maßnahmen ja wieder herbeigeführt werden soll. Wie in der Jour-fixe-Debatte am aktuellen Fall näher ausgeführt, | ||
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+ | **Literatur** | ||
+ | * Elmar Altvater, Der große Krach oder die Jahrhundertkrise von Wirtschaft und Finanzen, von Politik und Natur. Münster 2010. | ||
+ | * Joachim Bischoff, Finanzgetriebener Kapitalismus. Entstehung – Krise – Entwicklungstendenzen. Hamburg 2014. | ||
+ | * Colin Crouch, Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus – Postdemokratie II. Berlin 2011. | ||
+ | * Peter Decker/ | ||
+ | * Brett Easton Ellis, American Psycho. 15. Aufl., Köln 1999 (US-Originalausgabe 1991). | ||
+ | * Heiner Flassbeck, Zehn Mythen der Krise. Berlin 2012. | ||
+ | * David Graeber, Schulden – Die ersten 5000 Jahre. Stuttgart 2012. | ||
+ | * Claudia Honegger/ | ||
+ | * Jörg Huffschmid, Politische Ökonomie der Finanzmärkte. Hamburg 1999 (aktualisierte und erweiterte Neuausgabe 2002). | ||
+ | * Nick Leeson, Das Milliardenspiel – Wie ich die Barings-Bank ruinierte. Unter Mitarbeit von Edward Whitley. München 1997 (Englische Erstausgabe 1996). | ||
+ | * Ernst Lohoff/ | ||
+ | * Hermann Lueer, Der Grund der Finanzkrise – Von wegen unverantwortliche Spekulanten und habgierige Bankmanager. Münster 2009. | ||
+ | * MEW 23 - Karl Marx, Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. In: Marx-Engels-Werke, | ||
+ | * MEW 25 - Karl Marx, Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. In: Marx-Engels-Werke, | ||
+ | * Guenther Sandleben, Nationalökonomie & Staat – Zur Kritik der Theorie des Finanzkapitals. Hamburg 2003. | ||
+ | * Joseph Stiglitz, Die Schatten der Globalisierung. Berlin 2002. | ||
+ | * Anne T., Die Gier war grenzenlos – Eine deutsche Börsenhändlerin packt aus. Berlin 2009. | ||
+ | * Margaret Wirth/ | ||
+ | * Lucas Zeise, Geld – der vertrackte Kern des Kapitalismus. Versuch über die Politische Ökonomie des Finanzsektors. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage, Köln 2013 (Erstausgabe 2008). | ||
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+ | ---- | ||
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+ | ==== Dominus vobiscum: Katholische Kapitalismuskritik ==== | ||
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+ | <WRAP center round box 90%> | ||
+ | Papst Franziskus gilt heutzutage als der Gewährsmann einer radikalen Kapitalismuskritik, | ||
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+ | Mitte April 2016 war der Bergoglio-Papst, | ||
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+ | Die FAZ – bis zum deutschen Ratzinger-Papst hundert Prozent papsttreu – zeigte sich gleich mehrfach irritiert. Für den Katholizismus-Experten Daniel Deckers war es einerseits „ein gewaltiger Fortschritt, | ||
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+ | Auch in der Linken gab es Probleme mit der Würdigung dieses 266. Pontifikats. Sie bezogen sich vor allem auf die Hoffnung, von Rom gehe eine „franziskanische“ Revolution aus, die sich dem „imperialen kapitalistischen System“ entgegenstelle (vgl. Arntz 2016, Duchrow 2016). Der neue Papst war ja mit seinen Statements und lehramtlichen Schreiben – besonders mit dem Spruch „Diese Wirtschaft tötet“ – als der Gewährsmann einer heute angesagten Kapitalismuskritik eingestuft worden (vgl. den IVA-Blogeintrag „Oh Gott, katholische Kapitalismuskritik!“). Aus der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung in Deutschland wurde z.B. festgestellt: | ||
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+ | === Eine Revolution von unten, von oben und von ganz oben === | ||
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+ | Der Papst, so ein breiter linker Konsens, „greift in seinen Schriften und Ansprachen immer wieder das Wirtschaftssystem an, indem er die Vergötzung des Geldes und des Konsums entlarvt.“ (Kern 2016, 23) Und nicht nur das. Er soll mit seiner „Revolution von oben“ gleichzeitig „die sozialen Bewegungen als Subjekt gesellschaftlicher Veränderungen“ ins Auge gefasst haben (ebd.). „Dabei kommt es dem Papst eben nicht auf die EntscheidungsträgerInnen in Politik und Wirtschaft an, sondern auf die Veränderung von unten“ (ebd.). Beleg dafür soll sein, dass sich der Papst „erstmals in der Kirchengeschichte“ (ebd.) 2014 und 2015 mit Vertretern sozialer Bewegungen getroffen habe. Der Papst trifft sich in der Tat mit allen möglichen Personen aus Politik und Gesellschaft; | ||
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+ | Eine großartige Bevorzugung der Basis, einer Veränderung „von unten“, kann man dem nicht entnehmen. Bergoglio hatte ja auch schon in seinem Schreiben „Evangelii gaudium“ klargestellt, | ||
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+ | Es stimmt natürlich, wenn der Papst sich z.B. wie in Santa Cruz (Bolivien) im Juli 2015 an die „Volksbewegungen“ wendet, schlägt er radikalere Töne an, dann wird auch schon einmal „das Kapital“ erwähnt (Radio Vatikan 2015): „Hinter so viel Schmerz, so viel Tod und Zerstörung“, | ||
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+ | Es ist eine große, dicke, laute Anklage der Verhältnisse, | ||
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+ | Gerhard Feldbauer hat in der Jungen Welt zum Amtsjubiläum des Papstes eine Würdigung veröffentlicht, | ||
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+ | Feldbauers Fazit ist ebenfalls ernüchternd: | ||
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+ | === Sex sells: Amoris Laetitia === | ||
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+ | Das neue päpstliche Schreiben über Ehe und Familie „Amoris Laetitia“ („Freude der Liebe“) vom April 2016 kommt am Rande auch auf wirtschaftliche Probleme zu sprechen – wie gehabt als ungünstige Bedingung dafür, ein gottgefälliges Leben, hier im Kreise der Liebsten, zu führen. Das geschieht wieder in der ganz unbestimmten Redeweise von einer Wirtschaft, mit der es die Menschen heutzutage zu tun haben und von der man nichts Genaues erfährt, jedenfalls nicht, welchen Maßgaben sie folgt, wie sie geordnet ist oder wer in ihr was zu sagen hat. Einmal wird aus einem Text der Synodenberatungen zitiert und beiläufig von „wirtschaftlichen Konditionierungen“ wie der „Logik des Marktes“ gesprochen, die „ein authentisches Familienleben verhindern“ (AL 201). Das ist die einzige Stelle (neben einem Hinweis darauf, dass sich Menschen pornographisch vermarkten), | ||
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+ | Klar ist dem Papst, dass die schönen Worte übers Familienleben jemanden – bei ihm natürlich zunächst den Vater – voraussetzen, | ||
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+ | Eine rationale Haltung, die Arbeit als Aufwand betrachtet, den man möglichst verringert oder den man unterlässt, | ||
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+ | Das gilt natürlich nur als abstrakte Aussage, also nicht für die Lohnarbeiter im Kapitalismus, | ||
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+ | Ein zweckrationales Vorgehen, das sich die Befreiung von der Mühsal der Arbeit zum Ziel setzt, schließt der Papst bewusst aus. Das „Brot der Mühsal“ ist die Bestimmung des Menschen – und darf nicht angetastet werden. Deshalb ist auch Arbeitslosigkeit ein Frevel, sie verstößt gegen die Menschenwürde, | ||
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+ | Worauf der Papst also wieder abzielt, ist das zweckrationale Verhalten des Menschen gegenüber der Natur schlechthin. Dass er von seinem Interesse ausgeht, es der Natur aufzwingt, soll der Skandal sein. Dass er sie in „egoistischer und sogar brutaler Weise gebraucht“, | ||
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+ | Diese Pseudo-Kritik des Kapitalismus, | ||
