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+ | ====== Textbeiträge 2015 ====== | ||
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+ | An dieser Stelle veröffentlichen wir Texte, Debattenbeiträge und Buchkritiken. | ||
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+ | ===== Dezember 2015 ===== | ||
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+ | ==== Stichwort: Gerechtigkeit ==== | ||
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+ | Im Dezember 2015 ist die Ausgabe 4/15 der Politischen Vierteljahresschrift „Gegenstandpunkt“ erschienen, die u.a. eine ausführliche Auseinandersetzung mit der – vor allem von kritisch gesinnten Menschen ins Spiel gebrachten bzw. vermissten – Gerechtigkeit enthält. Dazu ein Hinweis von Gegeninformation Köln. | ||
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+ | Gegeninformation Köln führte im Dezember 2015 eine Diskussionsreihe zu der Fragestellung „Wer verdient warum wie viel?“ durch. Die Grundthese lautete: Die kritisch gemeinte Frage nach dem gerechten Verhältnis von Einkommenshöhe und Leistung führt in die Irre, denn sie sieht bzw. lenkt einerseits ab von der Frage nach der Tauglichkeit des Einkommens für den Lebensunterhalt der arbeitenden Menschheit und andererseits von der Kenntnisnahme der Leistungserbringung bzw. der wirklichen Gründe für die Einkommensunterschiede. Ein aktueller Vortrag zum selben Thema (Universität Bielefeld, 12. November 2015) von Prof. Margaret Wirth ist jetzt im Netz dokumentiert (http:// | ||
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+ | Ausgangspunkt des Vortrags waren Klagen und Forderungen wie „Leistung soll sich lohnen“ oder „Meine Arbeit ist mehr wert“, wie sie hierzulande – nicht nur in Tarifkämpfen – allgegenwärtig sind. Sie gehen ganz selbstverständlich von der Grundannahme aus, dass es, was immer jemand in seinem Job zu tun hat, wie wenig oder viel er da verdienen mag, auf jeden Fall nur dann mit rechten Dingen zugeht, wenn sich die Höhe des Einkommens aus der im Job erbrachten Leistung rechtfertigt oder rechtfertigen lässt. Dieser Grundüberzeugung verdankt die Marktwirtschaft ja sogar den Ehrentitel, eine „Leistungsgesellschaft“ zu sein – ganz im Unterschied zu jenen unguten Wirtschaftsformen, | ||
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+ | === Was heißt hier gerecht? === | ||
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+ | Die Zeitschrift „Gegenstandpunkt“ hat diese populäre Kritik immer wieder zum Thema gemacht, so zum Beispiel am Fall des Entgeltrahmentarifabkommens (ERA), mit dem die IG Metall zu Beginn des 21. Jahrhunderts endlich den Standpunkt gerechter Vergütung im komplizierten deutschen Lohngefüge verankern wollte. Das seit den 1970er Jahren angestrebte Jahrhundert-Projekt der Gewerkschaft, | ||
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+ | Die Tarifspezialisten der IG-Metall unter der Ägide des späteren Gewerkschaftschefs Berthold Huber tüftelten dafür ein neues hochkomplexes System aus, das aus Gewerkschaftsperspektive „nichts weniger als eine Revolution“ (Tietz 2007) darstellen sollte. Die Tarifvertragsparteien nahmen damit Abschied von dem über hundert Jahre alten System, wonach Angestellte und gewerbliche Mitarbeiter unterschiedlich bezahlt werden – „obwohl die Tätigkeitsbereiche häufig ähnlich sind, gibt es beim Einkommen zum Teil Unterschiede von bis zu tausend Euro“ (ebd.) – und beglückwünschten sich zur Einführung „einer total gerechten Einklassen-Lohnhierachie“ (Held 2007, 70). Die Analyse des „Gegenstandpunkts“ legte dagegen Nachdruck auf den Punkt, dass mit der Behebung des Gerechtigkeitsdefizits eine breite Lohnsenkungsoffensive einherging. Von der Öffentlichkeit wurde das Unterfangen – nach dem Motto „gute Idee“ bzw. gute „Papierlage“ wie es im Jargon der Gewerkschaften heißt (Ulbrich 2015, 28), aber leider mit negativen, weil einkommensmindernden Nebenwirkungen behaftet – als leicht widersprüchlich wahrgenommen: | ||
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+ | Für die Gewerkschaft stellte sich mit der Herstellung von Gerechtigkeit also gleich die nächste Herausforderung, | ||
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+ | „Dass statt der Gewalt Recht und Gerechtigkeit herrsche, und zwar stets und überall, dass zu diesem Zweck öffentliche Gewalten eingerichtet und demokratisch organisiert werden“, halten einschlägige Experten wie der politische Philosoph Otfried Höffe für schlüssig, ja „sogar für moralisch geboten“ (Höffe 2002, 25). Hier habe man das „universale Rechts- und Staatsgebot“ zur Hand, das mit Frieden und Wohlstand einhergehe, „auf dass sich ein uralter Traum der Menschheit verwirkliche“ (ebd.). Das Stichwort des „Gegenstandpunkts“ macht sich jetzt die Mühe, diesem uralten Traum hinterherzusteigen – keine unbedingt leichte Lektüre, aber ein Text, der den Aufwand lohnt. Als erstes wird hier das Gerechtigkeitsprinzip als Maxime herrschaftlicher Gewalt überhaupt aufgenommen und analysiert – also jenseits der speziellen bürgerlichen Verhältnisse thematisiert. In diesen – das behandelt das zweite Kapitel – wird mit dem Tausch, dem „do ut des“ (ich gebe, damit du gibst), also der gerechten Entsprechung von Leistung und Gegenleistung, | ||
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+ | Doch geht die Analyse des „Gegenstandpunkts“ über diesen Bereich weit hinaus. Das dritte Kapitel greift Gerechtigkeit als Maßstab politisierter Kritik auf, untersucht also ihre Rolle als Berufungsinstanz für jedwede gesellschaftliche Unzufriedenheit, | ||
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+ | **Literatur** | ||
+ | * Nobert Blüm, Gerechtigkeit – Eine Kritik des Homo oeconomicus. Freiburg u.a. 2006. | ||
+ | * Peter Decker (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Karl Held (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung. Aktualisierte und überarbeitete Neuausgabe, München 2002. | ||
+ | * Janko Tietz, Gewerkschaften: | ||
+ | * Gabriele Ulbrich, Das Entgeltrahmentarifabkommen der IG Metall (ERA). In: Equal Pay Day 20. März 2015 – Transparenz. Spiel Mit Offenen Karten. Was verdienen Frauen und Männer? Berlin 2015, S. 26-28. | ||
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+ | ==== Weiteres vom TTIP-Protest ==== | ||
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+ | Die Protestbewegung gegen TTIP, das Transatlantische Handels- und Investitionsabkommen, | ||
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+ | Die EU-Kommission führt derzeit mit den Vereinigten Staaten Verhandlungen über das TTIP-Abkommen, | ||
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+ | Wenn die 24 Kapitel des Vertrags ausverhandelt sind, soll der Gesamttext veröffentlicht werden. Verhandlungstexte oder Positionspapiere werden neuerdings auf der Website der EU-Kommission (http:// | ||
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+ | Zum Herbst 2015 wurde in den TTIP-Verhandlungen ein neuer Akzent gesetzt (vgl. den IVA-Blogeintrag „Der Protest gegen TTIP“). Die Europäische Kommission hatte auf Bedenken europäischer Politiker reagiert und sich „für eine grundlegende Reform der umstrittenen Schiedsgerichte für Investoren“ ausgesprochen (FAZ, 17.9.2015). Die zuständige EU-Handels-Kommissarin Cecilia Malmström hatte dazu ein neues Schiedsgerichtssystem vorgeschlagen, | ||
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+ | Die Protestbewegung steht dem neuen Vorschlag der EU-Handelskommissarin skeptisch bis ablehnend gegenüber. Aus Sicht von ATTAC löst das Konzept eines eigenen Gerichtshofs im Rahmen des Abkommens keins der grundlegenden Probleme. „Legitime Allgemeininteressen werden weiterhin den Profitinteressen von Investoren untergeordnet, | ||
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+ | === Was den Protest bewegt === | ||
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+ | In Deutschland hat sich gegen TTIP eine – verglichen mit anderen Fällen – große Protestbewegung herausgebildet, | ||
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+ | Wenn die Politik jedoch ihre Gestaltungsmacht wieder gewänne, ließen sich solchen Expertisen zufolge aus einem weltweit vereinbarten Freihandel für alle Seiten und nicht nur für „die größten Konzerne der Welt“ (ebd., 262) Vorteile ziehen. „Dabei könnte TTIP vergleichsweise leicht zum Modellvertrag werden, denn beiden Partnern sollte es nicht schwer fallen, ein paar dieser Ideen (= die von ATTAC u.a. ausgearbeiteten Vorschläge eines ' | ||
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+ | Ganz in diesem Sinne wird etwa der sozialdemokratische Protest beruhigt. Die SPD, deren Basis sich zu großen Teilen im TTIP-Protest engagierte, einigte sich bei ihrem Bundesparteitag vom 10. bis 12. Dezember 2015 darauf, dass die Verhandlungen fortgeführt werden sollen. Im Beschluss Nr. 27 (https:// | ||
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+ | Damit ist, auch wenn es auf dem Parteitag einige kontroverse Diskussionsbeiträge gab, der SPD-Protest gegen TTIP erledigt. Parteivize Ralf Stegner beruhigte die Kritiker noch einmal mit der Erklärung, im SPD-Beschluss seien die drei wichtigen „rote Linien“ für den Verhandlungsprozess festgehalten: | ||
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+ | So sind innenpolitisch einer Ratifizierung des Abkommens alle Hindernisse aus dem Weg geräumt. CDU/CSU tragen ja sowieso das EU-Verhandlungsmandat mit (vgl. Freytag u.a. 2014); von einzelnen Parteimitgliedern, | ||
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+ | Last but not least sind auch die deutschen Gewerkschaften größtenteils auf Linie. Im Dezember 2015 erklärte der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann beim Berliner Bürgerdialog mit der EU-Handelskommissarin: | ||
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+ | Zu den prominenten Kritikern des Freihandelsabkommens gehört ATTAC Deutschland. Die NGO, die auch maßgeblich an der großen Berliner Protestaktion vom 10. Oktober beteiligt war, hat in zwei ATTAC-Basis-Texten (Klimenta u.a. 2014, 2015) ihre Grundsatzposition formuliert. TTIP ist demnach „die Fortsetzung eines alten Denkens, das statt auf die Teilhabe aller auf die Gewinne weniger fokussiert“ (Klimenta u.a. 2015, 7). Diese Kritik hält ATTAC, wie oben dargelegt, auch nach den Modifikationen aufrecht, die der deutsche Wirtschaftsminister angekündigt hat. Dabei ist in der Kritik allenfalls eine Akzentverschiebung feststellbar. Bisher machte sich die TTIP-Gegnerschaft vor allem und als Erstes an den versprochenen Wohltaten – Wachstum, Arbeitsplätze, | ||
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+ | Harald Klimenta vom Wissenschaftliche Beirat von ATTAC hat in seiner neuen Argumentationshilfe von 2015 den Einstieg in die Kritik verändert. Ausgangspunkt ist nun das geostrategische Argument, mit dem die Befürworter einer transatlantischen Freihandelszone für ihre Position werben. Die Geostrategie brachte ja auch Minister Gabriel als erstes Argument, als er in der Bildzeitung (6.3.2015) „Fünf Gründe, warum TTIP gut für uns ist“ dem Publikum vorstellte: „1. Europa eine Stimme geben! Selbst das starke Deutschland wird in ein paar Jahren gegenüber den neuen Riesen in der Welt – China, Indien, Lateinamerika – zu klein sein, um gehört zu werden. Unsere Kinder haben entweder eine europäische Stimme oder keine Stimme in der Welt. Doch selbst als Europäer alleine sind wir zu klein, denn der Anteil der Europäer an der Weltbevölkerung sinkt... Wenn wir also die Balance in der Welt halten wollen, brauchen wir Partner. Zuallererst die USA.“ Klimenta stellt zu einer solchen Argumentationsweise fest: „Seit sich der angebliche Nutzen von TTIP & Co für Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze in Luft aufgelöst hat, hat das Argument Hochkonjunktur, | ||
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+ | Das ist schon bemerkenswert! Die deutlich imperialistische Ansage einer Nation, die die Weltwirtschaft zum eigenen Vorteil bestimmen will, wird mit der Bemerkung aufgegriffen, | ||
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+ | Das unterscheidet sich nicht groß von Positionen, wie sie etwa das staatliche Deutsche Institut für Entwicklungspolitik (DIE) vertritt. Dessen Experten, die natürlich von Amts wegen den „Nord-Süd-Konflikt“ auf dem Schirm haben müssen, geben ebenfalls zu bedenken, dass die transatlantische Dominanz „als Gegenreaktion handelspolitische Blockbildungen von Schwellenländern“ provozieren könnte (Berger/ | ||
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+ | === Antikapitalistische Kritik? === | ||
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+ | Dass bei der landläufigen Aufregung über Chlorhühnchen, | ||
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+ | Die Protestbewegung gegen TTIP – die größte, die es zur Zeit in der BRD gibt – prangert die Macht des (Groß-)Kapitals und die (drohende) Ohnmacht des Staates immer wieder an, erscheint also wie eine systemkritische Opposition. Sie verfehlt jedoch – das ist der zentrale Einwand – das Verhältnis von Staat und Wirtschaft. Sie gibt sich antikapitalistisch und nährt gleichzeitig die Vorstellung, | ||
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+ | 1. Freihandel soll, so die offizielle Ansage der Politik, dem „beiderseitigen“ Wirtschaftserfolg der „Partner“ Schranken aus dem Weg räumen. Dagegen wendet der Protest ein: Dann verändern, d.h. verschlechtern sich flächendeckend die Lebens- und Arbeitsbedingungen; | ||
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+ | Zu der Sorge über eine rücksichtslose Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen ist festzuhalten: | ||
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+ | 2. Statt dessen wird der Staat zum Adressaten. Den bzw. den „Kernbestand der Demokratie“ (Glunk 2015, 16) gelte es zu retten. So ist es ja auch laut Berliner Umfrage den Demonstranten in der Hauptsache „um Grundsätzliches, | ||
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+ | Hier ist wieder ein gravierendes Manko des Protests festzuhalten: | ||
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+ | 3. Es ist nicht zu bestreiten, dass der moderne Staat, der eine Marktwirtschaft betreut, zahlreiche Regulierungen vornimmt. Sie werden von der Protestszene aber in einer eigentümlichen Weise aufgefasst. Die umweltpolitischen oder arbeitsrechtlichen Auflagen des Staates gelten ihm als eine Wohltat für Konsumenten, | ||
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+ | Auch hier zeigt sich die Schwäche des Protests: Die politischen Beschränkungen, | ||
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+ | 4. Für den TTIP-Protest sind die gültigen Regulierungen natürlich auch nicht zufriedenstellend. Er betrachtet sie als Maßnahmen, die leider noch nicht konsequent genug durchgesetzt sind, die aber – immerhin – im europäischen Rahmen weiter gediehen seien (Stichwort: europäisches Vorsorgeprinzip) als beim atlantischen Partner (Stichwort: US-amerikanisches Nachsorgeprinzip). Die einschlägigen NGO's kennen, wenn sie im nationalen oder europäischen Rahmen unterwegs sind, lauter Kritikpunkte. Bei ihrer Begutachtung der Politik entdecken sie überall „Versäumnisse“ und „Unterlassungen“, | ||
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+ | Dies ist ebenfalls ein unzutreffender Einwand: Wo der Staat gerade handelt, einem gültigen Interesse Grenzen setzt und dies jetzt transatlantisch – als Chefsache – neu justiert, erkennt der Protest nur Versagen, Nichtstun. Dabei kann von Nachlässigkeit, | ||
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+ | 5. Die festgestellte Inkonsequenz des staatlichen Handelns wird von der Protestbewegung im Blick auf die TTIP-Verhandlungen dann in den Vorwurf der „Deregulierung“ überführt. Die europäischen Staaten hätten sich – von der Wirtschaftslobby bedrängt, was durch die Intransparenz der Verhandlungen verschleiert werde – von ihrer eigentlichen Aufgabe losgesagt. Ihnen gehe es jetzt nur noch darum, früher für notwendig befundene Schutzmaßnahmen als Handelshemmnisse einzustufen und zu beseitigen, das heißt: Regellosigkeit herzustellen. | ||
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+ | Dies kann aber nicht das Ziel der Verhandlungen sein: Ginge es darum, die bestehenden Regulierungen einfach zu entsorgen, wäre der Aushandlungsprozess im Handumdrehen zu erledigen. Das ist jedoch erkennbar nicht der Fall. Gerungen wird gerade um neue Regulierungen, | ||
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+ | 6. Der Protest gegen TTIP ist damit angetreten, die offiziellen Versprechungen der Politik als Angebot an die Bürger aufzunehmen, | ||
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+ | Auch dies ist ein bemerkenswerter Fehler: Der Protest stellt sich positiv zu dem Vorhaben, den wirtschaftlichen Ertrag für die (jeweils) eigene Seite zu mehren. Er greift nicht den Inhalt des Versprechens an, dass das Wachstum gesteigert, also die Bedienung des Gewinninteresses – dessen Erfolg populärer Weise in die Vermehrung von Arbeitsplätzen übersetzt wird – verbessert werden soll. Er fragt vielmehr danach, ob das Vorhaben realistisch ist. Ähnlich wie beim imperialistischen Standpunkt, der im geostrategischen Argument der Befürworter unübersehbar aufscheint, wird das zentrale kapitalistische Erfordernis wirtschaftlichen Wachstums, die Gewinnerzielung in privater Hand, in erster Linie daraufhin kritisch begutachtet, | ||
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+ | 7. So gelangt die Protestbewegung zu ihrem härtesten Vorwurf: Mit der von Europa gewählten Verhandlungsstrategie sollen ein Verzicht auf staatliche Gestaltungsmacht und eine Ermächtigung der Falschen stattfinden. Zum Hauptpunkt der Kritik, auf den die Politik mit Verständnis reagiert hat, avancierte ja das besagte ISDS-Thema, das Investor-Staat-Schlichtungsverfahren. Die Politik stellt damit angeblich die Demokratie zur Disposition und der Wirtschaft einen „Blankoscheck“ (Gunk 2015, 16) aus, weil sie in Zukunft vom Wohlwollen der Multis abhängig sei. Und der Verhandlungsprozess selber sei schon in die Hände der Wirtschaftslobby geraten, was natürlich (siehe den Vorwurf der Intransparenz) geheim gehalten werde. | ||