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+ | Fleischmann hat Recht damit, hier auf die inhaltliche Verbindung zum reaktionären Vorgänger-Papst Ratzinger aufmerksam zu machen. Für die Beurteilung der gegenwärtigen katholischen Sozialkritik ist es nämlich nur eine Randfrage, ob Papst Franziskus sich jetzt mit der alten Garde im Vatikan umgibt oder die Spitzenkräfte des Lehramtes einem Revirement unterzieht. Viel wichtiger sind die sachlichen Übereinstimmungen mit der katholischen Lehrtradition. Und hier macht Franziskus ein ums andere Mal klar, dass er keinen Bruch, sondern explizit eine Anknüpfung an seine „offen reaktionären“ Vorgänger will, wie er sich ja überhaupt in die kirchliche Tradition stellt. Die will er nicht aufgeben, sondern eigentlich nur den Führungsstil, | ||
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+ | === Sozialer Katholizismus === | ||
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+ | Der deutsche Ratzinger-Papst hatte 2009 mit einiger Verspätung – woran möglicher Weise der Ausbruch der Finanzkrise Mitschuld trug – die Sozialenzyklika „Caritas in veritate“ vorgelegt. Sie war eine unverhohlene Apologie des Marktes und in dieser Form ein gewisses Novum im Korpus der autoritativen kirchlichen Texte. „Es muss die Sichtweise jener als unrichtig verworfen werden, nach denen die Marktwirtschaft strukturell auf eine Quote von Armut und Unterentwicklung angewiesen sei, um bestmöglich funktionieren zu können“, hieß es dort (CV 35). Benedikt fuhr fort: „Der Markt ist an sich nicht ein Ort der Unterdrückung des Armen durch den Reichen und darf daher auch nicht dazu werden. Die Gesellschaft muss sich nicht vor dem Markt schützen, als ob seine Entwicklung ipso facto zur Zerstörung wahrhaft menschlicher Beziehungen führen würde.“ (Nr. 36) Nun ist z.B. der Arbeitsmarkt, | ||
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+ | Und die katholische Soziallehre hat diese Konstellation von Anfang an – seit der ersten modernen Sozialenzyklika „Rerum novarum“ (1891), die dieses Jahr ihr 125. Jubiläum feiert – als ein soziales Zentralproblem betrachtet und sowohl auf dem Recht der gewerkschaftlichen Gegenwehr wie der Notwendigkeit staatlicher Eingriffe bestanden, was ihr ebenfalls von Anfang an den Verdacht sozialistischer Tendenzen eingebracht hat. Damit hat sie bestätigt, dass der Markt, zumindest an dieser Stelle, „ipso facto“ für die Lebensinteressen der arbeitenden Menschheit zerstörerisch und nur für das Gewinninteresse der Arbeitgeber förderlich wirkt, dass also erst durch eine Zusatzveranstaltung der Markt dazu gezwungen wird, „menschliche Beziehungen“ zuzulassen. Ein Zwang übrigens, der durchaus im Interesse der Marktwirtschaft liegt, wie die Arbeiterbewegung ihren Kontrahenten in langen Kämpfen klar gemacht hat und wie es die Enzyklika von Leo XIII. auch offen aussprach. | ||
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+ | In „Rerum novarum“ hieß es im Blick auf die Arbeiterbewegung, | ||
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+ | Feldbauer (2016) ist zuzustimmen, | ||
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+ | In seiner Studie zum Ratzinger-Papst hat Feldbauer rückblickend festgestellt, | ||
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+ | Auch seine Botschaft an die Mühseligen und Beladenen auf dem Globus heißt letztlich: Dominus vobiscum – der Herr sei mit euch! Und auch ihm, dem Papst „vom anderen Ende der Welt“ – wie er sich bei seiner Amtseinführung selbst bezeichnete –, sind „die bekannten mächtigen Demokratien des Abendlandes und der Neuen Welt das vorbildliche Nonplusultra weltlicher Macht, so dass einer zum Widerstand allzeit bereiten christlichen Kirche nur zwei Dinge zu tun bleiben, die sie auch brav erledigt: Sie geißelt die menschlichen Verirrungen und kapitalistischen Auswüchse, die sie im System der menschlichen Freiheit antrifft, auf dass die Glaubenswahrheiten zu ihrem Recht kommen. Und sie bringt sich als Agentur der Menschlichkeit ins Spiel bzw. in die Weltgeschichte ein, indem sie alle finsteren Herrschergestalten, | ||
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+ | **Literatur** | ||
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+ | * AL – Amoris Laetitia. Nachsynodales Apostolisches Schreiben des Heiligen Vaters Papst Franziskus. Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 204, Bonn 2016 (zit. als AL nach den Nummern der Abschnitte). | ||
+ | * Norbert Arntz, Eine „franziskanische“ Revolution in Rom? Von der imperialen Kirche zur befreienden Jesus-Bewegung. In: Sozial Extra, Nr. 2, 2016, S. 27-30. | ||
+ | * CV – Caritas in veritate. Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 186, Bonn 2009 (zit. als CV nach den Nummern der Abschnitte). | ||
+ | * EG – Evangelii gaudium, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 194, Bonn 2013 (zit. als EG nach den Nummern der Abschnitte). | ||
+ | * Gerhard Feldbauer, Der Heilige Vater Benedikt XVI. – Ein Papst und seine Tradition. Köln 2010. | ||
+ | * Gerhard Feldbauer, Der Versöhnler – Seit drei Jahren ist Papst Franziskus im Amt. Als Reformer gefeiert, will er sich mit seinen reaktionären Erzfeinden verständigen. In: Junge Welt, 13.4.2016. | ||
+ | * Kuno Füssel/ | ||
+ | * Peter Decker (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Peter Decker (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Ulrich Duchrow, „Diese Wirtschaft tötet“ – Kirchen gemeinsam gegen das imperiale kapitalistische System. In: Sozial Extra, Nr. 2, 2016, S. 32-34. | ||
+ | * Christoph Fleischmann, | ||
+ | * Karl Held (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Volker Hermsdorf, Gesegneter Putsch – Veröffentlichte Dokumente zeigen Unterstützung des Vatikans für Militär beim US-gelenkten Staatsstreich in Chile 1973. In: Junge Welt, 14.4.2016. | ||
+ | * Freerk Huisken, Der Papst als Kapitalismuskritiker: | ||
+ | * Freerk Huisken, Muße, oder: Über die Unterordnung des erlaubten Materialismus unter kapitalistische Notwendigkeiten. In: Die Freilerner, Nr. 69, 2016. Online: http:// | ||
+ | * KAB – Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) Deutschlands (Hrsg.), Texte zur katholischen Soziallehre – Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente. Köln 1975. | ||
+ | * Benedikt Kern, Geht die Kirche mit Papst Franziskus an die Ränder? Die Auswirkungen einer „Revolution von oben“ an der kirchlichen Basis. In: Sozial Extra, Nr. 2, 2016, S. 23-26. | ||
+ | * LS – Laudato si. Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 202, Bonn 2015 (zit. als LS nach den Nummern der Abschnitte). | ||
+ | * Radio Vatikan, Wir sagen nein zu allen Formen der Kolonialisierung. 10.7.2015. Online: http:// | ||
+ | * Radio Vatikan, Papstbotschaft an Weltwirtschaftsforum in Davos. 20.1.2016. Online: http:// | ||
+ | * Frank Schirrmacher, | ||
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+ | ===== März 2016 ===== | ||
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+ | ==== Betrifft: Flüchtlingspolitik ==== | ||
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+ | <WRAP center round box 90%> | ||
+ | Die Flüchtlingspolitik mit ihren nationalen wie europäischen Konsequenzen beherrscht seit Ende 2015 die Medien. Inzwischen gibt es aus den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften eine Reihe von Stellungnahmen, | ||
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+ | „Die Verantwortung für die ' | ||
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+ | Die bloße Reproduktion des amtlichen deutschen Standpunkts – bis März 2016 Merkels „Wir schaffen das“ –, die man auch in Politikberatung oder Sozialwissenschaften antrifft, ist dabei nicht Gegenstand (vgl. dazu Luft 2016). Es sei nur angemerkt, dass dort Verantwortungsübernahme und Ursachenforschung nicht verdrängt, sondern auf eigene Weise Berücksichtigung finden. So schreibt der stellvertretende Generalsekretär der Konrad-Adenauer-Stiftung in einem aktuellen Sammelband zur Flüchtlingspolitik: | ||
+ | |||
+ | Die Autoren aus der CDU-nahen Stiftung machen sich ferner – wie Bildzeitung, | ||
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+ | Verdrängt wird im politischen Diskurs auch nicht die Frage nach den Fluchtursachen. Bei der Adenauer-Stiftung heißt es z.B.: „Fluchtursachenbekämpfung ist ... nicht nur unsere humanitäre und christliche Pflicht, sondern liegt auch in unserem eigenen Interesse an einer funktionierenden staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung in Deutschland. Dabei sind Flucht und Migration langfristige Themen, die uns ungeachtet der aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen in Europas Nachbarschaft auch in Zukunft beschäftigen werden, und zwar in allen Ländern Europas. Deshalb ist die Strategie der Bundeskanzlerin, | ||
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+ | Dass die Investition in eine neue weltpolitische Rolle Deutschlands bei der Wende der Flüchtlingspolitik vom Herbst 2015 eine entscheidende Rolle gespielt hat – und nicht die pure Barmherzigkeit, | ||
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+ | === Angekommen === | ||
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+ | „Auch wenn keiner der Geflüchteten es sich wirklich ausgesucht hat und wohl eher der Wunsch auf ein besseres Leben sie antrieb als der Wunsch, politische Botschaften zu übersenden, | ||
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+ | Die Autorin fasst das auch so zusammen: „Im Kern verweisen die Migrationsbewegungen nach Europa auf ein grundlegenderes Problem (= als bloß aufs deutsch-europäische Politikversagen, | ||
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+ | Für eine Politikerin der Linken ist natürlich klar, dass das die Bundesrepublik ist – nicht die real existierende, | ||
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+ | Hier erscheint also die politische Linie, wie sie von der deutschen Bundeskanzlerin (zumindest bis Ende Februar 2016) hartnäckig verfolgt wird, als Aufbruch zu neuen Ufern. Natürlich hat Kipping – wie die Linkspartei überhaupt – an der Aufführung der Großen Koalition einiges auszusetzen und sie schlägt auch radikale Töne an: Es müsse jetzt „ans Eingemachte, | ||
+ | |||
+ | Aber will und kann Deutschland diesen Weg gehen? Hier melden dann neuere Studien, so der Wissenschaftler Hans Kundnani in seinem Buch übers „Paradox der deutschen Stärke“ (2016a), Zweifel an. Die Bewältigung der Eurokrise habe bereits Deutschlands zögerliche oder widersprüchliche Initiative, die mangelnde Führungsstärke oder die endemische „german angst“ dokumentiert. „Die Ereignisse der letzten fünf Jahre – und insbesondere die Flüchtlingskrise – lassen also vermuten, dass Deutschland nicht nur nicht willens, sondern auch nicht in der Lage ist, ein europäischer Hegemon zu sein“ (Kundnani 2016b, 74). Das deutsch dominierte Europa – bis zum Sommer 2015 noch ein machtvolles, | ||
+ | |||
+ | Die Schwierigkeiten der deutschen Politik, die Flüchtlingskrise zu lösen, werden von vielen linken Kritikern mitfühlend problematisiert – sei es im Blick auf die europapolitischen Zerwürfnisse, | ||
+ | |||
+ | Doch auch die Linke beherrscht die christdemokratische Dialektik von der Krise als Chance. „Paradoxerweise birgt gerade die Krise Europas die Chance zu einem Kompromiss in der Flüchtlingsfrage“ (Menzel 2016, 44), schreibt der Sozialwissenschaftler Ulrich Menzel und sieht die langfristige Lösung in einem neuen europäischen Selbstverständnis als „Einwanderungskontinent“ (ebd., 45), während sich die kurzfristigen Optionen – neben der unproduktiven Renationalisierung Europas – in zwei Möglichkeiten, | ||
+ | |||
+ | Ob Merkel weiter durchhält, wird dann zur Frage. „Sofern es den reaktionärsten Kräften im Kabinett nicht gelingt, Merkel zu stürzen, wird erst im Herbst 2017 gewählt“, | ||
+ | |||
+ | Der Armutsforscher Christoph Butterwegge bringt diesen Aspekt in die schönfärberische Debatte über Integration ein. Und soweit ist es korrekt: Die Flüchtlinge kommen zwar in einer deutschen Willkommenskultur an, diese gibt ihnen aber kein Zuhause. Das müssen sie sich dadurch verschaffen, | ||
+ | |||
+ | Wenn man die harte Realität der Eingliederung in die Konkurrenz um Bildungs- und Berufschancen nicht in den Blick nimmt, wird die Integrationsaufgabe idealistisch überhöht, so als ginge es hierzulande bloß noch um den Ausbau „eines inklusiven Bildungssystems, | ||
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+ | Einmal wird, so von Elmar Altvater, eine Krise des Weltkapitalismus diagnostiziert, | ||
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+ | Zum andern werden die Interessen der Wirtschaft an Zuwanderung als treibende Kraft, als Aktivposten oder problematische Größe verbucht. Wie von Kipping angesprochen, | ||
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+ | Drittens und als entscheidender Punkt ist hier festzuhalten: | ||
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+ | Dagegen muss man dann doch an die eingangs erwähnten Bemerkungen Kippings über die „imperiale Außenpolitik“ Deutschlands erinnern. Oder wie es andere Beobachter voller Enttäuschung über die europäische Wertegemeinschaft ausdrücken: | ||
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+ | === Abgehauen === | ||
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+ | Huiskens Flugschrift „Abgehauen“ (2016) legt den imperialistischen Charakter des modernen Flüchtlingsproblems systematisch dar. Sie beginnt mit dem Selbstlob Deutschlands als „Flüchtlingsparadies“ – also mit der maßlosen Übertreibung, | ||
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+ | Sachlich naheliegend thematisiert das folgende dritte Kapitel die Fluchtursachen, | ||
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+ | Die Art und Weise, wie Menschen sich im Rahmen von Asylgrundrecht und Schengengrenzregime diesen Staaten unterstellen, | ||
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+ | Das sechste Kapitel geht auf den Paradigmenwechsel ein, der im September 2015 mit Merkels „Wir schaffen das“ in die Welt kam. Dass die deutsche Kanzlerin, die sich zuletzt bei der Regelung der griechischen Krise als unbarmherzige Verfechterin von Sparpolitik und Volksverarmung erwiesen hatte, womöglich Mitleid mit notleidenden Menschen empfunden habe, will Huisken nicht groß bestreiten. Er weist nur auf den politischen Gehalt dieses Kurswechsels hin, der immerhin von allen maßgeblichen Parteigrößen in Deutschland – mit Ausnahme natürlich von AfD & Co. – so weit mitgetragen wird, dass die Regierung im Amt bleibt und alle einschlägigen Gesetzesvorhaben realisieren kann. Fazit: „Der Schlussfolgerung, | ||
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+ | Dieses Fazit wird dann im siebten Kapitel („Deutsche Flüchtlingspolitik als imperialistische Offensive“) und im achten („Integration der ' | ||
+ | |||
+ | Hier hat auch der Bundespräsident seinen Beitrag geleistet und im Streit über das Für und Wider von Obergrenzen eine merkwürdige vermittelnde Position („Begrenzung schafft Akzeptanz“) eingenommen. Ihm ging es dabei nicht um eine Unterstützung politischer Strömungen von AfD bis CSU, sondern – ganz staatspolitisch – darum, eine Spaltung des deutschen Volkes entlang der Flüchtlingsfrage zu verhindern. Huisken kommentiert: | ||
+ | |||
+ | „Wie auch immer der Streit um Führungsstärke und nationale Entschlossenheit zwischen den beteiligten Figuren ausgehen wird, an den imperialistischen Gründen für die Massenflucht von Menschen, welche ihr Leben in ihrer Heimat massiv bedroht sehen, am Massensterben in Wüsten und Meeren, an Flüchtlingen, | ||
+ | |||