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+ | Damit ist man wiederum bei dem Grundfehler: | ||
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+ | 8. Diesen Konkurrenzcharakter nimmt der Protest auf seine Weise zur Kenntnis, nämlich leider so, dass er sich – in der Tendenz – auf eine Seite schlägt: Die an die Wand gemalten Gefahren sind letztlich ein amerikanischer Anschlag auf europäische Verhältnisse. | ||
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+ | Damit geht die Kritik vollends in die Irre. Jetzt kommt zwar der Staat als Verursacher der marktwirtschaftlichen Misere ins Visier, aber der amerikanische. Der erscheint als Schutzmacht der Multis, während im Falle Europas ein Zutrauen in die staatliche Autorität genährt wird. So wird aus der Anspielung auf Antikapitalismus letztlich Antiamerikanismus, | ||
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+ | Fazit: Die Kritik an TTIP gibt sich radikal, sie greift die Macht des Profitinteresses an und beschwört die Gefahr eines Klassenstaates, | ||
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+ | **Literatur** | ||
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+ | * Axel Berger/ | ||
+ | * Axel Berger/ | ||
+ | * Thilo Bode, Die Freihandelslüge. Warum TTIP nur den Konzernen nützt – und uns allen schadet. Unter Mitarbeit von Stefan Scheytt. München 2015. | ||
+ | * Christoph Butterwegge, | ||
+ | * Peter Decker (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Peter Decker (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Peter Decker (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Andreas Freytag/ | ||
+ | * Gegeninformation, | ||
+ | * Fritz Glunck, TTIP: Die Selbstaufgabe des Staates. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 11, 2015, S. 14-16. | ||
+ | * Harald Klimenta, Andreas Fisahn u.a., Die Freihandelsfalle. Transatlantische Industriepolitik ohne Bürgerbeteiligung – das TTIP. Hamburg 2014. | ||
+ | * Harald Klimenta, Maritta Strasser, Peter Fuchs u.a., 38 Argumente gegen TTIP, CETA, TiSA & Co. Für einen zukunftsfähigen Welthandel. Hamburg 2015. | ||
+ | * Heike Moldenhauer, | ||
+ | * Petra Pinzler, Jede Stromleitung ist besser geplant als TTIP. In: zeit-online, | ||
+ | * Petra Pinzler, Der Unfreihandel – Die heimliche Herrschaft von Konzernen und Kanzleien. Reinbek 2015a. | ||
+ | * Petra Pinzler, Gabriel will SPD-Position zu TTIP verwässern. In: zeit-online, | ||
+ | * Verdi Bundesvorstand, | ||
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+ | ===== Oktober 2015 ===== | ||
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+ | ==== Betrifft: Krisenfall Griechenland ==== | ||
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+ | Die „Rettung Griechenlands“ war – vor der Flüchtlingskrise – die große, alles in den Schatten stellende Herausforderung für die deutsche Politik. Der Vorgang hat, speziell in der Linken, zu einer Reihe von Veröffentlichungen geführt, die die offizielle Berichterstattung korrigieren und Aufklärung bieten wollen. Dazu eine Übersicht von Johannes Schillo. | ||
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+ | „Im bilateralen deutsch-griechischen Verhältnis sind längst überwunden geglaubte Ressentiments an die Oberfläche getreten. Der Ton der öffentlichen Debatte wurde unfreundlich; | ||
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+ | Im ersten Halbjahr 2015 dagegen taten die maßgeblichen Macher der öffentlichen Meinung alles dafür, die Hartherzigkeit der deutschen Politik zu unterstützen und sogar zu verschärfen, | ||
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+ | Die Linke in Deutschland sah sich daher zur Gegeninformation herausgefordert. Ein „Faktencheck: | ||
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+ | Im Folgenden soll es darum gehen, die Leistungen der linken Gegenöffentlichkeit näher unter die Lupe zu nehmen, um dann die Publikation „Der Fall Griechenland – Fünf Jahre Krise und Krisenkonkurrenz“ (Köper/ | ||
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+ | === Solidarische Gegenöffentlichkeit === | ||
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+ | Was hierzulande im medialen Mainstream unterging – wenn nicht gerade ein Vertreter der Linkspartei bei einer Talkshow oder Expertenrunde anwesend war und dem Syriza-Bashing entgegentrat –, das versuchten die Publikationen der Linken nachzutragen, | ||
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+ | Die Versuche, die Faktenlage zur Kenntnis zu bringen, mussten natürlich notwendiger Weise zu Erklärungen der europäischen Misere ansetzen. Doch war dies nicht der Schwerpunkt. Bevor die politökonomische Analyse des europäischen Krisenfalls Marke Griechenland in Angriff genommen, angedeutet oder auch auf später vertagt wurde, trat etwas anderes in den Vordergrund: | ||
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+ | Als Syriza an die Macht kam, war also schon klar, dass die ursprüngliche Basisbewegung, | ||
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+ | Als sich dann das griechische Parlament auf Antrag der Regierung – nach dem Zwischenspiel des Referendums vom 5. Juli mit seiner Fast-Zweidrittel-Mehrheit eines eindeutigen „Ochi“ – am 15. Juli mit großer Mehrheit der EU-Erpressung beugte (229 Ja-Stimmen und 64 Nein-Stimmen bei 7 Enthaltungen, | ||
+ | Es war also wieder, wie beim Niedergang der Demokratie-Jetzt-Bewegung, | ||
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+ | Solche klaren Worte waren, wie gesagt, die Ausnahme. Meist wurde der Kurswechsel mit einem gewissen Verständnis kommentiert oder sogar als unausweichlich dargestellt (vgl. Nölke 2015). Am weitesten gingen hier Joachim Bischoff und Björn Radke, die anscheinend durch nichts zu erschüttern sind. Der Wahlsieg von Syriza am 20. September wurde von ihnen als Erfolg gefeiert, auch wenn die niedrige Wahlbeteiligung, | ||
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+ | Bischoff/ | ||
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+ | So viel lässt sich bis hierhin festhalten: Das Bekenntnis zur parlamentarischen Methode der politischen Arbeit oder, allgemeiner gesagt, das Identifizieren von Hoffnungszeichen und die Lieferung eines theoretischen Überbaus zu den daran geknüpften Erfolgsperspektiven – das ist der vorherrschende Standpunkt, von dem aus die linke Gegenöffentlichkeit antrat und an dem sie dann unter erschwerten Bedingungen im Sommer 2015 festhielt. Ähnlich praktiziert das ja in Deutschland die Linkspartei, | ||
+ | Andere linke Kommentare ließen erkennen, dass am Vorwurf des „Klassenverrats“ etwas dran sein könnte, zielten aber vor allem darauf, dass strategische Fehler gemacht wurden. Karl-Heinz Roth z.B. gestand ein, dass Syriza nach dem überwältigenden Ochi des Referendums nicht dem Votum der Bevölkerung gefolgt sei, sondern genau den gegenteiligen Kurs eingeschlagen habe – ein Sachverhalt, | ||
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+ | So widmete „Lunapark21“, | ||
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+ | Man muss Wolf allerdings – dies nur nebenbei – konzedieren, | ||
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+ | Die Schweizer Zeitschrift „Widerspruch“ machte in ihrer Ausgabe Nr. 66 vom Herbst 2015 das Thema Finanzmacht zum Schwerpunkt – gerade auch deswegen, weil Debatten über Geld und Geldwirtschaft, | ||
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+ | Die Zeitschrift „Z“ sieht das z.B. so: „Die Spar- und Umbauprogramme, | ||
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+ | Letztlich heißt das Programm für die meisten Linken also nicht Analyse des politökonomischen Härtefalls, | ||
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+ | === Der politökonomische Kern === | ||
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+ | Sablowski hat in seinem „Junge Welt“-Essay die Schwachstelle der linken Debatte benannt, obwohl er selber weitestgehend im Rahmen des Taxierens von Kräfteverhältnissen verbleibt: „Es ist eine entscheidende Schwäche der überwiegend keynesianisch argumentierenden deutschen Linken, dass sie aus einer an der effektiven Nachfrage orientierten Perspektive die Austeritätspolitik immer nur als irrational darstellt...“ (Sablowski 2015, 13). In der Tat liegt hier der Hund begraben. Rudolf Hickel z.B. als Vertreter einer keynesianischen Position sieht im dritten Reformpaket, | ||
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+ | Dass das nicht stimmen kann, ergibt sich schon aus der vorstehenden Bilanz der linken Anstrengungen, | ||