+ | Aber die grundsätzliche Klärung des deutschen Politikwechsels vom Herbst 2015 ist hier geleistet. Außerdem enthält das Buch einige Zusätze, nämlich zwei Exkurse, die sich mit dem Lob der Flüchtlinge durch deutsche Arbeitgeber und mit den Schwierigkeiten demokratischer Werteerziehung befassen. Zudem gibt es einen kurzen Rekurs auf das „antirassistische Tagebuch“ des Autors aus dem Jahr 1993, das unter anderem die einzelnen Schritte hin zur deutschen Asylrechtsreform von Anfang der 90er Jahre dokumentiert (vgl. Huisken 1993; das Buch ist vergriffen, die 2. Auflage von 2001 „Nichts als Nationalismus 1“ ist jedoch als Download zugänglich: | ||
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+ | **Literatur** | ||
+ | * Elmar Altvater, Zerstörung und Flucht – Von der Hierarchie der Märkte zur Migrationskrise in Europa. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 1, 2016a, S. 84-94. | ||
+ | * Elmar Altvater, Offene Märkte, geschlossene Grenzen – Ohne Migration endet die europäische Integration als monströser Markt. In: Z – Zeitschrift für marxistische Erneuerung, Nr. 105, März 2016b, S. 14-28. | ||
+ | * Christoph Butterwegge, | ||
+ | * Christoph Butterwegge, | ||
+ | * Peter Decker (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Peter Decker (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Helmut Fehr, In geschlossener Gesellschaft – Ostmitteleuropa und die Rückkehr des Autoritären. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 1, 2016, S. 77-83. | ||
+ | * Norbert Frieters-Reermann, | ||
+ | * Julia Fritzsche/ | ||
+ | * Peer Heinelt, Deutschstunde – Die hiesige Debatte über Grundwerte und Leitkultur flankiert ideologisch die repressive Flüchtlingspolitik. In: Konkret, Nr. 1, 2016, S. 28-31. | ||
+ | * Freerk Huisken, Nichts als Nationalismus – Deutsche Lehren aus Rostock und Mölln. Ein antirassistisches Tagebuch. Hamburg 1993, Neuauflage (Nichts als Nationalismus 1) 2001. | ||
+ | * Freerk Huisken, Brandstifter als Feuerwehr: Die Rechtsextremismus-Kampagne. Nichts als Nationalismus 2. Hamburg 2001. | ||
+ | * Freerk Huisken, Abgehauen – Eingelagert aufgefischt durchsortiert abgewehrt eingebaut: Neue deutsche Flüchtlingspolitik. Eine Flugschrift. Hamburg 2016. | ||
+ | * KAS – Konrad-Adenauer-Stiftung (Hg.), Flucht und Migration als Herausforderung für Europa – Internationale und nationale Perspektiven aus der Arbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung. Sankt Augustin/ | ||
+ | * Katja Kipping, Nicht immer mehr, sondern ganz anders – Warum uns die Flüchtlingsbewegung die Systemfrage stellt. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 2, 2016a, S. 75-88. | ||
+ | * Katja Kipping, Wer flüchtet schon freiwillig – Die Verantwortung des Westens oder warum sich unsere Gesellschaft neu erfinden muss. Frankfurt/ | ||
+ | * Hans Kundnani, German Power – Das Paradox der deutschen Stärke. München 2016a. | ||
+ | * Hans Kundnani, Die Geschichte kehrt zurück: Deutschlands fatale Rolle in Europa. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 2, 2016b, S. 64-74. | ||
+ | * Albrecht von Lucke, Staat ohne Macht, Integration ohne Chance. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 2, 2016, S. 5-8. | ||
+ | * Stefan Luft, Die Flüchtlingskrise – Ursachen, Konflikte, Folgen. München 2016. | ||
+ | * Ulrich Menzel, Welt am Kipppunkt – Die neue Unregierbarkeit und der Vormarsch der Anarchie. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 1, 2016, S. 35-45. | ||
+ | * Markus Metz/Georg Seeßlen, Hass und Hoffnung – Deutschland, | ||
+ | * Philipp Ratfisch/ | ||
+ | * Stefan Ripplinger, Entsichert und geladen – Nach der Kölner Silvesternacht macht sich das deutsche Bürgertum auf den Rückweg in autoritäre Verhältnisse. In: Konkret, Nr. 3, 2016, S. 12-13. | ||
+ | * Conrad Schuhler, Die Große Flucht – Ursachen, Hintergründe, | ||
+ | * Anke Schwarzer, Integration im Sanktionsmodus. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 3, 2016, S. 9-12. | ||
+ | * Z-Redaktion, | ||
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+ | ==== Streit um die Flüchtlingspolitik ==== | ||
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+ | <WRAP center round box 90%> | ||
+ | „Nach Köln“ und „nach Brüssel“ wird der Streit um die deutsche Flüchtlingspolitik schärfer. Und man fragt sich: Gibt es eigentlich neben der Angst vor der „arabischen Invasion“ (Papst Franziskus) auch noch eine linke Opposition oder Debatte, die mehr will als das „Wir schaffen das“ der Kanzlerin „mit Leben zu erfüllen“ (Linkspartei)? | ||
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+ | Von der rechten bis rechtsradikalen Opposition abgesehen scheint fast alle progressiven, | ||
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+ | === Parlamentarischer Konsens === | ||
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+ | Für die grüne und linke parlamentarische Opposition heißt der Imperativ jedenfalls glasklar: Integration muss gelingen; das, was begonnen wurde, ist in eine nationale Erfolgsgeschichte zu verwandeln. „2016 muss ein Jahr der Integration werden, ein Jahr des Aufbruchs zu einem neuen Miteinander. Dafür gibt es bereits gute Ansätze: Integration von Flüchtlingen findet täglich erfolgreich statt. Sie wird längst gelebt in Städten und Gemeinden… Der gegenwärtige Integrationsprozess ist die Grundlage für unser zukünftiges Zusammenleben. Jetzt muss der Boden für die ersten Schritte in Deutschland bereitet werden, für die mittelfristige Integration von Flüchtlingen in Bildung und Beruf und für die Klärung, ob sie eine langfristige Perspektive als Bürgerinnen und Bürger Deutschlands anstreben.“ (Bündnis 90/Die Grünen 2016, 1, 2). Für die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen hat die regierende Koalition Deutschland auf einen guten Weg gebracht. Der muss jetzt weiter beschritten werden, wobei man natürlich auch, wie es sich für eine Opposition gehört, vielfaches Versagen beim Regierungskurs feststellen kann. So vermissen die Grünen, was immer gut kommt, ein „Gesamtkonzept“ (ebd., 8), ohne das selbstverständlich Politik nie im Ganzen gelingen kann. | ||
+ | |||
+ | Aus der Linkspartei gibt es ähnliche Stimmen. Die Brandenburger Linke hat nach den Landtagswahlen vom März „in Diskussionen mit anderen Landesverbänden formuliert, wie ' | ||
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+ | Das ist aber nicht mehr unbedingt der Konsens der Partei. Die FAZ informiert genüsslich über die Fortschritte im linksoppositionellen Diskurs: „Solche Töne sind innerhalb der Linkspartei nicht mehr selbstverständlich. Sahra Wagenknecht, | ||
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+ | Muss man sich also perspektivisch nicht nur auf eine Mitwirkung der Partei Die Linke bei einer Deutschland-Koalition, | ||
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+ | === Linke Debatte === | ||
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+ | In der Linken sind Zweifel am humanistischen Charakter der deutschen Linie in Sachen Flüchtlingselend aufgekommen. Bis in die Reihen der Linkspartei hinein, etwa bei der Vorsitzenden Katja Kipping, wurde der Verdacht einer „imperialen Außenpolitik“ (Kipping 2016, 80) laut und die Sorge vor weiteren Verelendungsschüben am Standort D geäußert (siehe IVA-Blog vom 14.3.2016). Doch ein solcher Verdacht wurde vielerorts nur vorgebracht, | ||
+ | |||
+ | Eine Klärung bietet dagegen Huisken an. Doch die will der Rezensent nur als interessante Interpretation gelten lassen, die „erfrischend zu lesen“ sei: „Auf einer abstrakten analytischen Ebene mag man Huisken in vielem zustimmen. Doch seine Argumentation greift mit ihrer Rigidität und Einseitigkeit letztlich doch zu kurz.“ (Ebd.) Dürftiger kann die Auseinandersetzung mit einem Buch und seiner Grundthese, die der Rezensent ja zur Kenntnis genommen hat, nicht ausfallen. Dass der Autor am Flüchtlingselend die „imperialistischen Gründe“ namhaft macht, wird als eine mögliche Sichtweise generös zugestanden: | ||
+ | |||