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+ | Auch hier ging es mit der Zurückweisung der Ideologie los, die sich als herrschende Erklärung der hellenischen Pleite etabliert hat: dass nämlich diese das Resultat der dortigen Misswirtschaft sei – alle, Staat und Volk, hätten rücksichtslos „über ihre Verhältnisse gelebt“ – und dass damit letztlich ein Fremdkörper in der Europäischen Union solide wirtschaftender Standorte die gerechte Antwort für sein im Grunde illegales Verhalten kassiert habe. Demgegenüber wies der „Gegenstandpunkt“ nach, dass es sich bei Griechenlands EU-Auftritt nicht um einen un- oder außereuropäischen Sonderfall handelt, sondern um ein Resultat der Konstruktion, | ||
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+ | Die drei Kernthesen, die jetzt auch die Eröffnung des neuen Bandes bilden und dort ausführlich begründet werden, lauten: (1) Der Bankrott Griechenlands ist die – angesichts des von ihm eingebrachten Wettbewerbspotenzials – sachgerechte Quittung dafür, dass das Land der EU samt Währungsunion beigetreten und den damit verbundenen Anforderungen an seine Nationalökonomie nachgekommen ist. (2) Der Staatsbankrott ist die ebenfalls sachgerechte Reaktion des Finanzgewerbes auf den gigantischen Aufwand, den die Euro-Staaten zur Rettung dieses „systemrelevanten“ Gewerbes nach der großen Krise von 2007ff erbracht haben, und ein erster Offenbarungseid über den unauflöslichen Widerspruch der Währungsunion, | ||
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+ | Allgemeiner gesagt heißt das: Der Fall Griechenland zeigt einen Krisenfall des Weltkapitalismus an, der allerdings von den politisch Verantwortlichen, | ||
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+ | Davon ausgehend folgten dann in der Zeitschrift „Gegenstandpunkt“ regelmäßig Untersuchungen, | ||
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+ | Die weiteren Analysen des „Gegenstandpunkt“ zur Krisenbewältigung in den Jahren 2013 und 2014 (nachzulesen etwa in GS 2/13 zum Fall Zypern oder in GS 4/14 zur gesamteuropäischen Krisenlage) zielten auf diesen Punkt: Aus der übergeordneten, | ||
+ | Diese vorerst letzte Etappe im Rettungstheater hat der „Gegenstandpunkt“ 2015 in zwei großen Untersuchungen – unter dem Motto „An Griechenland wird ein Exempel statuiert“ – zum Thema gemacht (die beiden Beiträge sind in dem Band von Köper/ | ||
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+ | **Literatur** | ||
+ | * Richard Aabromeit, Vor welcher Wahl steht Griechenland nach der Wahl? Πἁντα ῥεῖ – nur in Griechenland nicht. In: Exit (2015): http:// | ||
+ | * Aus Politik und Zeitgeschichte – Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament: Griechenland. Nr. 35-37, 2012. | ||
+ | * Joachim Bischoff/ | ||
+ | * Joachim Bischoff/ | ||
+ | * Faktencheck: | ||
+ | * Peter Decker (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Fabian Georgi/John Kannankulam, | ||
+ | * Jürgen Habermas, Zur Verfassung Europas – Ein Essay. Berlin 2011. | ||
+ | * Rudolf Hickel, Rettet Griechenland! In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 9, 2015, S. 61-67. | ||
+ | * Ulrich Irion, Zur marxistischen Debatte über Staat und Wirtschaft. In: Johannes Schillo (Hrsg.), Zurück zum Original – Zur Aktualität der Marxschen Theorie, Hamburg 2015, S. 151-176. | ||
+ | * Ulf-Dieter Klemm/ | ||
+ | * J. Köper/U. Taraben, Der Fall Griechenland – Fünf Jahre Krise und Krisenkonkurrenz. Europa rettet sein Geld – die deutsche Führungsmacht ihr imperialistisches Europa-Projekt! München 2015. | ||
+ | * Gregor Kritidis, Griechenland – auf dem Weg in den Maßnahmestaat? | ||
+ | * Gregor Kritidis, Kein Ende des Ausnahmezustandes – Das Ringen der griechischen Regierung mit der Eurogruppe um die Austeritätspolitik nähert sich dem Wendepunkt. In: Sozilastische Positionen, Nr. 6, 2015, S. 1-6, www.sopos.org. | ||
+ | * Oskar Lafontaine, Kolumne Nr. 1: Diesmal zu den Wahlen in Griechenland. In: Nachdenkseiten, | ||
+ | * Lunapark21 – Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie: banknix – grexit. Nr. 30, 2015. | ||
+ | * Andreas Nölke, Abschied vom Euro? Europas Linke nach der Griechenlandkrise. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 9, 2015, S. 68-76. | ||
+ | * Jörg Roesler, Was schief gelaufen ist. In: Neues Deutschland, | ||
+ | * Karl-Heinz Roth, Griechenland am Abgrund – Die deutsche Reparationsschuld. 2., erweiterte und aktualisierte Auflage, Hamburg 2015. | ||
+ | * Thomas Sablowski, Die Etappenschlappe. In: Junge Welt, 18./ | ||
+ | * Yanis Varoufakis, Rettet den Kapitalismus. In: WOZ, Nr. 9, 2015. | ||
+ | * Widerspruch – Beiträge zur sozialistischen Politik: Finanzmacht – Geldpolitik. Nr. 66, 2015. | ||
+ | * Wildcat, Der linke Reformismus ist eine klare Verliererstrategie. In: Wildcat Nr. 98, 2015, www.wildcat-www.de/ | ||
+ | * Z-Redaktion, | ||
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+ | ===== September 2015 ===== | ||
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+ | ==== Arbeitsmarkt und „Ausländerproblem“ ==== | ||
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+ | <WRAP center round box 90%> | ||
+ | Dem in Privatinitiative tätigen „Dunkeldeutschland“ hat die deutsche Politik mit ihrer „Willkommenskultur“ den Kampf angesagt. Ausländerfeindlichkeit, | ||
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+ | „Fremdenfeindlichkeit ist eine Krankheit… sie ist ansteckend. Und sie kommt – wie es scheint – immer wieder zum Ausbruch. Wenn Menschen jegliche Selbstbeherrschung verlieren, sobald von Ausländern, | ||
+ | |||
+ | Die Bildzeitung, | ||
+ | |||
+ | |||
+ | |||
+ | === Marktradikalismus, | ||
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+ | Wenn man Ausländerfeindlichkeit als ein allgemeinmenschliches Krankheitsphänomen nimmt, das – siehe den Sündenbockritus – bis in biblische Zeiten zurückreicht (so Berg 2015), entkleidet man sie ihres politischen Gehalts und verwandelt sie in einen abstrakten psychologischen Mechanismus. Diese Art von Ursachenforschung ist in bestimmten wissenschaftlichen Abteilungen beliebt, sie gibt es teilweise auch in der Linken. Anders verfährt die Erklärung des Politikwissenschaftlers Christoph Butterwegge, | ||
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+ | Butterwegge unterschied dabei freilich zwischen der Globalisierung an sich, die zu begrüßen sei, und ihrer neoliberalen Erscheinungsform, | ||
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+ | Nationalismus ist nicht gleich Nationalismus, | ||
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+ | „Standortnationalismus“ lautet somit – kurz gefasst – die Formel für den neuen Aufschwung des Rechtsradikalismus. Butterwegge hat dies anlässlich der Debatte um „Dunkeldeutschland“ wieder hervorgehoben. In einem aktuellen Essay für die „Junge Welt“ schreibt er, man müsse bei der Analyse auf „drei Untersuchungsebenen ansetzen: auf der ökonomischen, | ||
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+ | Auffällig ist: Die Forderung nach mehr gesellschaftlicher Inklusivität gerät ziemlich in die Nähe der offiziell angesagten „Willkommenskultur“, | ||
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+ | === Proletariat und Subproletariat === | ||
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+ | Peter Decker und Konrad Hecker resümieren im fünften Teil ihrer Abhandlung über „die große Karriere der lohnarbeitenden Klasse“ – sie steht unter den Stichworten „politisch emanzipiert, | ||
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+ | Worin besteht nun die genannte Reproduktionsleistung? | ||
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+ | „Der soziale und humanitäre abendländische Rechtsstaat hat an diesem Zustand maßgeblich mitgewirkt. Er wirbt solche Kräfte schon längst nicht mehr an; im Gegenteil: Er begegnet dem ' | ||
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+ | „Vor allem seine sozialpolitische Schadensbilanz und Nutzenkalkulation fällt grundsätzlich gegen das wandernde Elend aus, das – nach den goldenen Worten eines christlichen bayerischen Innenministers – ' | ||
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+ | Dies ist der politische Standpunkt, der in der längst süd- und osterweiterten EU gilt. Decker/ | ||
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+ | Die letzte Bemerkung ist heute natürlich überholt. Die Analyse der beiden Autoren erschien 2002, als die Agenda 2010 in Vorbereitung war. Im Januar 2005, Hartz IV war gerade in Kraft getreten, pries Schröder auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos seine Arbeitsmarktreform: | ||
+ | In dem Text klingt auch eine gewisse moralische Entrüstung übers „Lumpenproletariat“ an, die schon bei Marx zu spüren war. Derartiges sollte man besser unterlassen. Rein sachlich gesehen ist es ja so, dass der Griff zu Betäubungsmitteln ebenfalls für Hochleistungsarbeitnehmer, | ||
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+ | Hinzu kommt, dass für viele Migranten – worauf Thilo Sarrazin mit seiner Hetze zielte – der Griff zur Ersatzdroge, | ||
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+ | „Die Ausländergesetze, | ||
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+ | „Für die Armut selbst und ihre produktive Ausnutzung auf brutalst-möglichem Niveau sorgt – wie seinerzeit – das Kapital mit seinem speziellen Bedarf an besonders unbedarften Arbeitskräften; | ||
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+ | Die abschließenden Überlegungen des Kapitels gehen dann darauf ein, in welcher grundlegenden, | ||
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+ | Dies ist, sachlich gesehen, der Punkt, an dem sich eine Reihe von linken Überlegungen festmacht: Ausländerfeindlichkeit – zumindest die distanzierte oder besorgte Haltung, die der normale Arbeitnehmer (im Unterschied zur Ausländerfreundlichkeit des kosmopolitisch orientierten Bildungsbürgertums) an den Tag legt – sei eine Art des sozialen Protestes. Soziale Forderungen oder sozialer Unmut lassen sich in der Tat auch dort finden, wo sich ausländerfeindliche Stimmung und Opposition breit machen. Erstens ist das aber nicht das Movens solchen Protests, und zweitens muss man den Charakter dieser Unzufriedenheit genauer betrachten. Decker und Hecker greifen die Vorstellung von den sozialen Konsequenzen, | ||
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+ | Das ist die ideologische Seite der Angelegenheit. Aber die Sache erschöpft sich nicht darin, denn „damit ist umgekehrt über die sozialen Perspektiven der aus dem internationalen Pauperismus rekrutierten Teile des Proletariats der kapitalistischen Metropolen schon viel entschieden. In ihrer an die Anfangszeiten des Kapitalismus gemahnenden Rechtsstellung haben sie jedenfalls keine Arbeiterbewegung auf ihrer Seite; im Gegenteil. Schon mit ihrem bloßen Da-Sein, erst recht mit jeder Forderung nach einem gesicherten Rechtsstatus und nach Angleichung ihrer Lebensbedingungen an diejenigen des autochthonen Arbeiterstandes geraten sie in Gegensatz zur Mehrheit ihrer eigenen Klasse. Die stellt sich ausgrenzend bis feindlich gegen ihre eigene Minderheit, soweit und nur weil sie per Ausländerrecht aus dem nationalen Zusammenhang herausdefiniert und ausgegrenzt ist; und sie tut das nur um so unversöhnlicher, | ||
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+ | Das Argument der Unverzichtbarkeit oder zumindest Brauchbarkeit der „fremden“ Populationen hat seit dem Sommer 2015 in Deutschland wieder Konjunktur – allerdings nicht, weil arbeitsmarktpolitisch ein spezieller Bedarf entdeckt und in Abstimmung mit der Wirtschaft Maßnahmen eingeleitet worden wären. Mit Deutschlands Schwenk in der Flüchtlingspolitik – Merkel: „Wir schaffen das“ – ist vielmehr ein übergeordneter weltpolitischer Gesichtspunkt zum Zuge gekommen, in dessen Folge sich erst wieder Überlegungen einstellen, was die Wirtschaft davon hat. Die Unternehmer machen hier in der Hauptsache klar, dass sie sich nicht vor ihrer gesellschaftlichen Verantwortung drücken wollen: „Firmen engagieren sich für Flüchtlinge – Ob Handwerksbetrieb oder Konzern, lokal verankert oder global unterwegs: Alle wollen Verantwortung übernehmen“ (General-Anzeiger, | ||
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+ | **Literatur** | ||
+ | * Stefan Berg, Was heilt – Es hilft nicht, wenn der Westen dem Osten vorrechnet, wie fremdenfeindlich er ist. In: Der Spiegel, Nr. 37, 2015. | ||
+ | * Christoph Butterwegge, | ||
+ | * Christoph Butterwegge/ | ||
+ | * Christoph Butterwegge, | ||
+ | * Peter Decker (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Peter Decker/ | ||
+ | * Klaus Dörre, Unterklassen – Plädoyer für die analytische Verwendung eines zwiespältigen Begriffs. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, | ||
+ | * Klaus-Peter Hufer, Argumentationstraining gegen Stammtischparolen. Schwalbach/ | ||
+ | * Klaus-Peter Hufer, Argumente am Stammtisch. Erfolgreich gegen Parolen, Palaver und Populismus. Schwalbach/ | ||
+ | * Freerk Huisken, Deutsche Lehren aus Rostock und Mölln – Nichts als Nationalismus, | ||
+ | * Freerk Huisken, Brandstifter als Feuerwehr – Die Rechtsextremismuskampagne. Nichts als Nationalismus, | ||
+ | * Freerk Huisken, Der demokratische Schoß ist fruchtbar… Das Elend der Kritik am (Neo-)Faschismus. Hamburg 2012. | ||
+ | * Herfried Münkler, Fremdenfeindlichkeit – Gefährliche Angst in der Mitte der Gesellschaft. In: SZ online, 30.8.2015. | ||
+ | * Marei Pelzer, Flüchtlinge: | ||
+ | * Ralf Schröder, Fühlt euch wie zu Hause! In: Konkret, Nr. 9, 2015, S. 12-15. | ||
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+ | ==== Der Protest gegen TTIP ==== | ||
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+ | <WRAP center round box 90%> | ||
+ | TTIP ist laut ATTAC „die Fortsetzung eines alten Denkens, das statt auf die Teilhabe aller auf die Gewinne weniger fokussiert“. Zu den Argumenten der Protestbewegung liegt jetzt in der Zeitschrift „Gegenstandpunkt“ (3/15), die am 18. September 2015 erschienen ist, eine ausführliche Kritik vor. Näheres dazu von Gegeninformation Köln. | ||
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+ | Das Transatlantische Handels- und Investitionsabkommen – kurz TTIP – bewegt seit einiger Zeit die Gemüter, nicht nur der Fachleute, sondern auch breiter Kreise der Bevölkerung in den Mitgliedsländern der EU (sowie etwas unauffälliger in den USA). Mittlerweile hat sich eine – verglichen mit anderen Fällen – große Protestbewegung herausgebildet, | ||
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+ | Am anderen Ende des Spektrums steht beispielsweise die taz-Redakteurin Ulrike Herrmann, die im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung dem Freihandel als „Projekt der Mächtigen“ entgegentritt (Herrmann 2014). Die Autorin, die jüngst auch eine Geschichte des Kapitalismus veröffentlichte, | ||
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+ | === Die Kritik von ATTAC === | ||
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+ | Die Verhandlungen zwischen den USA und der EU, die für die europäischen Länder das Mandat wahrnimmt, sind im Fluss und werden möglicher Weise erst 2017 oder 2019 abgeschlossen – wobei auch ein gänzliches Scheitern nicht ausgeschlossen ist. Im Herbst 2015 sollte die parlamentarische Auseinandersetzung um das TTIP-Abkommen (sowie den CETA-Vertrag mit Kanada) in die heiße Phase eintreten. ATTAC Deutschland rief deshalb Anfang des Jahres – mit der Begründung, | ||
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+ | ATTAC gehört zu den prominenten Kritikern des Freihandelsabkommens. Zwei ATTAC-Basis-Texte (vgl. Klimenta u.a. 2014, 2015) haben die Grundsatzposition formuliert; umfangreiches weiteres Material findet sich im Internet (attac.de/ | ||
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+ | === Einwände aus antikapitalistischer Sicht === | ||
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+ | Die Zeitschrift „Gegenstandpunkt“ nahm bereits 2014 zum Thema TTIP mit einer ausführlichen politökonomischen Würdigung des Vorgangs Stellung (vgl. Decker 2014); ihr Chefredakteur Peter Decker führte dazu auch Vortragsveranstaltungen durch, die im Netz dokumentiert sind (vgl. youtube.com/ | ||
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+ | Der Artikel befasst sich mit den Befürchtungen, | ||
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+ | Im September 2015 gehen nun die TTIP-Verhandlungen in eine neue Runde. Dazu gibt es neue Ansagen. „Die Europäische Kommission reagiert auf anhaltende Kritik an dem geplanten Freihandelsabkommen und hat sich für eine grundlegende Reform der umstrittenen Schiedsgerichte für Investoren ausgesprochen“, | ||
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+ | **Literatur** | ||
+ | * Thilo Bode, Die Freihandelslüge. Warum TTIP nur den Konzernen nützt – und uns allen schadet. Unter Mitarbeit von Stefan Scheytt. München 2015. | ||
+ | * Peter Decker (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Peter Decker (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Hubertus Heil, Mut zur Differenzierung – Risiken und Chancen von TTIP. In: Neue Gesellschaft/ | ||
+ | * Ulrike Herrmann, Freihandel – Projekt der Mächtigen. Rosa-Luxemburg-Stiftung, | ||
+ | * Harald Klimenta, Andreas Fisahn u.a., Die Freihandelsfalle. Transatlantische Industriepolitik ohne Bürgerbeteiligung – das TTIP. Hamburg 2014. | ||
+ | * Harald Klimenta, Maritta Strasser, Peter Fuchs u.a., 38 Argumente gegen TTIP, CETA, TiSA & Co. Für einen zukunftsfähigen Welthandel. Hamburg 2015. | ||
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+ | ===== Juli 2015 ===== | ||
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+ | ==== Noch ein Gespenst: Der Ego-Kapitalismus ==== | ||
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+ | „Alle denken an sich und keiner an mich.“ Die bekannte Klage hat jüngst noch der ach so früh verstorbene FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher – einer der Matadoren der gehobenen deutschen Diskurskultur – zu einer gnadenlosen Anklage gegen den Ego-Kapitalismus verarbeitet. Dazu aus aktuellem Anlass Anmerkungen von Johannes Schillo. | ||