+ | Wenn er schon die „anspruchsvollen“ Publikationen Huiskens würdigt, hätte der Rezensent dies auch auf die vorliegende beziehen können. Die argumentiert nämlich gar nicht so einseitig und platt, dass sie Merkel alle Menschlichkeit absprechen würde. Im Gegenteil, ein eigenes Kapitel (Huisken 2016, 68ff) analysiert die deutsche Entscheidungsfindung vom Spätsommer 2015 und fragt danach, ob man diese allein auf berechnungslose Barmherzigkeit zurückzuführen habe, ob es nicht vielmehr notwendig sei, den politischen Gehalt der Entscheidung zu überprüfen – einer Entscheidung übrigens, die im Konsens der gesamten politischen Führung getroffen wurde. Huisken schreibt dazu: „Das mit der Barmherzigkeit soll gar nicht geleugnet werden. Bei den Bildern aus Ungarn, garniert mit den Sprüchen von Orbán, kann einem schon die Galle hochkommen. Gegen Mitleid mag auch die Kanzlerin einer Mittelmacht wie Deutschland, | ||
+ | |||
+ | Ganz ohne Begründung will Speckmann dann die Abkanzelung des für halbwegs interessant befundenen Buchs nicht stehen lassen. „Einwände liegen umgehend auf der Hand“ und er nennt wenigstens einen: „Für Geflüchtete, | ||
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+ | Die Ehrenrettung der Bundeskanzlerin ist überhaupt äußerst abgebrüht. Es stimmt ja, es gibt alternative imperialistische Strategien, wie dies die Führungsmacht des westlichen Bündnisses seit Jahrzehnten vorexerziert: | ||
+ | |||
+ | Und Huisken legt gerade Wert darauf, die spezielle deutsche Variante eines humanistischen Imperialismus – der ungarische Premier sprach vom „moralischen Imperialismus“ – und dessen Schwierigkeiten, | ||
+ | |||
+ | In der linken Debatte spielen natürlich die neueren Entwicklungen „nach Köln“ und auf dem Weg zum Asylpaket II eine besondere Rolle. (Überblicksdarstellungen zu den Einzelheiten der rasch aufeinander folgenden nationalen wie europäischen Maßnahmenpakete finden sich auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung: www.bpb.de; vgl. Hanewinkel 2016.) Die Entwicklungen werden häufig als Abschied von der Willkommenskultur verstanden, wo sie doch – siehe oben – gerade deren Konsequenz sind. Dann erscheint es so, als ob die ursprünglich waltende Menschlichkeit mittlerweile in politisches Kalkül umgeschlagen sei. Ober die Beobachter sehen sich in ihrer Auffassung bestätigt, dass es der deutschen Kanzlerin sowieso nie um Hilfe für Flüchtlinge gegangen ist. | ||
+ | |||
+ | Die verschärfte Tonlage, die „deutsche Härte“ (Heinelt 2016), wird aufmerksam registriert. Aus dem christ- und sozialdemokratischen Lager lassen sich natürlich massenhaft Belege dafür finden, dass die nationalistischen Bedenken im Volk bei der Führung auf Verständnis stoßen. „Wenn Merkel erst wie Petry auftritt, braucht es die eine nicht mehr. Oder die andere“, kommentiert Hermann L. Gremliza (2016, 9). Die praktischen Verschärfungen, | ||
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+ | Das sehen andere Autoren ähnlich, wenden sich aber gegen die vorherrschende „neoliberale Integrationslogik“ (Koch/ | ||
+ | |||
+ | Fatal ist es, wenn auf solche ausländerskeptischen bis -feindlichen Positionen damit reagiert wird, dass man ein idealistisches Bild der Integration entwirft, sie als zweiseitige Angelegenheit in einer auf Inklusion getrimmten Gesellschaft definiert, was eine Bring- und eine Holschuld oder die Chance der kulturellen Bereicherung einschließe, | ||
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+ | **Literatur** | ||
+ | |||
+ | * Seyran Ateş, „Der Islam braucht eine sexuelle Revolution“ – Seyran Ateş im Interview mit Natascha Roshani. In: Fluter – Magazin der Bundeszentrale für politische Bildung, Nr. 58, 2016, S. 40-42. | ||
+ | * Bündnis 90/Die Grünen, Integration ist gelebte Demokratie und stärkt den sozialen Zusammenhalt. Antrag der Abgeordneten Amtsberg u.a., Deutscher Bundestag, Drucksache BT 18/7651, 24.2.2016. | ||
+ | * Marcel Fratzscher, Republik ohne Chancengleichheit: | ||
+ | * Marcel Fratzscher, Verteilungskampf: | ||
+ | * Hermann L. Gremliza, Er ist wieder da. In: Konkret, Nr. 4, 2016, S. 8-9. | ||
+ | * Vera Hanewinkel, Migrationspolitik – Februar 2016. Themenseite Flucht der Bundeszentrale für politische Bildung, online: www.bpb.de, 1.3.2016. | ||
+ | * Georg Paul Hefty, Vor lauter Schlagbaum die Grenze verpasst. In: FAZ, 12.3.2016. | ||
+ | * Peer Heinelt, Deutsche Härte – Über den deutschen Einfallsreichtum in Sachen Flüchtlingsabwehr. In: Konkret, Nr. 4, 2016, S. 12-14. | ||
+ | * Freerk Huisken, Abgehauen – Eingelagert aufgefischt durchsortiert abgewehrt eingebaut: Neue deutsche Flüchtlingspolitik. Eine Flugschrift. Hamburg 2016. | ||
+ | * Katja Kipping, Nicht immer mehr, sondern ganz anders – Warum uns die Flüchtlingsbewegung die Systemfrage stellt. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 2, 2016, S. 75-88. | ||
+ | * Martin Koch/Lars Niggemeyer, Der Flüchtling als Humankapital – Wider die neoliberale Integrationslogik. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 4, 2016, S. 83-89. | ||
+ | * Christa Schaffmann, Und was machen wir? Rückblick auf den Kongress „Migration und Rassismus“ der Neuen Gesellschaft für Psychologie in Berlin. In: Junge Welt, 11.3.2016. | ||
+ | * Conrad Schuhler, Wie wir es wirklich schaffen können, die „Flüchtlingskrise“ humanistisch und solidarisch zu meistern. Online: https:// | ||
+ | * Guido Speckmann, Alles Berufsnationalisten – Freerk Huisken interpretiert die neue deutsche Flüchtlingspolitik als Machtstreben. In: Neues Deutschland, | ||
+ | |||
+ | |||
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+ | ==== IS: macht Staat ==== | ||
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+ | <WRAP center round box 90%> | ||
+ | „Die in missverständlicher Weise ' | ||
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+ | „Bei jeder Nennung des Namens ' | ||
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+ | Das ist schon interessant: | ||
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+ | === Eine „heilige Staatsgründung“... === | ||
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+ | „Wie wenig es Extremisten um den Glauben an sich geht, offenbart besonders zynisch der ' | ||
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+ | Man erfährt in dem Spiegel-Artikel zwar auch – was in dieser Schärfe hier erstmals zu lesen ist –, dass der gegenwärtige fundamentalistisch-terroristische Spuk im Namen Allahs ein Werk der USA ist, die sich in Afghanistan zur Zeit des Ost-West-Gegensatzes entschlossen, | ||
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+ | Auch der Gegenstandpunkt weist darauf hin, dass der Aufstieg fundamentalistischer Gotteskrieger erst einmal seine brauchbaren Seiten für die westlichen Weltordnungsansprüche hatte und, im Fall des Falles, immer noch hat. Von wegen Missbrauch der Religion! Wenn sich in deren Namen antikommunistische Mudschaheddin in Afghanistan oder sezessionistische Milizen in Bosnien-Herzegowina aufmachten, fand das den Segen der Nato und der Koalitionen unter US-Führung. In Syrien und Libyen haben die Gotteskrieger ebenfalls gute Dienste geleistet etc. So kann man konstatieren, | ||
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+ | Die Analyse von Decker und Co. widerspricht vor allem der gängigen Nicht-Erklärung des IS: Weder Religion noch Staat! Diese Fehlanzeige stellte der Westen, dessen Führungsmacht 2014 den neuen Krieg gegen den Terror ausrief, dem frommen Projekt aus. Politiker und Öffentlichkeit sprachen „dem störenden Emporkömmling überhaupt jedes politische Motiv und jeden Zweck ab“ (Decker 2014, 97). Statt dessen gelten die frommen Krieger als „das reine Böse, das nichts will als die Vernichtung des Guten: Gewalt um der Gewalt, Mord um des Mordes willen. Der Islamische Staat wird zum Feind der Menschheit deklariert, der vernichtet werden muss, um die Zivilisation zu retten. Gegen ihn ist alle Gewalt legitim und die Mithilfe aller Länder fällig“ (ebd.). Die erste Analyse des Gegenstandpunkts von 2014 konzentrierte sich auf den Nachweis, dass sich das IS-Unternehmen aus einer – zwar verrückten, | ||
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+ | Der neue Gegenstandpunkt (GS 1/16), der seit Mitte März vorliegt, setzt diese Analyse fort. Hier wird dann auch ausführlich die Kampfansage der gesamten ' | ||
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+ | Der entscheidende Streitpunkt dürfte aber, wie erwähnt, die Frage nach Religion und Staat sein. Dass beides dem IS abgesprochen wird, verdankt sich nicht, wie der GS-Artikel nachweist, der Kenntnisnahme der Besonderheiten dieser Staatsgründung, | ||
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+ | „Dass Menschenmassen als nationale Kollektivsubjekte definiert, auf einem – dafür gegebenenfalls erst zu ' | ||
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+ | === … und die Aufklärung des Westens === | ||
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+ | Die Fachzeitschrift Politikum hat in ihrer Ausgabe 3/15 den IS zum Schwerpunktthema gemacht und Politikwissenschaftler, | ||
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+ | Was der IS ist, woher er kommt, was er will, bleibt im Dunklen, genauer gesagt: löst sich ganz in die manichäische Betrachtung der Welt auf, derzufolge das Böse als der Gegner der Völkerfamilie auftritt, den wir als die Guten – oder diejenigen, die das Gute wollen – auszumerzen haben. Bzw. eigentlich zu tun hätten, aber wegen einer eigenartigen Uneinigkeit der UNO und, nachdem diese beseitigt ist, auf Grund der nachfolgenden „gegenläufigen Interessen der Koalitionsmitglieder“ (ebd., 39) nicht richtig hinkriegen. Fazit: An der Erkenntnis, dass dem IS-Unwesen „zunächst nur mit Gewalt begegnet werden kann, führt kein Weg vorbei“ (ebd., 38). Das „zunächst“ bedeutet aber nicht, dass Oberst Härle Bedenken beim eigenen Gewalteinsatz hätte – bei dem die BRD, wie er berichtet, maßgeblich beteiligt ist – und eine zu anderen Strategien führende Lagebeurteilung oder Ursachenforschung betreiben würde. Es ist damit nur gemeint, dass nach einer gewaltsamen Niederschlagung des IS-Unternehmens eine stabile, also durch NATO-Gewalt garantierte, | ||
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+ | Aussagen zu dem, was diesen Feind treibt, gibt es nicht, dafür scheinbar aufschlussreiche Einblicke in seinen Werdegang oder seine Hintergründe. Der IS kommt nicht aus dem Nichts, erklärt z.B. Härle gleich eingangs, denn, so die geniale Auflösung, er existiert schon seit längerem, circa seit dem Jahr 2000. Nachdem man also weiß, dass er nicht aus dem Heute, sondern aus dem Gestern kommt, gibt es eine weitere Entdeckung: Der IS hat in der Nahost-Region „ein Machtvakuum“ (ebd., 37) ausgenutzt. Ein Vakuum ist bekanntlich ein Nichts in der materiellen Welt, aus dem der Spuk also hervorgegangen sein soll. Aber war das nicht gerade zurückgewiesen worden? Egal! Spurenelemente einer Erklärung finden sich auch bei Maaßen, der ja bei seiner Schilderung der Propaganda, mit der der IS die Welt überflutet und aufs geschickteste die modernen Informationskanäle bestückt, irgendwo einmal mit einigen Sätzen auf die Inhalte dieser Propaganda eingehen muss. Drei Sätze finden sich denn auch in dem Text: Mit der Protestpose, | ||
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+ | Wegen seiner Bedenklichkeit im ersten Satz sollte der Autor einmal bei Oberst Härle vorstellig werden. Dort könnte er etwas darüber erfahren, warum das Weltordnen ein hartes Brot ist und nur mit Gewaltanwendung geht, ja dass man sich sogar damit brüsten kann, dass Deutschland bei diesem brutalen Geschäft vorne mit dabei ist. Dass die „Normen der Scharia“ für den IS maßgeblich sind, kann man nicht bestreiten. Doch ist es etwas Ungewöhnliches, | ||
+ | Das vorherrschende Expertentum weiß dagegen eins mit Bestimmtheit: | ||
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+ | Das Buch des Journalisten Schirra (der für die Zeit, Cicero und die Welt tätig war) erschien Anfang 2015, nachdem der Autor sich 2003 und 2014 im Nahen Osten aufgehalten hatte und Augenzeuge des Siegeszugs des IS geworden war. Er sprach u.a. mit Kämpfern und Opfern, mit deutschen Salafisten und Dschihad-Aussteigern, | ||
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+ | In analytischer Hinsicht – vor allem im Blick auf Gründe, Ziele und Mittel der terroristischen Neuformierung – hat das Buch kaum etwas zu bieten. Das verdankt sich dem von vornherein gewählten Blickwinkel des Autors, der eine klare Zuweisung von Verantwortung und Opferrolle vornimmt: „Wir“ sind das unschuldige, | ||
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+ | Das Buch hat vielleicht als Dokument einer Geisteshaltung Wert. Es macht den Leser mit dem Weltbild eines Embedded Journalist bekannt, also mit der selbstbewussten Haltung eines Menschen, der, unterstützt von militärischen, | ||
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+ | Das hängt mit seiner klar entschiedenen Parteilichkeit zusammen. Dass die Region von Nordafrika bis zum Nahen Osten durch Krieg und Bürgerkrieg verwüstet ist, darf per definitionem nichts mit dem Westen zu tun haben. Zwar kennt auch Schirra die Verwüstungen, | ||
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+ | Andere Expertisen gibt es natürlich auch, die sich von der Anlage her wissenschaftlicher geben, so das Buch von Behnam T. Said (2015), das in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen ist. Der Autor ist Mitarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutz in Hamburg, wie ja überhaupt ein Großteil der neueren islamwissenschaftlichen Literatur von Angestellten der Sicherheitsbehörden stammt (vgl. Schoene 2015) – was dem Leser nicht immer mitgeteilt wird. Wenn die Autoren weiter ausholen (vgl. Buchta 2016, Steinberg 2015), wird dann eine Vielzahl von Faktoren aufgezählt, | ||
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+ | **Literatur** | ||
+ | * Wilfried Buchta, Terror vor Europas Toren – Der Islamische Staat, Iraks Zerfall und Amerikas Ohnmacht. Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Nr. 1695, Bonn 2016. | ||
+ | * Peter Decker (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Peter Decker (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Peter Härle, Eine globale Strategie gegen den „Islamischen Staat“. In: Politikum, Nr. 3, 2015, S. 36-42. | ||
+ | * Oliver Hanne/ | ||
+ | * Hans-Georg Maaßen, Jihadistische Propaganda im Internet – Der „Islamische Staat“ nimmt den Westen ins Visier. In: Politikum, Nr. 3, 2015, S. 44-48. | ||
+ | * Aylin Matlé, Bücher zum Thema (u.a. Rezension zu Schirra, ISIS). In: Politikum, Nr. 3, 2015, S. 88-91. | ||
+ | * Behnam T. Said, Islamischer Staat – IS-Miliz, al-Qaida und die deutschen Brigaden. Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Nr. 1546, Bonn 2015. | ||
+ | * Bruno Schirra, ISIS – Der globale Dshihad. Wie der „Islamische Staat“ den Terror nach Europa trägt. Berlin 2015. | ||
+ | * Stefanie Schoene, Literaturagenten. In: Freitag, Nr. 9, 2015. | ||
+ | * Guido Steinberg, Kalifat des Schreckens – IS und die Bedrohung durch den islamistischen Terror. München 2015. | ||
+ | * Johannes Varwick (Hg.), Islamischer Staat. Schwerpunktheft von: Politikum – Analysen, Kontroversen, | ||
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+ | ===== Februar 2016 ===== | ||
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+ | ==== Arbeit und Reichtum – Thesen ==== | ||
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+ | <WRAP center round box 90%> | ||
+ | Die „Kluft zwischen Arm und Reich“ ist der geläufige Klagetitel, mit dem sich die politische Öffentlichkeit, | ||
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+ | Arbeiten in der Marktwirtschaft steht unter dem Gebot der Rentabilität und des darin enthaltenen Widerspruchs, | ||
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+ | === Thesen zum kapitalistischen Verhältnis zwischen Arbeit und Reichtum === | ||