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+ | Anfang 2013 erschien Frank Schirrmachers Streitschrift „Ego“, gerichtet gegen den modernen Informationskapitalismus und dessen totalitären Kontroll-Zugriff auf die Menschheit. Der im Sommer 2014 verstorbene Herausgeber der FAZ landete damit wieder – wie bei seinen früheren Veröffentlichungen zum Krieg der Generationen oder zur Macht des Internets – einen Bestsellererfolg. Sein Buch reiht sich ein in neuere Diagnosen, die vor dem Siegeszug eines Raubtier- oder Turbokapitalismus warnen. In diesem Kontext erfährt auch seit Jüngstem das Kuriosum einer katholischen Kapitalismuskritik wieder Auftrieb und wird, speziell seit den Statements des Bergoglio-Papstes, | ||
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+ | Solche religiösen Kritiker verweisen darauf, dass seit den biblischen Zeiten eine Verurteilung der „ungehinderten Geldvermehrung“ und des „Götzendienstes“, | ||
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+ | Solche harten Worten passten damals zum Zeitgeist. Von dort bis zur Sozialenzyklika „Caritas in veritate“ (2009) des Ratzinger-Papstes wurde dann wieder die konsumistische, | ||
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+ | Die FAZ nahm natürlich, da sie die (von Ratzinger noch gelieferte) Verklärung des Marktes vermisste, dezidiert Stellung gegen die Verurteilung des „anthropozentrischen Weltbilds“, | ||
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+ | === Die Entdeckung des Egos === | ||
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+ | Als Erstes muss man festhalten: Dass moderne Menschen ein Ego haben und es in den Mittelpunkt rücken, ist eine seltsame Entdeckung, mit der man aber im Bereich der Kultur- und Zivilisationskritik anscheinend immer noch Punkte machen kann. So stieß Jürgen Habermas in seinem philosophischen Dialog mit Joseph Ratzinger – noch vor der großen Finanzkrise – auf das Charakteristikum der modernen Globalisierung, | ||
+ | |||
+ | Das sind nun wirklich erstaunliche Mitteilungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts! Der älteste Hut des Liberalismus – das seit den Zeiten von Bernard Mandeville und Adam Smith problematisierte Verhältnis von private vices und public benefits, von privater Vorteilssuche und allgemeiner Wohlfahrt, das durch die invisible hand des Marktes zum harmonischen Ausgleich geführt werden soll – wird als brandneue Entdeckung präsentiert. In der Tat, wo der Markt ' | ||
+ | |||
+ | Genau diese praktisch gültig gemachte Welt des homo oeconomicus hat Marx vor 150 Jahren der Analyse unterzogen. Er hat übrigens damals schon den Typus Kapitalismuskritik, | ||
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+ | Die asketisch-antimaterialistische Klage über die „Umpolung“ auf eigennütziges Verhalten ist der ganze Witz von Schirrmachers Einblick in das „Spiel des Lebens“. Gleich eingangs heißt es: „Dieses Buch basiert auf einer einzigen These“ (Schirrmacher 2013, 15), dass wir nämlich „in unserer Lebenswelt“ einen „ökonomischen Imperialismus“ (ebd.), eine „Ökonomisierung von allem und jedem“ (ebd., 16), erleben. Inhalt dieses Prozesses ist die Durchsetzung des Menschenbildes vom homo oeconomicus, | ||
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+ | Die Erzählung geht im Kern so: Mathematisch, | ||
+ | Das Buch gibt keine Theorie des modernen Kapitalismus. Es verfährt auch eher bebildernd als erzählend. Schirrmacher knüpft dabei immer wieder an die Gruselliteratur des 19. (Frankenstein, | ||
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+ | Angesichts der Redundanz der Mensch-Maschinen-Vergleiche und Monster-Beispiele (von Dr. Frankenstein bis zu Horst Köhlers Rede von den Finanzmarkt-„Monstern“) und der Ignoranz gegenüber dem ökonomischen Geschehen, in das Schirrmachers Geistersubjekt implantiert worden sein soll, verwundert es nicht, dass das Buch analytisch nicht viel mehr anzubieten hat als ein Lob der guten alten Zeit der sozialen Marktwirtschaft, | ||
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+ | **Literatur** | ||
+ | * Caritas in veritate. Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 186, Bonn 2009. | ||
+ | * Bernhard Emunds/Hans Günter Hockerts (Hrsg.), Den Kapitalismus bändigen – Oswald von Nell-Breunings Impulse für die Sozialpolitik. Paderborn 2015. | ||
+ | * Evangelii gaudium, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 194, Bonn 2013. | ||
+ | * Jürgen Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates? | ||
+ | * KAB – Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) Deutschlands (Hrsg.), Texte zur katholischen Soziallehre – Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente. Köln 1975. | ||
+ | * LS – Laudato si. Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 202, Bonn 2015 (zit. als LS nach den Nummern der Abschnitte). | ||
+ | * Karl Marx/ | ||
+ | * Karl Marx, Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. In: Marx Engels Werke, Band 23, Berlin 1971 (zit. als MEW 23). | ||
+ | * Karl Marx, Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. In: Marx Engels Werke, Band 25, Berlin 1983 (zit. als MEW 25). | ||
+ | * Frank Schirrmacher, | ||
+ | * Franz Segbers/ | ||
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+ | ===== Juni 2015 ===== | ||
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+ | ==== Vom Pazifismus zum Militarismus ==== | ||
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+ | <WRAP center round box 90%> | ||
+ | Mit der Zuspitzung des Ukraine-Konflikts 2014 wurde auch das in der linken Szene anvisierte rot-rot-grüne Regierungsbündnis wieder fraglich. Ist der linke Pazifismus dessen „Sollbruchstelle“? | ||
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+ | Die FAZ (1.9.14) bilanzierte den „deutschen Demo-Stand“ am Antikriegstag 2014: „In Hamburg protestierten ein paar hundert gegen hohe Mieten, in Berlin ein paar tausend gegen digitale Überwachung. Keine Demo, nirgends, gegen Waffenlieferungen an die Kurden, gegen mögliche neue Nato-Stützpunkte in Osteuropa. Noch nicht einmal ein Aufschrei.“ Und das Blatt resümierte: | ||
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+ | Grund zum Aufschreien bestünde in der Tat genug. Was Deutschland heute vorhat und unternimmt bestimmt wesentlich die Weltlage mit, die ja wirklich so kriegerisch ist wie lange nicht mehr, und wird selbst von den Protagonisten hierzulande als riskanter Aufbruch, ja Tabubruch – siehe die Entscheidungen in Sachen Rüstungsexport vom Sommer 2014 – verstanden. Doch von einer Friedensbewegung, | ||
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+ | === 1. Die grüne Partei zeigte, wie es geht === | ||
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+ | Die Grünen gehören mittlerweile, | ||
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+ | Die Grünen entstanden 1980 als Partei eines Protestmilieus, | ||
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+ | Weniger bekannt ist die innere Logik dieses Prozesses, den die Grünen in atemberaubender Weise bewerkstelligten, | ||
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+ | Diese Sicht zeugt von bemerkenswerter Abgebrühtheit. Man geht davon aus, dass die Staatsnotwendigkeiten sowieso feststehen und neue Anwärter im Politikbetrieb bei allem programmatischen Getöse nur eins im Blick haben können: Chefsessel und Dienstwagen – und meint das nicht als Kritik wie etwa Konkret-Herausgeber Gremliza mit seinem Diktum: „Wenn sie dafür ihre Dienstwagen behalten dürfen, genehmigen die Grünen fünf neue Atomkraftwerke und erklären Rußland den Krieg.“ (Konkret 8/10) Politologen sind hier ganz realistisch. Walters Parteigeschichte verliert zum Übergang, den die Grünen 1998 ins bellizistische Lager vollzogen, kein Wort; sie resümiert nur im Allgemeinen den Wandlungsprozess. Da sind ehemalige Politiker der Grünen schon eher bemüht, den Werdegang der Partei zu erklären. So unterschiedliche Ex-Protagonisten wie Ludger Volmer oder Jutta Ditfurth kommen bei ihrer Ursachenforschung sogar zu einer gewissen Übereinstimmung: | ||
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+ | Doch es greift zu kurz, wenn man diesen Prozess einfach zu einer Personal- und Charakterfrage, | ||
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+ | === 2. Pazifismus und Militarismus === | ||
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+ | Beim Pazifismus hat man es nämlich nicht – das zeigt die grüne Geschichte paradigmatisch – mit einer theoretisch begründeten Absage an den Militarismus zu tun, also mit einer fundierten Kritik der nationalstaatlichen Logik „kriegerischer Konfliktlösung“, | ||
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+ | In seiner klassischen Form, wie man sie vom deutschen Recht der Kriegsdienstverweigerung nach 1945 kennt (siehe Artikel 4 des Grundgesetzes), | ||
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+ | Pazifisten bekennen sich zu einem Wert, den sie leben; sie bekunden eine moralische Einstellung, | ||