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+ | I. | ||
+ | Das Arbeiten für Geld ist von der Eigentumsordnung erzwungen und dient der Vermehrung des Privateigentums durch fremde Arbeit. | ||
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+ | II. | ||
+ | Für seine Vermehrung beugt unternehmerisch angewandtes Eigentum die Bezahlung und Anwendung der Arbeit unter das Gebot der Rentabilität: | ||
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+ | III. | ||
+ | Unternehmen steigern ihre Rentabilität entscheidend dadurch, dass sie die technische Steigerung der Produktivkraft der Arbeit zur Senkung der Lohnstückkosten nutzen, um mit gesenkten Warenpreisen um das Geld der Gesellschaft zu konkurrieren. | ||
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+ | IV. | ||
+ | Unternehmen nutzen den Kredit, die vergesellschaftete Privatmacht des Geldes, zur Steigerung ihrer Produktivität bzw. Rentabilität für die Konkurrenz um das Geld der Gesellschaft. Wegen der Wucht, die der Kredit für die Rentabilitätssteigerung hat, konkurrieren die Unternehmen mit ihrer Produktivitäts- bzw. Rentabilitätssteigerung um Kredit. Da der Kredit den Unternehmen in der Spekulation auf künftige Konkurrenzerfolge zur Verfügung gestellt wird, haben Unternehmen gegenüber den Kreditgebern ihre Kreditwürdigkeit durch eine konkurrenzfähige Senkung der Lohnstückkosten zu belegen. | ||
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+ | V. | ||
+ | Auf dem Weltmarkt konkurrieren Unternehmen mit der Produktivitäts- bzw. Rentabilitätssteigerung um das Geld bzw. die Gelder der Welt. In der Weltmarktkonkurrenz setzen Unternehmen aus Nationen mit fortgeschrittener Produktivität bzw. Rentabilität den weltweit gültigen Maßstab für die Rentabilität der Arbeit, an dem sich die Unternehmen und Gelder aller Nationen zu bewähren haben; weswegen sie eine dem nationalen Rentabilitätsniveau entsprechende Sortierung erfahren. | ||
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+ | VI. | ||
+ | Staaten, die mit Geld regieren, konkurrieren auf dem Weltmarkt mit der Produktivität bzw. Rentabilität der nationalen Arbeit um die Stabilität ihres nationalen Geldes. Für dessen Gebrauch als globales Geschäftsmittel leisten sie nationalen Unternehmen und Kreditinstituten politische Hilfestellung bei der Steigerung ihrer internationalen Konkurrenz- und Finanzmacht, | ||
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+ | Die Thesen basieren auf dem Buch von Margaret Wirth und Wolfgang Möhl „' | ||
+ | Beim Münchner Jour Fixe des Gegenstandpunkts wurde übrigens im Jahr 2012 eine längere Diskussion über die in dem Buch entwickelten Thesen zu „Arbeit und Reichtum“ gestartet. Dazu liegen ausführliche Diskussionsprotokolle vor, die auf der Gegenstandpunkt-Homepage greifbar sind (Adresse: http:// | ||
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+ | ==== Oh Gott, katholische Kapitalismuskritik! ==== | ||
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+ | Wenn man heutzutage auf kritische Statements zum Turbo-, Raubtier-, Ego- oder Kasinokapitalismus stößt, fällt über kurz oder lang ein Name: Papst Franziskus. Er gilt als //die// Berufungsinstanz zeitgenössischer Kapitalismuskritik. Was es damit auf sich hat, erläutert Johannes Schillo. | ||
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+ | In neueren Diagnosen, die vor dem Siegeszug eines ungezügelten Kapitalismus warnen, erfährt seit Jüngstem wieder – worauf bereits der IVA-Blogeintrag „Noch ein Gespenst: Der Ego-Kapitalismus“ hinwies – das Kuriosum einer katholischen Kapitalismuskritik Auftrieb. Im Kontext solcher Warnungen, aber auch in sonstigen linken Einlassungen wird speziell der berühmte Ausspruch des Bergoglio-Papstes „Diese Wirtschaft tötet“ zitiert. Die Zeitschrift „Sozialismus“ brachte in ihrer Nummer 7-8/2015 friedlich vereint die Köpfe von Marx, Engels und Papst Franziskus auf dem Titelblatt. Die Theologen Franz Segbers und Simon Wiesgickl, die im Sommer 2015 einen einschlägigen Sammelband veröffentlichten, | ||
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+ | Segbers und Wiesgickl halten die genannte Kritik zudem für den sozialethischen Grundsatz der heutigen christlichen Kirchen – und tendenziell darüber hinaus. Erstmals gebe es eine „große Ökumene“ der Kirchen, also der weltweiten Christenheit, | ||
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+ | Der ÖRK ist ein weltweiter Zusammenschluss von 345 Kirchen. „Mitglieder sind die meisten großen Kirchen der evangelischen Traditionen, | ||
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+ | Zu dieser angeblich „verdrängten und verschwiegenen Übereinstimmung“ (Segbers/ | ||
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+ | === Kritisches Christentum? | ||
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+ | Segbers/ | ||
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+ | Was das Buch auf jeden Fall leistet: Es ruft die breite, heterogene Tradition christlicher bzw. religiöser Kapitalismuskritik in Erinnerung. Diese hat ja auf katholischer Seite im autoritativen Korpus der Sozialenzykliken von „Rerum novarum“ (1891) bis zu „Quadragesimo anno“ (1931) – letztere kurz nach der Weltwirtschaftskrise geschrieben, | ||
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+ | Erstens weicht man, obwohl viel auf Marxsche Texte rekurriert wird, der Auseinandersetzung mit marxistischer Kritik aus. So zeigen sich die Herausgeber gleich auf der zweiten Seite ihrer Einführung unwillig, den Argumentationsgang einer solchen Kritik, wie sie Freerk Huisken mit dem Text „Der Papst als Kapitalismuskritiker: | ||
+ | Huisken hatte seine Gegenrede mit der zustimmenden Festellung eröffnet, dass sich der Blick des Papstes „auf Erscheinungen (richtet), die niemand ernstlich bestreiten kann“ (Huisken 2014, 1), dass aber die Feststellung des päpstlichen Schreibens, der Mensch sei nur noch als Konsument gefragt, an der Sache vorbeigehe. Huisken: „Diese Reduktion 'des Menschen' | ||
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+ | Die Erwiderung von Segbers/ | ||
+ | In der Erwiderung der Theologen heißt es dann weiter: Huisken „attestiert dem Papst zwar einen ' | ||
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+ | Was steht nun im Apostolischen Schreiben. Im Abschnitt 55 (EG, zitiert nach den Nummern) schreibt der Papst: „Die weltweite Krise macht ... vor allem den schweren Mangel an einer anthropologischen Orientierung deutlich – ein Mangel, der den Menschen auf nur eines seiner Bedürfnisse reduziert: auf den Konsum.“ Die angesprochene anthropologische Fehlorientierung, | ||
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+ | Segbers/ | ||
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+ | Diese sündhafte Haltung, dass sich „der“ Mensch selbst zum Maß der Dinge macht, habe sich im modernen Wirtschaftsleben verbreitet und verfestigt. Dort stehe seit einiger Zeit das „technokratische Paradigma“ (LS 101) im Mittelpunkt. Die Herrschaft dieses Paradigmas habe zu der Misere geführt, die nun zu beklagen sei. Das soziale Grundproblem besteht demnach in der „Art und Weise, wie die Menschheit tatsächlich die Technologie und ihre Entwicklung zusammen mit einem homogenen und eindimensionalen Paradigma angenommen hat. Nach diesem Paradigma tritt eine Auffassung des Subjekts hervor, das im Verlauf des logisch-rationalen Prozesses das außen liegende Objekt allmählich umfasst und es so besitzt. Dieses Subjekt entfaltet sich, indem es die wissenschaftliche Methode mit ihren Versuchen aufstellt, die schon explizit eine Technik des Besitzens, des Beherrschens und des Umgestaltens ist. Es ist, als ob das Subjekt sich dem Formlosen gegenüber befände, das seiner Manipulation völlig zur Verfügung steht. Es kam schon immer vor, dass der Mensch in die Natur eingegriffen hat. Aber für lange Zeit lag das Merkmal darin, zu begleiten, sich den von den Dingen selbst angebotenen Möglichkeiten zu fügen.“ (LS 106) | ||