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+ | Das alles zeigt: „Nicht der Zurüstung auf Krieg galt diese Kritik, sondern der befürchteten Wirkung des nationalen Untergangs. Der Preis kam den Liebhabern einer friedlichen Bundesrepublik entschieden zu hoch vor... Die Feindschaftserklärung der Nation war also gebilligt, ihre Vollstreckung dagegen nicht.“ (Held 1996, 157f) Wie in der pazifistischen Grundeinstellung liegt dem friedensbewegten Protest die Parteinahme für die eigene Nation zu Grunde. Wenn die nationale Selbstbehauptung sich gegen fremde Gewalt ausspricht, gerät der pazifistisch gesinnte Mensch in Schwierigkeiten. Der eigene Staat gilt ihm, solange er sich friedlich verhält, nicht als kritikabel. Der Friedenszustand und damit die politisch-ökonomischen Interessengegensätze, | ||
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+ | === 3. Und die Linken? === | ||
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+ | In der Linkspartei hat längst eine Debatte darüber begonnen, ob man sich den Weg der Grünen zum Vorbild nehmen soll. Gemeinsamkeiten mit Grünen oder SPD werden ausgelotet (vgl. Brandt u. a. 2013, Thie 2013) und für tragfähig befunden; ein neuer Sammelband von Ex-MdB Paul Schäfer vermisst eigens das außenpolitische Feld, um Differenzen und Übereinstimmungen festzustellen, | ||
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+ | Neben dem Parteitagsbeschluss der SPD gibt es ein weiteres wichtiges Datum: Im April 2014 beschloss der Deutsche Bundestag, sich bei der Vernichtung der syrischen Chemiewaffen zu beteiligen. In der Linkspartei hatte es vor der Abstimmung eine rege Diskussion über den Bundeswehreinsatz gegeben. In Übereinstimmung mit dem Grundsatzprogramm lehnt die Linksfraktion ja regelmäßig und geschlossen Auslandseinsätze der Bundeswehr ab. Bei dieser Bundestagsentscheidung wurde jedoch die bisherige Linie verlassen. „Abgeordnete des Reformerflügels fordern mehr Pragmatismus. Sie halten den Einsatz für richtig, weil es sich um eine Abrüstungsmission handelt. Auch Fraktionschef Gregor Gysi steht dem Reformkurs offen gegenüber. Er wollte erreichen, dass sich die Fraktion geschlossen enthält, konnte sich damit aber nicht durchsetzen. Vertreter des linken Parteiflügels um die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht hatten klargemacht, | ||
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+ | In der SPD wurde dies als erster Schritt zu einem Lernprozess der Partei interpretiert. MdB Rolf Mützenich, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD, schrieb im linken Sammelband zur Außenpolitik: | ||
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+ | Was das Programmatische aber wert ist macht der Diskussionsband von Schäfer, in dem linke, grüne und sozialdemokratische Experten über Deutschlands Rolle in der Welt schreiben, schlagend deutlich. Das Resümee des Herausgebers lautet: Das Programm der Linkspartei muss einem rot-rot-grünen Regierungsbündnis – auch auf dem Feld der Außenpolitik – nicht entgegenstehen. Also: Rot-Rot-Grün kann regieren. Die Linkspartei wird – wenn man sie denn lässt – außen- und sicherheitspolitische Aktionen, die sich aus Deutschlands gewachsener und von der Linkspartei prinzipiell anerkannter Verantwortung in der Welt (so Schäfer in seiner Einleitung, vgl. ebd., 7ff) ergeben, absegnen oder mittragen. Ob sie dafür ihr Programm ändern oder es nur neu interpretieren muss, kann sie frei entscheiden. Und diejenigen, die den neuen Kurs einschlagen wollen, haben volles Verständnis dafür, dass es auch Pazifisten in der Partei gibt, die sich somit weiter auf das „Alleinstellungsmerkmal Antikriegspartei“ berufen kann. | ||
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+ | **Literatur** | ||
+ | * Peter Brandt/ | ||
+ | * Jutta Ditfurth, Das waren die Grünen – Abschied von einer Hoffnung. München 2000. | ||
+ | * Uwe Franz, Wo bleibt die Friedenspädagogik oder wem gehört die Weltbevölkerung? | ||
+ | * Ralf Fücks, Raus aus der Komfortzone – Deutschland auf dem Weg zu mehr internationaler Verantwortung? | ||
+ | * Karl Held (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Karl Held (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Ulrich Irion, Die Friedenskriegspartei – Wie die Grünen auf dem langen Marsch zur Eroberung des Ostens alle Eskalationsschritte mitgehen und gleichzeitig vor ihnen warnen. In: Junge Welt, 25. 7. 2014. | ||
+ | * Paul Schäfer (Hrsg.), In einer aus den Fugen geratenden Welt – Linke Außenpolitik: | ||
+ | * Christian Schmidt, Wir sind die Wahnsinnigen – Joschka Fischer und seine Frankfurter Gang. Akt. TB-Ausgabe. München 1999. | ||
+ | * Hans Thie, Ökologische Gleichheit – Warum grün zu sein heute links sein bedeutet. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 10, 2013. | ||
+ | * Ludger Volmer, Die Grünen. Von der Protestbewegung zur etablierten Partei – eine Bilanz. München 2009. | ||
+ | * Franz Walter, Gelb oder Grün? Kleine Parteiengeschichte der besserverdienenden Mitte in Deutschland. Bielefeld 2010. | ||
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+ | ==== Linke Außenpolitik ==== | ||
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+ | <WRAP center round box 90%> | ||
+ | In der Linkspartei wird über linke Außenpolitik diskutiert. Der Bielefelder Parteitag demonstriert Realismus, da man politikfähig werden will. Ein Sammelband des Ex-MdB Paul Schäfer („In einer aus den Fugen geratenden Welt“, Hamburg 2014) reflektiert programmatische Grundlagen. Dazu ein Kommentar von Sabrina Zimmermann. | ||
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+ | Seit dem Jahresanfang 2014 – mit seiner Verschärfung des Ukraine-Konflikts und den allgemeinen Ansagen von Gauck, Steinmeier oder von der Leyen zur gewachsenen deutschen Verantwortung in der Welt – ist die militärische Dimension der deutschen Außenpolitik wieder zu einem Thema geworden, das die politische Öffentlichkeit intensiver beschäftigt (vgl. Decker 2014). Auch in der Linken ist einiges in Bewegung geraten, gehört die Angelegenheit doch zu den entscheidenden Hürden für eine rot-rot-grüne Option im Bund. Paul Schäfer, ehemaliger verteidigungspolitischer Sprecher der Linksfraktion, | ||
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+ | Diese Umorientierung ist in der Partei seit einiger Zeit in Arbeit. Der Bielefelder Parteitag vom Juni 2015 hat es wieder einmal dokumentiert (vgl. Wehr 2015). So bemühte man sich etwa beim Leitantrag zum Thema Ukraine-Konflikt darum, eine einseitige Verurteilung des Westens zu vermeiden, um keine allzu hohen Hürden für künftige Regierungsverhandlungen mit SPD und Grünen zu errichten. Der pazifistisch gestimmte Antrag „Frieden statt NATO“ wurde dagegen nicht behandelt. Der mit viel Lob bedachte scheidende Fraktionsvorsitzende Gregor Gysi erklärte kurz vor dem Parteitag in einem Interview (taz, 30. 5. 2015), dass „sich unsere Partei strikt gegen Kriegseinsätze ausspricht. Wir könnten aber darüber reden, um welche es vor allem geht.“ Der Thüringer Regierungschef Bodo Ramelow empfahl seiner Partei, „ihr Verhältnis zur Bundeswehr zu klären“ (RP-online, 4. 6. 2015). In dem Interview äußerte er u. a.: „Pazifismus ist nichts für Deutschland... Wir haben unter uns (in der LINKEN, Anm. d. A.) unser Verständnis von einer neuen Weltfriedensordnung noch nicht deutlich genug gemacht. Das interpretieren zu viele noch zu unterschiedlich. Wir sollten unser Verhältnis zur Bundeswehr klären. Unaufgeregt, | ||
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+ | Ramelow äußerte gleichzeitig Hochachtung vor jedem Pazifisten in der Partei. Und eine derartige friedliche Koexistenz hat ja ihre Vorteile: So kann die LINKE mit ihren beiden Flügeln, deren Auseinandersetzung das ernsthafte Bemühen um eine wirkliche Friedenspolitik dokumentiert, | ||
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+ | === Eine Problemansage === | ||
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+ | Dass die Welt zur Zeit, wie der Linkspolitiker feststellt, „aus den Fugen gerät“, ist eine seltsame Ansage. Sie suggeriert, die Welt sei zuvor, etwa in den Jahrzehnten der Blockkonfrontation mit globalem Rüstungswettlauf, | ||
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+ | Zudem beginnt der Ex-MdB sein Buch gar nicht mit einem Szenario der aus dem Ruder laufenden Weltprobleme, | ||
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+ | Bedenken Schäfers richten sich darauf, dass es bei dem außenpolitischen Aufbruch „um neudeutsches Großmachtgehabe“ (ebd., 7) gehen könnte. Klar sei nämlich bei der Anmeldung der neuen deutschen Ansprüche, „dass es sich um Machtverhältnisse und Machtverschiebungen in Europa handelt. Die drängende Frage lautet: Soll jetzt ökonomische Stärke in mehr politische Stärke umgemünzt werden?“ (Ebd., 9) Das Vorhaben an sich erscheint Schäfer aber nicht bedenklich. Er teilt die Gauck' | ||
+ | |||
+ | Das zweite Bemerkenswerte ist, dass Schäfer die Bedenken bewusst klein hält. Er zitiert zwar die Sorgen bezüglich „einer hegemonialen Stellung Deutschlands“ (ebd., 10). „Doch“, fährt er fort, „dass nun die alten deutschen Großmachtambitionen wiederbelebt werden sollen, ist bis dato nicht zu belegen.“ Zu belegen ist in seinen Augen vielmehr eine verbreitete Friedfertigkeit der Bevölkerung laut Infratest-Umfrageergebnissen vom April/Mai 2014. „Es ist offenbar hilfreich, das Volk zu befragen.“ (Ebd., 11) Daraus ergebe sich nämlich „der konstruktive Hinweis: Deutschland kann und sollte mehr für eine friedliche, demokratische und nachhaltige Entwicklung in der Welt tun!“ (Ebd.) Ein Meinungsbild vom Frühjahr 2014, in dem sich anlässlich der Ukraine-Krise die Verunsicherung über den deutschen Erfolgsweg, die auch die politische Klasse beschäftigt, | ||
+ | |||
+ | Die Stimmungslage der Bevölkerung steht bei Schäfer aber für etwas anderes. Dass die Welt aus den Fugen gerät, ist gewissermaßen ein Bild für das eigentliche Thema, dass nämlich in Deutschland die schwarz-rote Koalition aus den Fugen geraten könnte. Eine Mehrheit beim Wahlvolk wäre dafür in Sicht. Aber wollen es auch die Sozialdemokraten und die Grünen? Im Prinzip ja, meint Schäfer und ist damit bei dem, was ihn wirklich interessiert, | ||
+ | |||
+ | So geht der Einstieg Schäfers in die „Eröffnung einer überfälligen Debatte“, und das erlaubt ein Zwischenfazit. Was heißt hier „drängende Weltprobleme“? | ||
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+ | === Eine Grundlegung === | ||
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+ | Das Konzept einer neuen Außenpolitik wird von Schäfer im Folgenden erläutert, wobei, kurz gesagt, die Sprachregelungen, | ||
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+ | Dass der ehemalige Kriegsverlierer bei seiner Integration ins westliche Bündnissystem und bei seinem Aufstieg als europäische Großmacht zu einer Art schuldbewusstem Nationalismus gezwungen war, dass ihm seine Militärmacht als Teil eines Bündnisses zugestanden wurde und nicht von vornherein als Ausdruck „nationaler Selbstbehauptung“ galt (wie es heute deutsche " | ||
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+ | Absurderweise beginnt Schäfer seine Skizze der „normativen Grundlagen“ mit einem Rekurs auf das Manifest der Kommunistischen Partei und dessen Appell „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“. (Marx schrieb natürlich „euch“ – man darf auf die nächste Revision gespannt sein: vielleicht „Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen“? | ||
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+ | Nach der pflichtgemäßen Verneigung vor der internationalistischen Tradition der sozialistischen Parteien kommt Schäfer dann auch gleich auf seinen eigentlichen Bezugspunkt zu sprechen: auf Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, | ||
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+ | Schäfer arbeitet sich sogar – wenn auch auf gewundenem Wege – bis zum Verständnis für die neue, von den USA lancierte Auslegung der UN-Charta als menschenrechtliche Schutzverantwortung („Responsibility to protect“ – R2P), vulgo Menschenrechtsimperialismus, | ||
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+ | Man mag sich nun denken, das sei eine klare Aussage – Menschenrechte brauchen notfalls Gewalt, sie stehen über dem Gewaltverbot –, doch es bleibt nicht dabei: „Umgekehrt gilt auch: Menschenrechte können nicht durch noch größere Menschenrechtsverletzungen durchgesetzt werden.“ (Ebd.) Eine überraschende Einschränkung, | ||
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+ | Als Referenz für diesen linken Gestaltungswillen wird dann – etwas unvermittelt – das Zeugnis der christlichen Kirchen in Deutschland für einen gerechten Frieden angeführt, also der Institutionen, | ||
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+ | === Eine Sammlung === | ||
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+ | Was in dem Band folgt ist eine Sammlung politischer und politikwissenschaftlicher Statements zur internationalen Politik und zum Globalisierungsdiskurs. Michael Brie (Die Linke) versucht sich an einer Epochenbestimmung der Gegenwart – eine eher feuilletonistische Randnotiz. Peter Wahl (WEED) rekapituliert Erfahrungen mit dem Konzept der Global Governance. Es ist zwar, so der Autor, gescheitert, | ||
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+ | Der Beitrag der Politikwissenschaftler Lothar Brock und Silke Weinlich beschwört ebenfalls die UN als Rahmen für „eine Weltordnung mit verlässlichen Regeln“ (ebd., 85): „Dass in den internationalen Beziehungen nicht mehr die Macht des Stärkeren gelten, sondern das Recht regieren sollte, kann als Kernanliegen einer aufgeklärten internationalen Politik gelten.“ Dem folgt jedoch die Mitteilung auf dem Fuße, dass die Vereinten Nationen den Rahmen dafür gerade nicht bieten. Realiter „bleibt die Weltorganisation in ihrer jetzigen Form hinter den Erfordernissen zurück, die sie in Bezug auf kollektives Handeln, als multilateral legitimierter Akteur und als Garant der regelbasierten Weltordnung erfüllen müsste.“ (Ebd., 95) Sie leide an überkommenen Machtverhältnissen, | ||
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+ | Denselben Gedanken, den andere Autoren auf die UN beziehen, exerzieren der Staatsrechtler Andreas Fisahn am Beispiel der EU oder der Linkspolitiker Stefan Liebich an der KSZE/OSZE durch. In Wirklichkeit, | ||
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+ | Auf den letzten 100 Seiten der Publikation, | ||
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+ | Der Sammelband zeigt unübersehbar, | ||
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+ | Den Part, hartnäckig auf der linken Programmatik zu bestehen, übernehmen in dem Sammelband der Linkspolitiker Jan van Aken und seine Mitarbeiterin Maria Oshana. Aber sie tun dies, nachdem sie erst einmal Zustimmung signalisiert haben: „Auch wir finden, dass Deutschland Verantwortung übernehmen muss, ganz besonders für das eigene globale Handeln.“ (Ebd., 217) „Deutschland sollte Verantwortung übernehmen – für eine gerechte Weltordnung, | ||
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+ | === Ein Fazit === | ||
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+ | Aus diesem Angebot des außenpolitischen Sprechers der Linkspartei zieht Schäfer dann abschließend das Fazit: Ja, es gibt Differenzen, | ||
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+ | Der erste Punkt betrifft R2P, also Kriegsführung im Namen der internationalen Schutzverantwortung. Die linken Bedenken werden darauf reduziert, dass sich der Einsatz von Gewalt zum Schutz der Bevölkerung vor Menschenrechtsverletzungen – d. h. der Angriff auf einen anderen Staat im Namen einer humanitären Zielsetzung – missbräuchlich auf diese Legitimation berufen könnte. Dieses Bedenken, so Schäfer, sei auch Thema der unabgeschlossenen Debatte in der UNO und werde speziell von den Grünen geteilt. (In der Tat kennt auch die NATO dieses Bedenken: Im Falle von Putins Einsatz zum Schutz der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine gab es die heftigsten Entlarvungen dieser Legitimation.) Die Linken artikulieren demnach einen konstruktiven Gedanken, der die noch offene Diskussion um R2P voranbringen könnte. R2P ist also im Grunde kein Dissens-Punkt mehr, sondern ein Thema, zu dem auch die Linke etwas beizusteuern hat. | ||
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+ | Der zweite Punkt ist das Verhältnis zur NATO. Ja, die „Linke plädiert dafür, dass Deutschland aus den militärischen Strukturen der NATO austritt. Dies ist freilich eher als ' | ||
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+ | Drittens bleiben noch die grundsätzlich abgelehnten deutschen Militäreinsätze, | ||
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+ | Also: Rot-Rot-Grün kann regieren. Im Programmatischen, | ||
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+ | Schäfers Bekenntnis dazu, „dass sich Linke immer als Bewegung gegen Krieg und Militarismus verstehen“ (ebd., 22), muss dabei nicht gelogen sein. Gerade der anvisierte Koalitionspartner Bündnis 90/Grüne hat es 1999 als „Friedenskriegspartei“ (vgl. Irion 2014) mustergültig vorgeführt, | ||
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+ | **Literatur** | ||
+ | * Peter Brandt/ | ||
+ | * Peter Decker (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Peter Decker (und Redaktionskollektiv), | ||
+ | * Ulrich Irion, Die Friedenskriegspartei – Wie die Grünen auf dem langen Marsch zur Eroberung des Ostens alle Eskalationsschritte mitgehen und gleichzeitig vor ihnen warnen. In: Junge Welt, 25. 7. 2014. | ||
+ | * Paul Schäfer (Hrsg.), In einer aus den Fugen geratenden Welt – Linke Außenpolitik: | ||
+ | * Andreas Wehr, Ein bisschen Frieden. In: Junge Welt, 4. 6. 2015. | ||
+ | * Andreas Wehr, „Trübe Brühe“. In: Junge Welt, 8. 6. 2015. | ||
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