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+ | Das Schreiben spricht – der religiösen Logik folgend und dabei vielleicht einige Modifikationen gegenüber der Tradition anbringend (vgl. Fleischmann 2016) – vom Menschen überhaupt und von allen Menschen, denen es Gottes Willen nahebringen will. Das ist der höchste Abstraktionsgrad, | ||
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+ | Franziskus nimmt also gerade die politisch-ökonomisch bestimmenden Akteure in Schutz, wenn und insofern sie sich, wie alle anderen Menschen auch, um die wahre christliche Gesinnung bemühen. Genau hier macht sich bemerkbar, dass der Papst, wie Segbers/ | ||
+ | Das zweite Manko des Querschnitts durch die religiöse Kapitalismuskritik ist auf einer anderen Ebene angesiedelt. Es betrifft den von Segbers/ | ||
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+ | === Kritischer Katholizismus? | ||
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+ | Eine genuin katholische Publikation haben die beiden Sozialethiker Bernhard Emunds und Hans Günter Hockerts im Sommer 2015 vorgelegt: „Den Kapitalismus bändigen“ – gewidmet der Erinnerung an das Wirken des berühmten Sozialethikers Oswald von Nell-Breuning SJ (1890-1991). Eins fällt hier sofort auf: Es gibt keine einzige Erwähnung der wirtschaftskritischen Äußerungen von Papst Franziskus, der bei Segbers und Wiesgickl als die entscheidende Bezugsgröße kirchlicher Kapitalismuskritik figuriert. Diese Distanz – ob nun gewollt oder nicht – ließe sich begründen, denn in den beiden päpstlichen Schriften „Evangelii gaudium“ und „Laudato si“ ist, wie erwähnt, vom „Kapitalismus“ nicht die Rede. Und das ist nur konsequent, denn Franziskus setzt ja beim Konsum an und rückt den Ausschluss der Mehrheit der Weltbevölkerung von den heute gegeben Konsummöglichkeiten in den Mittelpunkt. Das Produktionsverhältnis wird bei ihm, wie dargelegt, ausgeblendet. | ||
+ | Letzteres macht einen markanten Unterschied zu Nell-Breuning aus, wie der Sammelband von Emunds und Hockerts in Erinnerung ruft. Das Buch will den Altmeister, den „Nestor“ der katholischen Soziallehre würdigen, ohne am „Mythos Nell-Breuning“ (Emunds/ | ||
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+ | Die Herausgeber kennzeichnen dies – speziell nach den Krisenerfahrungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts – als Illusion; und sie stehen auch nicht an, die meisten sozial- und wirtschaftspolitischen Ideen Nell-Breunings als veraltet oder unbrauchbar einzustufen. Dabei gibt es allerdings in ihrem Sammelband unterschiedliche Blickwinkel. Während etwa die Herausgeber einleitend darauf aufmerksam machen, dass die gegenwärtige wirtschaftliche Problemlage (erstens durch Finanzialisierung, | ||
+ | Bleibt die Frage, worin die Aktualität Nell-Breunings bestehen soll. Die Auskunft, die das Buch gibt, lässt sich etwa so zusammenfassen: | ||
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+ | Der Kapitalismus erscheint also gewissermaßen doppelt, als ökonomischer Fortschritt und gesellschaftlicher Rückschritt. Der einleitende Beitrag von Hermann-Josef Große Kracht macht dieses Problem, mit dem sich Nell-Breuning sein Leben lang beschäftigte, | ||
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+ | Wie soll man nun an dieses theoretische Erbe anknüpfen? Eine Frage, die auch nicht einfach zu beantworten ist und mit der sich Emunds/ | ||
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+ | === Ist das Antikapitalismus? | ||
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+ | Das, was der Bergoglio-Papst bisher verlautbart hat, geht jedenfalls nicht in diese Richtung. Wenn er sich z.B. programmatisch zum Sozialismus oder Marxismus äußert, steht er ganz in der Tradition des kirchlichen Antikommunismus eines Wojtyla oder Ratzinger. Bei seinem Kuba-Aufenthalt im September 2015 begrüßte Franziskus die Annäherung des Landes an die kapitalistischen USA und erinnerte daran, dass „ebendies auch der Wunsch des heiligen Johannes Paul II. (war) mit seinem brennenden Aufruf: 'Möge Kuba sich mit all seinen großartigen Möglichkeiten der Welt öffnen und möge die Welt sich Kuba öffnen!' | ||
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+ | Mit dem Wort „Ideologie“ wird gleich klargestellt, | ||
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+ | Wenn der Papst grundsätzlich wird, so in seiner letzten Enzyklika „Laudato si“, liefert er natürlich die obligatorische Verurteilung des Kommunismus – also der bekannten Alternative zum Kapitalismus. Der Kommunismus wird von Franziskus, ganz selbstverständlich, | ||
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+ | Dass der Papst – wie einst der Ordensgründer Franziskus oder der Bußprediger Savonarola – bei den Mächtigen dieser Welt gelegentlich aneckt, kann man nicht bestreiten. So führte ihn seine erste Reise 2013 nach Lampedusa, wo er das EU-Abschreckungsregime als eine einzige Sünde geißelte, und zwar von uns allen, von dir und mir, vom kleinen Mann und vom politisch Verantwortlichen gleichermaßen. Dieses Anecken zielt darauf, dass wir alle in uns gehen und über unsere „Kultur der Gleichgültigkeit“ erschrecken. Jeder hat sich wegen seines Egoismus zu prüfen und anzuklagen. Und so weit hat die politische Öffentlichkeit die päpstliche Moralpredigt ja auch gutgeheißen – damit gleichzeitig klar gemacht, wohin die Predigt gehört, nämlich in die Gewissenserforschung angesichts einer Welt, die ein Jammertal ist und kein Paradies sein kann. Damit hat die Öffentlichkeit eine beachtliche Lektion übers moralische Klagewesen erteilt: „Die Affirmation der beklagten politischen Realität, an der sich nun einmal nichts ändern lässt, wird hier ergänzt durch die Wahrheit über die Moral: Sie ist kein ernst zu nehmender Einspruch gegen irgendwelche ' | ||
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+ | Analoges gilt für den Angriff auf die moderne globalisierte Marktwirtschaft, | ||
+ | Doch muss man auch hier festhalten, dass den Papst mehr umtreibt als das Elend und dessen systematische Ursachen. Er beklagt die flächendeckende Gleichgültigkeit der Menschen dieser Lage gegenüber. Und „mit dem kleinen Themenwechsel ist er bei seinem eigentlichen hauptberuflichen Anliegen: der moralischen Gesinnung der Menschheit… Hilfe für die Armen, ' | ||
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+ | **Literatur** | ||
+ | * Peter Decker (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Peter Decker (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Bernhard Emunds/Hans Günter Hockerts (Hrsg.), Den Kapitalismus bändigen – Oswald von Nell-Breunings Impulse für die Sozialpolitik. Paderborn 2015. | ||
+ | * EG – Evangelii gaudium, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 194, Bonn 2013 (zit. als EG nach den Nummern der Abschnitte). | ||
+ | * Christoph Fleischmann, | ||
+ | * Kuno Füssel/ | ||
+ | * Freerk Huisken, Der Papst als Kapitalismuskritiker: | ||
+ | * KAB – Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) Deutschlands (Hrsg.), Texte zur katholischen Soziallehre – Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente. Köln 1975. | ||
+ | * LS – Laudato si. Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 202, Bonn 2015 (zit. als LS nach den Nummern der Abschnitte). | ||
+ | * Geoffrey McDonald, New Pope, Old Doctrine. In: Counterpunch, | ||
+ | * Papst Franziskus, Reisen/Zum Nachlesen: Alle Papstreden in Kuba und den USA. 2015. Im Internet: http:// | ||
+ | * Frank Schirrmacher, | ||
+ | * Segbers, Franz, Die Agenda 2010 als Kirchen-Agenda. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 4, 2014, S. 27-30. | ||
+ | * Franz Segbers/ | ||
+ | * Franz Segbers/ | ||
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